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Dunkler bunter Regen (1)

Große, schlauchförmige und -vor allem- merkwürdig bunte Tropfen.
Sie mochte Regen. Aber dies war kein normaler Regen, stellte sie fest.
Die Tropfen strömten um sie und durch sie hindurch. Ein Hauch Verwunderung erfasste sie. Kein Schmerz, nur das warme, prickelnde Gefühl des Regens unter der Haut, ansonsten nichts, nicht mal ein echtes Ich. Sie ließ den Gedanken fallen, er wurde ihr zu schwer, viel zu schwer. Eine Erinnerung durchhuschte den Schauer wie ein flüchtiger Bekannter. Ein junges, blondes Kind, ein Mädchen, das eine schwere Milchkanne wie einen Schatz vor sich her trug, mit offenen, weiten Augen. Große Tore, durch die die Welt ungehindert Einlass fand.
Stunden vergingen, während sie im Regen stand und an dieses Kind dachte.
Dann fiel ihr auf, dass der Regen zwar bunt, aber trotzdem unsagbar dunkel war, vor dem Auge floh. Sie versuchte ernsthaft, einen klaren Gedanken zu fassen.
Zum einen konnte ihrer Meinung nach Regen weder schwarz noch bunt sein. Schon gar nicht beides gleichzeitig. Zumindest glaubte sie das.
Zum anderen schien es ihr nicht ganz richtig, dass der Regen durch sie hindurchfloss.
Sie kniff die Augen zusammen, versuchte sich auf den Regen zu konzentrieren. Sah Schemen dahinter.
Die Konzentration wich wieder. Ihr Kopf schien ein Termitenhügel zu sein, dezentral, zerstreut, unfähig, sich in eine Richtung zu bündeln. Sie versuchte sich zu erinnern, warum das so war.
Dieses Mal hatte sie zuviel genommen.
Der Gedanke schnitt durch die wabernden Geistertermiten, verschwand wieder.
Eine Stimme hinter dem Regen, sie sang. Sang etwas, dessen Sinn sich ihr nicht erschloss, auch wenn sie sicher war, dass sie die Stimme schon mal gehört hatte.
There’s no beginning there is no end
There is only change
Progression backwards is this where we are heading
Take back your soul forget your emptiness

