- bad_indicator - http://badindicator.de/blog -

89 Bilder

Ein kleiner Baum hatte das Inferno überstanden, stellte er lakonisch fest und betrachtete ihn durchdringend. Viel war nicht von ihm geblieben, von den meisten seiner Äste war nur noch Asche übrig, und selbst an der dem Hang abgewandten Seite hatten seine Arme eine kohlefarbene Schicht bekommen.
Er ging einige Schritte auf ihn zu, ließ sich dabei Zeit, atmete die ozonhaltige, schale Luft langsam ein und aus. Gut möglich, dass der Baum genau an der Grenze von Zone 2 gestanden hatte, zumindest stand er genau an dem Hang, der sie seiner Erinnerung nach begrenzen sollte. Seine Kamera surrte einige Male leise, als er einige Fotos machte.
Er berührte den Stamm des Baumes sanft, und einige Zentimeter Rinde lösten sich unter seinen Fingern ab, wurden vom Wind davon getragen. Erstaunlich, dieser Baum, kein anderer hier oben hatte es überstanden. Ein ganzer Wald war hier einmal gewesen, so hatte er es auf den Bildern gesehen, und ausgerechnet dieser hatte überlebt.

Er drehte sich um, nachdem er noch einige Aufnahmen des Kraterrandes gemacht hatte. Es würde natürlich wieder ein Unfall gewesen sein, was auch sonst. Nicht alle Leute in der Heimat würden das glauben, auch das war nur natürlich, aber selten wagte jemand, dies offen zu sagen, und wenn es doch jemand tat, dann sicher nicht für lange. Aber das waren nicht seine Belange; er machte nur diese Aufnahmen und schrieb die Artikel, wie er angewiesen wurde. Natürlich waren es nie Unfälle, obschon dies denkbar wäre, denn die Kraftwerke der meisten Städte funktionierten wohl in ähnlicher Weise wie die Waffen, die man hier verwendete; wie sie genau funktionierten, wussten nur wenige Menschen, auch er war darüber nie informiert worden. Er setzte die Kamera ab, legte den Trageriemen wieder um seinen Hals, blickte dem Abgrund entgegen.
Weit im Norden, irgendwo in der Zone Null, konnte man noch Rauch sehen, das Gestein dort würde über Wochen glühen. Seiner Beobachtung, die er selbstverständlich für sich behielt, schien den Einschlägen oft vulkanische Aktivität zu folgen, aber er war kein Experte auf diesem Gebiet. Man sagte ihm nicht viel, und das war gut so; je weniger er wusste, desto weniger konnte er zu einer Gefahr werden. Ihn scherte zwar nicht, was hier geschehen war, aber allzu wurden Mitglieder des Journalistenkorps oder der Armee auf einen bloßen Verdacht hin weggebracht.
Nun, viele von ihnen mochten sicher Geheimnisverräter sein, aber er war keiner. Ihm war natürlich klar, was hier geschehen war, selbst wenn es ihm niemand offen sagte und er die schweren Schiffe über der Oberfläche nie gesehen hatte. Aber es ging ihn nicht an, und er kannte keinen der Menschen, die hier vor kurzer Zeit noch gelebt hatten. In anderen Zeiten hatte es ähnliche Ereignisse gegeben, als Massenmorde oder Vernichtungskriege hatte man sie bezeichnet; nun, da war nur eine gewisse Ähnlichkeit, denn es gab einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen historischen Fakten und dem, was hier geschehen war, so dachte er zumindest.
Denn eigentlich starb hier niemand, kein einziger Siedler. Es war viel einfacher, er hatte es gesehen;
Die Granaten schlugen lautlos auf, nachdem sie eine Hyperbel-Bahn vom Himmel herab beschrieben hatten, detonierten – meist – in den Stadtzentren, und dann war da nur ein helles Leuchten, das einen leicht für immer blenden konnte.
Und wenn man den Blick wieder hob, war da nichts mehr. Gebäude, Straßen, Menschen, Beweise, alles wurde in nur einem Augenblick davongeweht wie Nebel vom Wind. Es blieben nur diese schwelenden Krater, die er von Zeit zu Zeit fotografierte, um danach von den Unfällen zu berichten.
Nein, eigentlich starb hier niemand, in einem Moment lebten diese Menschen ihr Leben, im nächsten waren sie und alles, was an sie erinnerte, fort, verschlungen von weißem Feuer.

Er erinnerte sich noch gut an die erste Kriegswelle, oder den ersten Befreiungsfeldzug, wie man es heute nennen musste. Damals hatte es noch echtes Sterben gegeben, jahrelang, er war damals noch neu beim Korps gewesen und war oft auf den stinkenden, verstrahlten Schlachtfeldern gewesen, wenn auch nur ganz hinten. Doch dann hatten sie begonnen, die neuen Granaten zu verwenden, und seitdem hatte das Sterben aufgehört.
Genau wie noch in heutiger Zeit hatte man ihn damals immer häufiger in sein Büro in der Hauptstadt geschickt, um dort alleine die Artikel fertigzustellen. So war es schon lange; anfangs war das Kriegsgebiet noch so nah gewesen, dass er, hätte er aus dem Fenster gesehen, Nachbarstädte mit einem stummen Blitz hätte vergehen sehen können, während er an Berichten über die neuen Golfanlagen auf Kuba schrieb. Doch das hatte sich mit den neuen Waffen schnell geändert, und der Krieg war schließlich auf unbedeutende Welten wie diese hier gekommen, ohne dass er genauen Grund dafür gekannt hätte.

