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Gesichter

Manche Gesichter folgen uns durch unzählige Nächte, dem kalten Puls eines naiven Jagdalgorithmus folgend, der keine Verhandlungen kennt, kein Aufgeben oder Aufschieben, keinen Schlaf und keine Ermattung, der nur seiner Beute nachspürt wie ein Automat, gleich einer Schleife ohne Abbruchbedingung.
Meist ist es ein Unbekannter, dessen Konturen eine oberflächliche Ählichkeit besitzen – wie blicken hin, und für einen Augenblick ist da ein flüchtiges Erkennen, eines dieser Gesichter blitzt kurz hervor, ganz so wie eine Intuition plötzlich aus einem ganz gewöhnlichen Sinneseindruck herausspringt und ihm eine zusätzliche Tiefe, eine neue Dimension gibt, die er vorher nicht besaß. Manche lachen, andere blicken uns vielleicht nur still an, was auch immer ihr Ausdruck ist, es bleibt immer der gleiche, er bleibt festgelegt.
Wir können uns verstecken – natürlich können wir uns verstecken, aber auch das hilft uns nicht, das Gefühl, nur Beute zu sein, bleibt. Manche verstecken sich hinter ihrer Arbeit, andere flüchten sich in ihre Vergnügungen, wie sie das nennen, aber all das führt zu nichts, die Jagd bleibt die Jagd, und ob in einer tanzenden, schwitzenden Masse, in Passanten auf unseren Spaziergängen oder gar unserem eigenen Spiegelbild – früher oder später erblicken wir darin den Gegner, die Erinnerung an etwas Fremdgewordenes oder etwas, dass wir nie besaßen, und dann haben sie uns gefunden, diese Gesichter.
Wir erzählen anderen nur selten davon, es bleibt eine intime, eine persönliche Frage, wen diese Gesichter zeigen, die kaum jemand stellt und niemand beantworten mag. Aber natürlich gibt es auch hier Klischees. Für die Jungen wird es oftmals eine verschollene Jugendliebe sein, oder ein verunglückter Freund. Die Alten dagegen werden vielleicht längst betrauerte Geliebte sehen, oder nur sich selbst, jünger. Doch sie müssen nicht tot oder vergangen sein, manche sind uns auch ganz real noch vertraut, und dass sind die Schlimmsten, weil sie keine Illusion lassen, keine Klitterung unserer – und ihrer – Geschichte, weil sie immer noch mehr sind als nur der blinde Automatismus der Erinnerung.
Auch wenn wir nicht wissen, welcher Gesichter ein Anderer sieht, so merken wir es selbst dem Fremden manchmal an, wenn er die Seinen sieht; es sind diese Momente, in denen der Blick plötzlich fern wird und dann bricht, in denen man die Augen ohne Grund abwendet und verstummt. Die, in denen man plötzlich die Hand eines Anderen ergreift und leise seufzt, ohne es erklären zu wollen.
Irritationen der Sinne scheinen sie anzuziehen, und so ist es seltsam, dass wir diese von Zeit zu Zeit gar suchen, doch vielleicht ist das ganz natürlich; sie definieren uns schließlich auch, machen uns zu Menschen, ganz so, wie unsere Fehler uns ebenso ein wenig definieren. Und vielleicht genießen wir manchmal sogar diesen leisen Schmerz des Nicht-Abzuschüttelnden, denn immerhin sind wir durch sie auf eine tragische Weise auch unter Unbekannten niemals einsam.
Vollkommen egal, wohin wir auch gehen, unsere Gesichter folgen uns auch dorthin; die Reflexion der Sonne in einer Autotür holt sie zu uns, bei einem Sommerspaziergang. Oder das blinzelnde Stroboskopleuchten in einem dunklen Saal voller Menschen, oder der lange Blick in den Spiegel. Wir sehen unserem Verfolger in die Augen, für einen Sekundenbruchteil, erstarren. Und hören in unseren Köpfen die alte Botschaft, vielleicht hört jeder eine andere.
Ihr Sinn aber bleibt immer gleich oder zumindest ähnlich. Es ist das korrumpierte Lispeln der Unschuld, dass da Hab dich flüstert und Auf Wiedersehen kichert, nicht ohne die Bedeutung des letzten Wortes deutlich zu machen.