Unter den alten Griechen lebte eins ein Mann, den wir heute Sisyphos nennen; dies war zu einer Zeit, als die Götter, die wir heute nur noch aus Erzählungen kennen, noch Macht besaßen und über die Welt herrschten, die sie als ihren Besitz erachteten.
Mit nur wenig Ironie könnte man sagen, dass Sisyphos ein moderner Mensch war; tückisch war er, intelligent und auch recht geschickt, ein fleißiger Mann. Er scherte sich recht wenig um die Autorität der Götter, die -Kindern gleich- mit dem Schicksal der Menschen zu spielen schienen. Und so scheint auch unausweichlich, dass er bei den Göttern in Ungnade fiel, er, der sich gern als freies Individuum sah. Zunächst unterschätzten die Götter seinen Freiheitsdrang und seine Tücke, so dass es ihm gelang, selbst den Tod zu überlisten.
Doch natürlich ist es absurd anzunehmen, dass ein Mensch, selbst ein sehr gescheiter, es mit der Macht der Götter aufnehmen könne. Und so kam es dann auch, wie es kommen musste; Sisyphos wurde schließlich gestellt und seiner Freiheit beraubt.
Oben im Olymp berieten die Götter nun, wie Sisyphos zu bestrafen sei. Es lag auf der Hand, dass eine harte Bestrafung gefunden werden musste, denn auch wenn manche der Götter die Unerbittlichkeit dieses kleines Wesens insgeheim bewunderten, so konnte man nicht ungesühnt lassen, das Sisyphos die Autorität des ganzen Götterhimmels untergraben hatte wie kaum ein Mensch vor ihm.
Man einigte sich schließlich auf eine Strafe; bis in alle Ewigkeit sollte Sisyphos in der Unterwelt bleiben, in einer Talmulde, die die Götter nur für ihn geschaffen hatten. Ein hoher Berg war dort erschaffen worden, auch ein schwerer Klotz aus Gestein.
Man erklärte nun Sisyphos, er müsse nur diesen Stein auf die andere Seite des Gebirges rollen, denn dies wäre seine Strafe.
Sisyphos, der sich seiner Lage bewusst war, begann also, den schweren Stein den Berg hinauf zu schieben. Das Gewicht des Steines war so gewählt worden, dass er ihn nur unter größter Anstrengung bewegen konnte, doch Sisyphos schaffte den Stein schließlich auf den Gipfel des Berges. Doch die Götter hatten in ihrer Bosheit das Gebirge so geschaffen, dass der Stein unweigerlich wieder hinunter rollen musste, so dass Sisyphos wieder und wieder von vorne anfangen musste.
Auch da hörte man von Sisyphos kein Klagen oder Wehen; das Ränkespiel der Götter hatte er schnell durchschaut.
Von Hunger und Durst, Krankheit und Alter befreit schob Sisyphos nun den Stein hinauf, der dann wieder nach unten rollte, Jahrhunderte lang. Einige Jahrzehnte lang sahen die Götter ihm dabei zu, um Genugtuung zu erfahren, doch dann wurde ihnen das Zuschauen langweilig und sie beschäftigten sich wieder mit anderen Dingen.
Und so hörte man in diesem Tal Jahrtausende lang nur das einsame Keuchen Sisyphos‘ und von Zeit zu Zeit, wie der Stein mit einem lauten Grollen wieder hinunter stürzte. Mit dem Äonen wurden die Hänge jenes Berges feucht und rutschig vom Schweiß, den Sisyphos vergoss, und rot vom Blut seiner geschundenen Füße. Und doch rollte Sisyphos den schweren Stein ohne zu hadern immer wieder den Hang hinauf, der kurz darauf wieder ins Tal polterte, immer wieder.
Die Götter betrachteten währendessen die Welt, die sie schon lange vergessen hatte. Ein anderer herrschte nun über sie, und sie mussten zusehen, wie ihr Einfluß schwand und schwand, bis sie schließlich nur noch schweigend zusammensaßen und zusehen mussten, wie ein anderer die Welt nach seinen Wünschen formte.
Mit einer gewissen Neugier begannen sie schließlich über diesen anderen zu lesen, den sie verstanden nur wenig von seiner Art zu handeln. Und so lasen sie die Bücher der Menschen über diesen Fremden, und sie lasen sie sehr genau und viele Jahre lang.
Nun, die Götter waren sehr starsinnig und eigen, dennoch konnten sie manchen der Ideen in jenen Büchern nicht verschließen, und so beschlossen sie schließlich, die Welt diesem anderen zu überlassen und zu gehen, denn sie hatten erkannt, dass dieser fremde Gott gerechter und auch besser herrschte, als sie es jemals gekonnt hatten.
Doch zuvor erinnerten sie sich an die Strafe, die sie gegen Sisyphos verhängt hatten, und während sie ihn so ansahen, wie er den Stein über die vielen kleinen Rinnsale schob, die sich gebildet hatten, da überkam sie Mitleid, eine Empfindung, von der sie in den Büchern des Anderen gelesen hatten. Und so entschieden sie, ihm zu vergeben, und gingen fort.
Sisyphos schob den schweren Marmorstein wieder den Berg hinauf, und als er oben angekommen war, blickte er wieder ins Tal hinunter und erwartete, dass der Stein wieder hinabrollte. Doch nichts dergleichen geschah – der Stein blieb einige Sekunden auf dem Gipfel liegen, bevor auf der anderen Seite wieder hinab donnerte und in die Schwärze der Unterwelt fiel, ohne dass ein Aufschlag zu hören war.
Sisyphos aber, der niemals geklagt hatte, fiel nun auf die Knie und begann zu weinen, zu toben und zu schreien. Er verfluchte die Götter und rief sie zu sich herab. Doch niemand hörte ihn mehr, und so verklangen seine Schreie für Ewigkeiten in der leeren Unterwelt.
frei nach dem Sisyphos-Mythos.