Er hörte ein leises Geräusch hinter sich, dass er kaum registriert hätte, wenn die beiden Soldaten der Eskorte vor ihm nicht fast zeitgleich einen ebenso disziplinierten wie dumpfen Befehl ausgestossen hätten. Es blieb keine Zeit, die Situation einzuschätzen, die Lage zu überblicken und rational zu entscheiden, was zu tun war, während die beiden ihre Waffen hoben; doch die Konditionierung seiner Ausbildung funktionierte und griff ein wie ein unsichtbarer Marionettenspieler. In einer kaum wahrzunehmenden Geschwindigkeit drehte sich der Fotograf über die linke Schulter weg, um hinter sich blicken zu können, während er sich flach fallen ließ. Eine schützende Hand griff dabei scheinbar unbewusst nach der Kamera, seine Finger fanden den Auslöser blind.

Dann lag er im Staub, alles war vorbei, alles, und einer seiner Bewacher half ihm mit dem emotionslosen Gesicht eines Frontsoldaten wieder auf.

Was davor geschehen war, das hatte, so konnte er sich später immer wieder und wieder versichern, kaum mehr als eine halbe Sekunde gedauert, und so hatte sein Gehirn, das mit dem Anwenden seiner Ausbildung beschäftigt gewesen war, kaum mehr registriert als Schmemen und Schüsse. Aber auch das war nicht wichtig; er konnte die Szene später auch ohne Erinnerung begreifen, war dazu gezwungen, verdammt.
Ein Junge, kaum älter als acht oder neun, vielleicht auch zehn, hatte sich unterhalb des verbrannten Baumes versteckt, in einer Spalte im Hang, oder vielleicht auch in einem Baumstumpf, er fand es nie heraus. Der Junge musste heraufgeklettert sein, als er sich bereits vom Abhang entfernt hatte, und so hatten er und die Eskorte ihn erst bemerkt, als er über einen Stein gestolpert war, so war es zumindest zu vermuten.

Er bot ein gräßliches Bild; die rechte Seite seines Körpers schien verbrannt oder viel mehr geschmolzen zu sein, denn man konnte noch Reste seiner hellen Kleidung erkennen, die scheinbar mit der verkohlten Haut verklebt war. Auch sein Kopf schien verzerrt, die Haare fehlten, und der Mund besaß eine blaßrote und eine fast teerschwarze Seite, die seltsam herabhing und zusammen mit dem blinden rechten Auge den Eindruck eines furchterregend grinsenden Zwinkerns schuf.
Das Kind war einfach stehengeblieben, als man es bemerkt hatte, ganz naiv. Vielleicht hatte es Hilfe erwartet, vielleicht war der Junge auch schon gänzlich von Sinnen gewesen, in jedem Fall war er einfach so stehengeblieben, etwas schwankend, und hatte die Männer angeblickt, die ihm gegenüber standen.

Die Schüsse trafen ihn in die Brust, zweimal, ein dritter traf die ohnehin zerstörte Schulter. Der Aufprall war so schwer, dass der Junge einige Meter nach hinten geworfen wurde, auf den Boden schlug und den tiefen Abhang hinabrutschte; sein Mund öffnete sich dabei. Vielleicht hatte er geschrien, der Journalist wusste es nicht, würde es nie wissen, auch wenn er Tage damit verbringen würde, darüber nachzudenken.
All das hatte der Fotograf gesehen, in dieser halben Sekunde, aber natürlich konnte er sich an kaum etwas davon genau erinnern, es war zu schnell geschehen. Es war ein wenig wie ein Albtraum, den man vergessen hatte; nur der Grundriss blieb übrig, wenn man ihn nicht nach dem Aufwachen aufschrieb, und so wünschte er sich oft, es gäbe nur diesen Grundriss in seinen Erinnerungen, aber so war es nun einmal nicht.
Er hatte diesen Albtraum aufgeschrieben und somit bewahrt, für alle Zeiten; wie er erst auf dem Rückweg in die Hauptstadt bemerke, hatte er im Sturz 89 Bilder gemacht, 89 Aufnahmen, die die gesamte Szene und all das Geschehene genau eingefangen hatten.
Er hätte sie löschen können, ohne sie anzusehen, denn ihm war nach einem kurzen Blick auf die Anzeige klar gewesen, wann er sie gemacht hatte. Dann er hatte sie doch durchgesehen, und danach dachte er nie wieder ernstlich daran, sie zu löschen.

Einige Nächte nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt verbrachte er nur damit, die 89 Bilder anzusehen, jedes Detail aufzusaugen, um mit dem Jungen abschließen zu können. Aber so sehr er es auch wünschte, der Albtraum blieb in den Fotos eingefroren.
Einige weitere Nächte lang dachte er darüber nach, sie zu veröffentlichen, um sich von diesem Gewicht, diesem Gesicht zu befreien. Doch auch diese Nächte ließen ihn nicht handeln; die Konsequenzen waren ebenso klar wie erschreckend, man würde ihn hängen und die Bilder vernichten, und so siegte sein Überlebenswille.
Doch auch das milderte das Gewicht der Bilder nicht, und so versanken seine Nächte bald in Alkohol, bis er eines Morgens mit dem eigenen Revolver in der Hand erwachte. Er gab ihn weg und trank nie wieder.
Schließlich verbrachte er seine Nächte wieder an seinem Schreibtisch und schrieb seine Berichte, wie man sie ihm auftrug. Er schlief nur noch wenig und wenn, dann nur am Tage. Die Bilder blieben in seinem Schreibtisch verschlossen, zweifach gesichert auf einem Speichermedium, daneben einige sorgsam verborgene Papierausdrucke, wie man sie heute nur noch selten sah. Er betrachtete sie jeden Tag; über die Krater schrieb er nie wieder.