Und dann war sie da, plötzlich, wenn auch erwartet, ersehnt, plötzlich stand sie direkt vor ihr, diese Stille, ganz leise und friedlich, die letzten beiden schmerzvollen Töne eines ausklingenden Blues schienen ihr vorausgegangen zu sein, melancholisch, aber befreit, eine Stille, die sie überraschte, auch wenn sie schon immer für diesen Moment gebetet hatte, für dieses befreiende Schweigen.
Ein zynischer Zug ließ sie an die umstehenden Gäste denken, für sie musste diese Stille etwas Fatales haben, etwas von Albträumen, etwas von der Angst vor Unvorhergesehene, für sie quollen sicher Millionen spitzer Fragen aus dieser Stille, Geschossen gleich, Fragen, die nur noch sie beantworten konnte.
Das Warum war sicher auch eine davon, sicher nicht die Allererste, dennoch, das Warum würde sicher jeden interessieren, aber sie würde es ihnen nicht erklären, sie würde nur schweigen, das hatte sie sich geschworen, der Gedanke erfüllte sie mit einem traurigen Stolz, nur noch sie konnte diese Fragen beantworten, nur noch sie, und sie würde schweigen, sie betrachtete noch einmal das Schweigen um sich herum, selbst die Musik war nicht mehr zu hören. Der Ring am Finger des Alten schien kleiner als in ihren Erinnerungen, Relikten aus einer fernen Kindheit, aber das lag vielleicht an dieser Situation, sie sah zur Bar herüber, die ganze Szene schien ihr surreal, eingefroren, einfach angehalten, in ihrem Verlauf gestoppt, nur für diese Stille, für diesen einen Moment, sie hatte die Zeit bestochen für diesen langen Moment.
In ihrem Kopf war auch diese Stille, sie war durch die Augen in sie hineingekrochen und tanzte nun dort, tanzte mit einem kleinen Mädchen, dass dort schon lange saß, tanzte um Erlösung und fand sie zusammen mit dem Mädchen in den letzten beiden ausklingenden Tönen eines alten Blues.
Es war merkwürdig, hier so zu stehen, fand sie und konnte nicht erklären, warum. In ihren Träumen hatte sie schon oft genau hier gestanden, aber doch fühlte es sich jetzt anders an, vielleicht war es einfach das Ende der Reise, vielleicht war es Reue, sie wusste es nicht, aber es war anders als in ihren Träumen, irgendwie anders.
Ihr Blick wanderte hinauf zu dem Gesicht aus ihren Albträumen, es war alt geworden, es war faltig und runzelig geworden, dennoch gab es keinen Grund zu zweifeln, das Markante, das Besondere an diesem Gesicht war immer noch da, es war der Alte, diese kalte Forderung durchzog immer noch die narbigen Wangen, er war es, er musste es sein.
Sie musterte ihn kühl. Seit 21 Jahren hatte sie ihn nicht mehr gesehen, Tausende Kilometer sie zwischen ihn und sich gebracht, doch sie war sich sicher, hatte ihn sofort erkannt, wie hätte sie ihn auch vergessen können, diese groben, großen Hände, die breite Statur, den Gestank eines billigen Parfüms.
Sie hatte hierher kommen müssen, die Stille gab ihr Recht, es gab Geschichten, deren Ende geschrieben werden musste, geschrieben werden musste für das Schweigen nach dem letzten Wort.
Er hatte kein Wort mehr gesagt, er war einfach umgefallen, als wäre ihm schwarz vor Augen geworden, er lag einfach still auf dem Rücken, die Gesichtszüge entspannt, in ihrer Vorstellung war es immer viel schmutziger gewesen, aber nein, er war einfach nach hinten gefallen, ohne noch ein Wort zu sagen, in ihren Träumen hatte sie ihn manchmal um Gnade bitten lassen, aber auch das war nicht geschehen, er war einfach umgestürzt, dieser immer noch massive Mann, und nun lag er so auf dem Rücken, sie erinnerte sich dunkel an einen Tag am Strand mit ihm, ganz so lag er jetzt auch auf dem Rücken, die Augen geöffnet, das Gesicht ganz ruhig, nur dieses immer hungrige etwas war zusammen mit dem Alten entflohen, verschwunden, dieses etwas, dass sie damals immer verfolgt hatte, sie stets gierig gemustert hatte, stets mit Gedanken gespickt, die heute ihre Albträumen schuffen, dieses etwas, es war zusammen mit ihm gegangen, geblieben war nur zwei leere und unschuldige Augen, die nicht mehr verrieten als die Stille, die sie für sich und ihn geschaffen hatte.
Einen Moment zögerte sie, dann vergab sie diesen Augen, sie konnten nichts mehr dafür, sie hatten ihre Strafe erhalten und waren nicht länger schuldig.
Sie fühlte, wie die Stille sich langsam zurückzog, sie ließ ihren Arm langsam wieder sinken, das Gewicht in der Hand wurde zu schwer für sie. Etwas Pulverdampf tropfte aus dem Lauf, mischte sich mit der Stille. Einen Moment lang sah sie noch dem Kind in ihrem Kopf zu, sah seinem Tanz zu, sah die Erlösung in seinen Augen wieder schwinden, schwinden wie die letzten beiden Töne des Blues, der eben noch gespielt worden war. Noch einmal wand sie sich diesem Schweigen zu, dieser Stille nach dem Schuss, winkte ihr zum Abschied. Dann rissen die Schreie der Gäste die beiden voneinander los.
„Mit interessieren nicht die vielen Momente, die leicht an uns vorbeirasen, die leicht wie Schmetterlinge auf unserer Seele lasten und keine Spuren hinter sich lassen. Mit interessieren vielmehr die kleinen Augenblicke, die uns bis zum Zerreißen anspannen, die kurzen Momente, in denen ganze Leben sich offenbaren als bloßes Warten auf diesen einen Augenblick, der allem einen Sinn zuspricht, doch hinter sich nur Narben und Verwundungen lässt.“