Eine zweite Stimme, viel näher. Ihre eigene.
Etwas berührte sie am Arm. Wie eine gespannte Feder schnappte ihr Geist zurück in die Realität. In die andere Realität, verbesserte sie sich. Eine warme, vertraute Hand, die sich reflexartig wieder um die Welt legte, aus der sie stammte.
Sie blickte in helle Augen, in denen sich eine weit entfernte Heimtücke widerspiegelte, sie lächelten scheinbar besorgt.
Der Barkeeper, sie erinnerte sich. Und fand die eigenen Arme auf der Bar wieder.
Diesen Ausdruck, sie kannte ihn genau. Diese Art von Boshaftigkeit, die man erst viel zu spät sah.
Bitter lächelte sie zurück. Solchen Augen hatte sie oft genug vertraut. Mindestens einmal zuviel.
Verkrampft hielten ihre Hände ein Glas. Die Knöchel traten weiß hervor, als wollten sie möglichst viel Abstand zu dem Getränk gewinnen.
Dieser Gedanke amüsierte sie. Bestimmt hatte er etwas in das Glas gemischt. Schließlich nahm sie sehr selten zuviel. Kontrolle. Sie hatte es unter Kontrolle.
Ihr war klar, dass das nicht stimmte. Aber sie fühlte sich noch so fern von sich selbst, dass ihr das egal war.
Mit einem Nicken drehte sie sich von dem Mann weg. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er sich enttäuscht ebenfalls abwand.
Sie lehnte die Arme vorsichtig an die Theke, achtete darauf, dass die langen Ärmel keine Flecken bekamen oder hoch rutschten. Außerhalb der Wohnung trug sie immer lange Klamotten, auch im Sommer, immer.
Diesen Platz mochte sie. Von hier aus konnte sie die Tanzfläche überblicken. Ja, das war der Grund, dachte sie und drehte das Glas langsam in einer Hand. Die Eiswürfel darin machten ein Geräusch, das sie nur fühlen konnte.
Nicht, dass sie hier oft jemanden sah, den sie nicht kannte. Fremde kamen hier nur selten her. Und wenn, dann hatten sie sich meist aufgrund ihres Zustands in der Tür geirrt. Aber sie sah gern den anderen zu, wie sie sich amüsierten. Oder das taten, was sie darunter verstanden, dachte sie grinsend.
Sie hob das Glas, roch daran. Ein schwerer Geruch von Kräutern stieg ihr in die Nase, wurde aber nach einigen Sekunden von einem leichteren, industriell-chemisch neutralen Geruch verdrängt. Das Grinsen erstarb.
Nicht unbedingt die Dinge, die man normalerweise in ein Glas Cola füllte.
Sie überdachte die Option, sich umzudrehen und irgendetwas zu sagen. Irgendetwas sehr Unfreundliches. Schüttelte dann unmerklich den Kopf und trank aus. Er war hartnäckig. Jetzt, da ihre Gedankengänge – ihrem Empfinden nach – weniger einem arbeitsamen Termitenvolk als mehr oder weniger geraden Linien entsprachen, fiel es ihr wieder ein. In den letzten Wochen hatte er solche Stoffe mehrmals in ihr Glas geschüttet.
Sie betrachtete die kleinen, luminiszierenden Tropfen am Boden des Glases. Winzige, längliche Kohlenwasserstoffketten, an denen schwere Sauerstoffatome klebten, auch einige andere, weniger freundliche Toxine. Sie schwangen im Takt der Musik. Ein Freund, nein, ein Bekannter hatte ihr mal gesagt, dass ähnliche Ketten auch im allerersten Ozean getanzt hätten, Bausteine gewesen seien für das erste Leben. Schöpfung und Zerstörung, so nah beieinander. Der Mensch erkämpfe sich den Weg zurück in die Ursuppe, hatte er gelacht. Sie wusste, dass dieser Vergleich nicht ganz stimmte, aber sie hatte es sich trotzdem gemerkt.
Heute war er nicht da, der Bekannte. Oder Freund. Ihr Blick schweifte wieder zur Tanzfläche. Einige Leute verließen sie gerade, wohl genervt von der Musik. Ein paar der Menschen sahen sie an, nickten ihr zu oder lächelten nur wissend.
Das Geräusch einer nicht endenden Brandungswelle kündigte die Rückkehr des Regens an. Regen.
Sie erinnerte sich an den Jungen aus dem Büro. Die Polizei, sie hätte die Polizei rufen sollen. Was hätte sie sagen sollen? Dass sie so eine Ahnung hätte?
Sie unterdrückte den aufkommenden Rausch. Stellte sich vor, wie sie über der schwarzen Welle stand, auf einem dunklen Brett darüber hinwegritt.
Vielleicht war ihm gar nichts geschehen, vielleicht hatte sie sich nur etwas eingebildet. Flashbacks. Sie hatte schon früher welche gehabt.
Nein. Irgendetwas in ihr wusste, dass das nicht stimmte. Er war tot, sie wusste es. Sie hatte es zwischen den Buchstaben gelesen. Irgendwo in dem Blau zwischen den Buchstaben. Deshalb war sie ja hergekommen. Um sich zu amüsieren, um sich abzulenken. Um Luft zu holen in der Gegenwelt, die sie jetzt unterdrückte.
Ihre Finger glitten hinter ihrem Rücken über eine Unebenheit im billigen Holz der Thekenwand. Eine Schnitzerei. Sie dachte daran, wer sie gemacht hatte, sie war ja dabei gewesen. Den Text hatte sie unzählige Male gelesen, während sie hier stand, manchmal mit den Augen, jetzt mit den Fingern. Death is no option hatte er eingeritzt, mit zitternden, schwitzenden Händen. Als ob er sich dessen selber versichern müsste.
Ihre Gedanken fanden wie von selbst zurück zu dem Jungen. Sein Credo war das augenscheinlich nicht gewesen, stellte sie ohne Ironie fest. Diese Gefühlskälte stammte nicht vom Alkohol, dass wusste sie. Sie stammte von dem anderen Zeug, das in dem Glas gewesen war.
Wahrscheinlich lag er immer noch in seinem Appartement. Oder wo auch immer er wohnte.
Einen Moment stellte sie sich vor, wie lange sie wohl in ihrer Wohnung liegen würde, bleich, Tablettenschachteln im Kreis um sich. Wie Opfergaben vor einem Altar.
Ihre Hände fanden wieder die markanten Schnitte im Holz hinter ihr. Eigentlich ein schöner Gedanke, fand sie, dann stieß sie sich von der Wand weg, ging den vertrauten Weg zur Toilette und übergab sich.

„Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden, als Freude zu gewinnen.“ – Sigmund Freud