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Schwarz auf Weiß

Er saß wieder, saß wieder an seinem Tisch, wo auch sonst, seine Papiere, wie er sie nannte lagen verstreut darauf herum, ungeordnet für die Augen anderer, doch nicht für ihn, nein, nicht für ihn, jede Seite hatte ihren Platz, ihre wohldefinierte Position, das vereinfachte seine Arbeit.
Auch würde das ungeübte Augen wohl kaum erkennen, woran er da arbeitete, jeden Tag, bis spät in die Nacht hinein, denn viele der Symbole auf diesen seinen Papieren wirkten befremdlich, nur wenige andere Menschen konnten sie deuten.
Es waren Zahlen, endlose Kolonnen von Zahlen, auch andere Symbole dazwischen, manche wie Runen, andere fast wie zufällige Tintenkleckse eines Kindes, auch wenn ihre offensichtliche präzise Anordnung dies unwahrscheinlich erscheinen ließ.
Seine Arbeit war schwer, und sie wurde in keinem Moment leichter, das betonte er gern vor Freunden, aber eigentlich, so musste er bei solchen Gelegenheiten ebenso gestehen, bereitete sie ihm auch eine große Freude, was auch dazu geführt hatte, dass er selten zu Hause mit seinen Kindern aß.
Manchmal vergass er fast, dass er nichts Konkretes über seine Arbeit verlauten lassen durfte, er schmunzelte immer noch manchmal über diesen Satz, es war der Wortlaut eines Uniformierten gewesen, er konnte sich noch genau an die Begebenheit erinnern, sein Gedächtnis war trainiert, „Ich weise sie darauf hin, dass sie nicht befugt sind, konkrete Informationen über ihre Arbeit bei uns verlauten zu lassen.“, das hatte er gesagt, ein älterer Herr mit funkelnden Augen, und dann noch etwas von Kriegsfall und Hochverrat hinzugesetzt, er erinnerte sich nicht mehr genau.
Er selbst verabscheute Krieg, verabscheute Gewalt an sich, dass Menschen anderen Menschen weh taten hatte er nie verstehen können. Auch deshalb war er froh, nicht an die Front geschickt worden zu sein, wo immer die sich auch gerade befand, er wusste es nicht genau, hielt sich von diesem widerlichen Geschehen, wie er sagte, „so fern als möglich“.
Es war sein Glück gewesen, dass er diese Anstellung bekommen hatte, er betonte das stets und fühlte es immer, wenn er mit seinen Kindern am Tisch saß, es war ein Glücksfall gewesen, eine glückliche Fügung. Zwar hatten sie schon zweimal umziehen müssen – die Front war ihnen wohl zu nahe gerückt – aber das belastete nur seine Frau, nicht ihn, nicht, so lange seine Familie mit ihm kam – und natürlich seine Papiere.
Seine Papiere – Wenn er mit ihnen am Tisch saß, so schien ihm der Krieg oft ebenso fern wie seine Kinder. Selbstverständlich wusste er, dass auch sein Werk etwas mit dem Krieg zu tun hatte, aber, so wusste er, nur indirekt, nur indirekt hatte er etwas damit zu schaffen, nur indirekt, er wurde nie müde dies zu erklären.
Und wenn er erst einmal hier saß und die unzähligen Zahlen und Symbole besah, so vergingen seine Zweifel und auch die Gedanken an den Krieg, der draußen irgendwo tobte, ein gräßliches Geschehen, es blieben nur noch schwarze, klare Piktogramme auf makellosem Papier, keine Abwägungen, keine Konflikte, keine unsinnigen Abstufungen, nur noch die Zeichen auf seinen Papieren.
Kaliber, Treibladungsdichte, Detonationsradius, Geschoßbahnkurve, letale Effizienz, kritische Masse, Wirkungsradius – all diese Dinge verloren hier ihre schroffe, debile Ambivalenz, ihre grausam lärmenden Konnotationen, ihr schmutzig-graues Wesen, und was von ihnen blieb füllte seine Papiere, füllte sie Seite für Seite, Buch um Buch, frei von jeder Mehrdeutigkeit.
