Er vermied Schlaf, wenn er es konnte. Manchmal reichten ihm der Fernseher und viel Kaffee, um sich wachzuhalten, aber seit einer Weile nahm er auch Tabletten. Inzwischen hatten sich tiefe, dunkle Gräben unter seinen Augen gebildet, wie Narben, und einige Arbeitskollegen hatten ihn darauf angesprochen; er hatte irgendeine Begründung genannt, und seitdem hatte ihn niemand mehr gefragt, auch wenn er nicht glaubte, dass sie ihm geglaubt hatten. Er vermutete, die Schatten fielen einfach niemandem mehr auf; ihre Tiefe blieb inzwischen gleich, und an konstante Dinge gewöhnten sich Menschen schnell.
Er hätte viel erklären müssen, hätte er den wirklichen Grund für seine übernächtigten Gesichtszüge genannt. Vielleicht hätte er einfach sagen können, dass er nicht gerne schlief; aber das hätte mehr Fragen provoziert, und darauf hätte er wieder Antworten finden müssen. Tatsächlich hielten ihn in gewisser Weise seine Träume vom Schlafen ab, aber auch das war nicht richtig, oder zumindest nicht ganz so einfach, wie es sich zunächst darstellte.
Nein, es war schon gut gewesen, den anderen irgendeine Begründung zu liefern; es war ohnehin seine Sache, und die anderen hätten ihm womöglich dumme Ratschläge gegeben oder ihn auch nur merkwürdig angesehen. Beides wollte er vermeiden.
Meist saß er abends einfach allein vor dem Fernseher, im Sessel, und trank noch einen Kaffee. Natürlich war ihm klar, dass er irgendwann schlafen musste, alles andere wäre unvernünftig gewesen; auch konnte er nicht einfach noch mehr Aufputschmittel nehmen. Es würde der Gesundheit schaden.
Aber immerhin konnte er entscheiden, wann und wie viel er schlief.
Meist schlief er irgendwann gegen drei ein, in dem Sessel. Sein Bett hatte er schon lange nicht mehr benutzt, es war ihm zutiefst zuwider, und so hatte er eine Tagesdecke darauf gelegt oder gespannt, wie in einem anonymen Hotel, und es seit Monaten nicht mehr angerührt. Wenn er es richtig machte, dann schlief er nur drei Stunden und ging nahtlos vom Verfolgen eines Filmes in eine Art Bewusstlosigkeit über, aus der er später fast erfrischt wieder erwachte. Mit etwas Glück hatte er sogar fast das Gefühl, den Film mit in den Schlaf zu nehmen, so dass es ihm manchmal schien, als wäre er die ganze Zeit wach gewesen.
Trotzdem forderte diese Art der Lebensführung natürlich ihren Tribut. Oft war er unkonzentriert oder der ganze Tag erschien ihm wie durch einen dichten Nebel verhüllt. Seine Arbeitsleistung war dadurch gesunken, aber er glich es durch Überstunden aus, so dass es niemandem wirklich auffiel. Das war ihm wichtig; aber es war auch ein Gewinn für ihn selbst, weil er weniger Zeit herum bringen musste. Inzwischen hatte er sogar begonnen, am Sonntag zu arbeiten. Man hatte ihm eine Beförderung angeboten, aber die hatte er abgelehnt; er war sich nicht sicher, ob er ein größeres Arbeitspensum noch bewältigen konnte. Und so liefen alle sieben Tage der Woche etwa gleich ab; gegen sechs erwachte er in seinem Sessel. Dann begab er sich ins Bad, frühstückte etwas Brot, ging zur Arbeit. Er blieb dort meist bis neun Uhr abends, manchmal auch länger; zu Hause setzte er sich wieder in den Sessel, kochte Kaffee und ließ sich etwas zu Essen bringen.
Es war egal, was danach geschah; wichtig war nur, dass er nicht zu viel schlief, nicht zu früh einnickte. Es war auch nicht so wichtig, was er im Fernsehen eigentlich sah. Nur Kitsch mied er. Manchmal sah er schlechte Horrorfilme; ihrem Plot konnte der Geist folgen, ohne dass er dämmerig wurde. Oder er sah alte Dokumentationen, Konzerte manchmal. Irgendetwas. Nur Romantik mied er, Familienfilme, Schnulzen.
Er hätte zu einem Arzt gehen können, aber das tat er nicht. Warum auch, er funktionierte doch.
Außerdem, was hätte er sagen sollen; weder fiel ihm das Schlafen schwer, in der Tat war das sogar ein Teil des Problems. Noch jagten ihn Albträume. Da waren keine verdrängte Kindheitserinnerungen oder Kriegstraumata, keine schweren Unfälle oder unterdrückten Gefühle.
Nein, ganz im Gegenteil:
Er träumte – gar nicht.
Ihm war nicht mehr ganz klar, wann das begonnen hatte . Das mochte auch daran liegen, dass er so wenig schlief, seine Erinnerung an Vergangenes war oft bruchstückhaft, zumindest in Bezug auf die letzten Jahre. Und so musste es auch vor einigen Jahren gewesen sein, als er plötzlich nicht mehr träumte. Am Anfang war es wohl schleichend gewesen, er hatte damals noch mit Bekannten darüber gesprochen. Sie hatten ihn beruhigt, dass viele Menschen gar nicht träumten. Aber das stimmte nicht, das wusste er. Die meisten Menschen erinnerten sich zwar selten an ihre Träume, aber sie träumten dennoch, jede Nacht. Er hatte Studien dazu gelesen. Natürlich behaupteten viele genau deshalb, sie würden selten träumten; tatsächlich aber war nur ihre Erinnerung daran verwischt.
