Ich grüße dich, mein guter alter Freund.
Dies wird der letzte Brief sein, der dich erreicht, einen weiteren kann es nicht geben, wie du weißt.
Ich hocke hier im schummrigen Licht der Dämmerung auf dem Schemel und starre in die Düsternis, die sich draußen zwischen den Gitterstäben erstreckt.
Es ist merkwürdig, aber ich bin jetzt ganz ruhig geworden. Du weißt, wir sprachen das letzte Mal noch über die heutige Nacht, du versuchtest mir Mut zu machen, doch glaubte ich insgeheim, die Angst würde mich trotz aller Bemühungen doch noch packen.
Nun ist es eine Nacht geworden, dunkler als die vier zuvor, doch ganz ohne Angst und Unruhe. Im Gegenteil, ich fühle eine seltsame Zufriedenheit, eine unsterbliche Ruhe in mir, als ob nichts auf der Welt mir schaden könnte.
Vor einigen Stunden war der Pfarrer hier, du errätst sicher den Grund seines Besuches, aber um dir die Frage gleich zu beantworten, nein, ich habe mich nicht bekannt, nicht gebeichtet und auch nicht mit ihm gebetet. Er hat mich noch nach dem Grund meiner Ablehung gefragt, kannst du dir das vorstellen? Ich habe ihn nur angesehen und gefragt, ob er wisse, was ich getan habe. Er nickte wortlos und verschwand, Pfaffen!
Lange könnte ich mich über sie auslassen, doch du weißt, mir bleibt kaum noch Zeit, kaum noch Zeit auch nur Atem zu holen, schon kann ich fern die Turmuhr hören, die von meinem Tod künden wird.
Ich freue mich nicht recht auf diesen letzten Schlag, aber natürlich nicht. Noch bin ich dem Wahn nicht verfallen, das bin ich nicht, du weißt, das bin ich nicht, und so freue ich mich auch nicht auf das Ende.
Wohl aber, und dies mag dich in der Tat verwundern, fühle ich mich nicht mehr eingesperrt oder bedrängt, ganz im Gegenteil.
Schon lange muteten mir dein Mitleid und das der deinen für meine Lage seltsam an, doch konnte ich mir dieses Gefühl nicht erklären.
Gestern jedoch, wie ich hier früh morgens auf meiner Pritsche saß und zwischen den Gitterstäben hindurchstarrte, da dachte ich daran, wie wohl das trübe Licht der Deckenlampe von draußen wirken würde, wie es wohl auf die freien Menschen wirken würde. Und bei dem Gedanken, mich könnten alle so in meiner Lage sehen, da fühlte ich meinen Stolz verletzt und in meiner Wut zerschlug ich die Lampe mit den bloßen Händen.
Nun, das ist einmal wieder ganz typisch für mich wirst du sagen, ich weiß und lache mit dir.
Danach jedoch geschah etwas Merkwürdiges;
Als das Licht in meiner Zelle verlosch, sah ich plötzlich das aschfahle Licht der Dämmerung, dass in den dunklen Raum fiel, und für einen vertauschte ich im Geiste meine Zelle mit der Welt dort draußen. Es war nur ein Gedankenspiel, zunächst, das Spiel eines müden Geistes, fast ein Zufall, wenn nicht das schwache Sonnenlicht mich an das Licht der Lampe erinnert hätte. Doch ich blieb bei dem Gedanken, sponn ihn weiter, und er hat mich zur Ruhe kommen lassen.
Denn bedenke;
Bin ich wirklich derjenige, der euer Mitleid verdient?
Ich weiß, wann es zu Ende gehen wird. Und kann leben, planen, sein, denn meine Zeit ist wohlbemessen und folgt dem Klang eben dieser Turmuhr, die vor meiner Zelle weit aufragt. Ihr dagegen seid ewige Todeskandidaten, über euch kreist von der Geburt an das Beil des Scharfrichters und schwebt mal Minuten, mal Jahrzehnte über euch, bevor es schließlich seine unvermeidliche Bahn zieht.
Ich werde in zwei Stunden sterben. Ihr dagegen sterbt euer ganzes Leben lang, euer eigener Tod ist die ständige Unwägbarkeit, die immanente Unsicherheit in eurem Leben; ihr könnt nicht leben, denn der Tod ist eine ständige Dimension, ein ständiger Begleiter eures Lebens. Die Folgerung mag sogar dir, obwohl du mich wohl kennst, wirr erscheinen, aber nicht ich bin es, der in der letzten aller Zellen sitzt. Mein Tod wurde nur auf einen Tag, auf eine Stunde festgelegt, euer Tod dagegen wurde auf jeden Tag und jede Stunde eures Daseins festgelegt. Ihr habt mich nicht zum Tode verurteilt; ihr habt mich zum Leben verurteilt und mich nicht ein- sondern vielmehr ausgesperrt aus eurer großen Zelle des Todes.
Und vielmehr noch; euer Tod wird sinnlos sein, das Finale eines sinnentleeren Lebens, ein bloßer Mechanismus, eine natürliche Notwendigkeit sein. Wenn ich gehe, so bringt das den toten Männern Gerechtigkeit und ihren Nächsten Genugtuung. Mein Tod wird Sinn machen, er ist ein Handel mit der Welt: Mein Leben für die Sache.
Verlach mich nicht, aber ich werde so sterben wie ein Held. Mein Leben wird nicht gegeben, aber genommen werden für die Sache, für die Gerechtigkeit, und so bin ich auch ein wenig ein Held, etwa so wie Prometheus auch ein klein wenig ein Räuber war.
Du siehst, meine Lage ist eigentlich nicht euer Mitleid wert; vielmehr ist es Neid, der euch antreiben sollte.
So muss ich dann auch schließen, habe alles Wichtige geschrieben, und auch wenn ich noch Stunden und Tage weiterschreiben möchte, höre ich doch schon die Hacken der Wärter über den Flur knallen.
Und sei versichert; ihr alle habt mein tief empfundenes Mitgefühl, denn euer Morgengrauen wird ein Leben lang dauern.
Gräme dich nicht, mein Freund. – W.
„Bei unserer Geburt treten wir auf den Kampfplatz und verlassen ihn bei unserem Tode.“ – Jean-Jacques Rousseau