Er stellte sich seine Gleichungen oft als Skelette vor, Skelette der realen Dinge, und wie auch die Skelette von uralten Sauriern keine Bedrohung darstellten, so waren auch seine Bücher für jedermann ungefährlich.
Und wenn er nach mancher langen Nacht doch einmal zweifelnd auf die Zahlen hinunter blickte, nur für einen Moment, so nahmen sie ihm seine Unruhe schnell wieder, er hatte mit dem Krieg, mit dem Töten, nur indirekt, kaum zu tun, es blieb das Schwarz und Weiß auf seinen Papieren, scharf begrenzt und nie verschwommen, nur Symbole und Zahlen und die ihnen inhärenten abstrakten Strukturen, ungefährlich, unschuldig.
Eigentlich hatte er nie etwas anderes machen wollen, dachte er oft, auch das war sicher ein Glücksfall, ein ganz besonderer sogar. Er liebte seine Papiere, liebte die Art, wie die Piktomgramme miteinander interagierten, sich hinter seinen Augen verbanden zu kühl schwebenden Abstraktionen, manchmal geometrische, fast visuelle Strukturen, manchmal unaussprechliche, nicht zu beschreibende Muster und Verknüpfungen.
Mit Erstaunen nahm er oft wahr, was andere Menschen lasen; Romane, Zeitungen, Biographien, Geschichtsbücher und viel mehr, das er nicht so recht kannte, er hatte das nie verstanden, auch wenn er es oft genug versucht hatte.
Vielleicht waren diese Schriften nicht abstrakt genug, er wusste es nicht, aber diese anderen Papiere bereiteten ihm ein großes Unbehagen, und so las er sie nur selten und widerwillig, auch wenn seine Frau es sicher gern sehen würde, wenn er das ein oder andere Mal die Zeitung aufschlagen würde.
Seine Papiere und Bücher dagegen schienen ihm perfekt, eine makellose Choreographie von abstrakten Modellen, Symbole und Zahlen, die in seinem Geist tanzten wie es kein Mensch könnte, nichts an ihnen verwies auf etwas Reales, und schon deshalb konnten sie wohl kaum mit dem Töten zusammenhängen, so hatte er es -verbotenerweise- seiner Frau erklärt, sie waren nur Schwarz auf Weiß, Buchstaben auf Papier, scharf begrenzt, eindeutig, der Welt abgewandt und unschuldig. Er wusste, dass er Recht hatte.
Nur manchmal in letzter Zeit, da war etwas Unangenehmes geschehen, wenn er lange gearbeitet hatte, er erinnerte sich jetzt nur noch selten daran. Die Piktogramme, sie waren vor seinen Augen merkwürdig verschwommen gewesen, spät in der Nacht, am Anfang nur ein klein wenig, er war nicht mehr Jüngste, dass wusste er, und so hatte er es ignoriert, es beiseite geschoben, sich einfach tiefer über die Papiere gebeugt.
Doch Nacht für Nacht war es schlimmer geworden, die Zahlen und Zeichen wurden immer unschärfer und grauer, und es wurde ihm eine große Last, weiterzuarbeiten.
Eines Nachts dann schließlich, für ihn lag es nun schon eine ganze Weile zurück, da hatte er plötzlich stichiges Rot zwischen seinen ehemals schwarzen Symbolen gesehen, und er war so erschrocken, dass er nach Hause ging und in dieser Nacht nicht mehr arbeitete.
Es musste an der Müdigkeit liegen, hatte er entschieden, er war ja auch nicht mehr der Jüngste, natürlich, eine optische Täuschung.
In dieser Nacht hatte er nicht so gut geschlafen wie sonst, wohl wegen des Schrecks, hatte er am nächsten Tag am Küchentisch gewitzelt.
Am Nachmittag verließ er den Stützpunkt, kaufte sich eine Brille. Und – das war fast wichtiger, hatte er entschieden – etwas Medizin, „damit er länger wachbleiben könne“, wie der Doktor gesagt hatte.

„Lasst mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen, das ist doch so schöne Physik!“ – Enrico Fermi, 1945 als Direktor der Abteilung für theoretische Physik in Los Alamos auf Einwände von Kollegen gegen den Bau der Atombombe.