Das war irgendwann anders geworden bei ihm. Schlief er eine Nacht wirklich durch, und von Zeit zu Zeit geschah das, weil er übermüdet auf seinem Schreibtisch oder in seinem Sessel zusammen sackte, dann erinnerte er sich danach an alles. Und damit an Nichts. An eine stundenlange, gähnende Leere im Inneren seines Kopfes.
Er hatte oft darüber nachgedacht, wie es so gekommen war. Früher hatte er oft geträumt, manchmal sogar am Tage. Alle Arten von Träumen hatte er erlebt. Die angstvollen, die des Versagens, des Gejagtwerdens, des Alleinseins, des Sterbens, die man gerne abschütteln wollte. Aber vor allem auch die von der Zukunft. Die von den seltsamen Reisen an ferne Orte, manchmal absurd, manchmal ernst und ehrfürchtig. Die von fremden Menschen, die im Traum Freunde oder gar Familie wurden. Die vom eigenen Zuhause.
Natürlich waren es nur Trugbilder, und so hatten sich all diese Dinge niemals erfüllt; weder die angstvollen noch die hoffnungsfrohen. Auch das wusste er, und früher hatte er dem Träumen auch deshalb keine große Bedeutung geschenkt.
Er fand keinen Punkt in seiner Vergangenheit, der seine Veränderung so einfach erklären konnte; da kam es einfach keinen kritischen Moment, in dem alles umgestürzt war. Er war zur Schule gegangen, hatte seine Ausbildung gemacht, er hatte eine Arbeit gefunden. Er hatte eine Wohnung gemietet, er zahlte seine Steuern. Einmal im Jahr machte er einen Urlaub in der Sonne. Einsam war er schon immer gewesen, das gestand er zu, aber das waren viele Menschen, oder etwa nicht.
Irgendwann hatte er aufgehört, darüber nachzudenken, und auch das lag teilweise sicher am Schlafmangel. Es fiel ihm schwer, das auch nur sich selbst schlüssig zu erklären, aber diese Leere, diese Stille in seinem Kopf, die fürchtete er mehr alles andere, was ihm in seinem Leben begegnet war. Einmal hatte er versucht, es aufzuschreiben, dieses Gefühl, diesen Zustand, aber danach hatte er das Geschriebene gelesen und sofort weggeworfen. Manchmal dachte er daran, es erneut zu versuchen, aber er verwarf den Gedanken immer wieder. Seiner Einsicht nach war er einfach nicht gut darin, sich auszudrücken, und ändern würde es ja doch nichts. So hatte er mit sich selbst das stille Abkommen getroffen, nicht mehr darüber nachzudenken als unbedingt nötig.
Daran hielt er sich. Zumindest meist. Tatsächlich lag im untersten Fach eines Wandschrankes in seinem Büro ein kleines Heft, in das er von Zeit zu Zeit – vor allem, wenn er wieder einmal einfach über der Arbeit zusammengesunken war – hineinsah, ohne dass er von der Existenz dieses Büchleins wirkliche – ständige – Notiz nahm. Das war seine Art von Selbst-Subversion, dachte er manchmal.
Mehrfach hatte er Seiten oder ganze Abschnitte herausgerissen und auf dem Fensterbrett verbrannt, dennoch hatte er sich nie entschließen können, es ganz zu vernichten. So war es inzwischen ein recht ungeordneter Haufen ohne Zusammenhang. Zeichnungen war dabei, meist von fast abstrakter Amateurhaftigkeit. Teilweise waren darin Träume skizziert, an die er sich noch aus früheren Zeiten erinnern konnte, so etwas das Bild von vielen, kleinen, beinahe strichhaften Menschen an einem See oder Strand. Einer mit nur zwei Menschen darauf, auf einem Berg oder Hügel. Auch ein Albtraum war dabei, mit Kugelschreiber und flüssiger Tinte hingekritzelt.
Aber neben den Zeichnungen waren da auch einige Blätter mit Worten darauf, Sätzen, meist aus dem Zusammenhang gerissen, vielfach im Nachhinein auch für ihn unverständlich. Auf einigen war nur ein Warum? zu lesen, mit stichartigen, kantigen Strichen fast aus dem Papier gerissen. Auf anderen waren detailliertere Ausführungen zu finden, auf einem Blatt etwa hatte er alles aus seiner Kindheit vermerkt, an das er sich noch erinnern konnte, und danach mit rotem Filzstift alle Punkte abgehakt, die er als Ursache für sein Leiden ausschließen konnte. Keiner war übrig geblieben.
Einmal hatte er auch versucht, seine Wünsche für die Zukunft aufzuzeichnen, aber über zwei war er nicht hinausgekommen. Der erste bezog sich auf seine Unfähigkeit zu träumen, den zweiten hatte er später dick umrandet, auch mit Rot. Und den Zettel ein paar Minuten später verbrannt.
Möglicherweise hatte er auch schon mehrfach Ähnliches geschrieben oder zumindest gedacht; seine Erinnerung daran war schwach, und außerdem hatte er ja ein Abkommen, an das er sich meistens hielt. Meistens. Nur wenn er sich einmal wieder auf dem Papierwustes seines Schreibtisches wiederfand, langsam erwachend, und immer noch diese immense Stille, diesen lebendigen Tod in sich fühlte, dann griff er ganz selbstverständlich nach dem Büchlein, fügte etwas hinzu, riß etwas heraus. Danach stellte er es wieder zurück, vergaß es fast. Und kochte Kaffee.