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Ein Gebäude (3)

Wenn er nachts durch die Flure schleicht, dann bleibt er ab und zu stehen und horcht: Er schaut links und rechts die Gänge hinunter. Manchmal bleibt er auch unvermittelt stehen und lauscht auf etwas, dass nur er hören kann. In diesem Gebaren hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Katze. Er bewegt sich kaum so geschmeidig wie eine Katze, aber ebenso leise; vielleicht ähnelt er auch eher eine Ratte, die mal hier, mal dort schnüffelt und etwas Essbares zu erspähen sucht; ja, eine Ratte, das kommt auch seiner Gestalt recht nahe.

Früher, als noch alles anders war, da war er ein recht hochgewachsener Mann mit einem etwas dümmlichen, aber klaren Ausdruck in den Augen gewesen: Etwas besonderes war er nie. Seine Vergangenheit war, inzwischen sogar für ihn, nicht der Rede wert; irgendwann nach einer mittelmäßigen Karriere als Kleinkrimineller hat er einmal angefangen, als Hausmeister zu arbeiten, und das tut er immer noch. Ein gewisses Geschick für die kleinen technischen Dinge war ihm schon immer gegeben gewesen, und so konnte er in diesem Beruf einigermaßen über die Runden kommen. Vor diesem Gebäude hat er schon viele andere betreut, Facility Management nennt man das heute, aber das weiß er nur aus seinem Arbeitsvertrag, und an den denkt er nur selten.
Die Menschen, die ihn heute noch sehen, haben seine Veränderung kaum erkannt; sie meiden ihn, wenn sie können, ansonsten sind sie so freundlich wie nötig, um das zu bekommen, was sie von ihm brauchen; meist Hilfe bei verklemmten Türen, streikenden Steckdosen, verstopften Abflüssen, Blutflecken im Flur.
Auch er selbst ist sich der Veränderung nicht immer bewusst; noch kann man von einem Leben sprechen, dass er lebt, vielleicht werden es einmal zwei verschiedene werden, die nichts voneinander wissen. Physisch gesehen ist er in jedem Fall immer noch eine Einheit, auch wenn sich sein Aussehen verändert hat; Sein Rücken ist ganz krumm geworden in den wenigen Jahren, die er hier schon arbeitet. Die Schultern geben langsam der fehlenden Spannung der Nackenmuskeln nach und haben sich dicht an das Rückgrat gelehnt, und so macht er den Eindruck eines alten Kirchenschiffs, das langsam in sich zusammensinkt. Die Augen sind meist blutunterlaufen und liegen in tiefen Kratern, im Halblicht der nächtlichen Beleuchtung kann man sie kaum erkennen. Manche der Schwestern tuscheln, er trinke, aber das stimmt nicht.

Aber nicht nur er hat sich verändert; auch alles um ihn herum ist anders geworden. Als die seltsamen Selbstmorde begannen, war er es gewesen, der Gitter vor den Balkonen anschraubte. Doch danach waren immer wieder Menschen vom Dach in den Tod gestürzt, und niemand konnte es sich erklären; Studenten waren unter den Toten, Ärzte, Patienten, Schwestern. Die meisten hatten sich gegen Morgen das Leben genommen, meist während eines langen Bereitschaftsdienstes oder nachdem sie einige Stunden geschlafen hatten. Inzwischen ist das der Grund, warum immer mehr Angestellte das Gebäude verlassen und nicht wiederkommen. Auch die Patienten meiden das Gebäude, wenn es möglich ist. Einen Teil der Bettenhäuser hat man schon stillgelegt, weil es nicht genug Personal gibt. Die wenigen, die bleiben oder bleiben müssen, weil sie keine andere Anstellung finden, leisten nur ungern Nachtdienste; manche munkeln, es spuke in dem Komplex. Die Ärzte, die Schwestern, ja sogar schwer kranke Patienten versuchen sich in der Nacht mit Fernsehen, Spielen und Aufputschmitteln wach zu halten, um ja nicht einzuschlafen: Mit trüben Augen und leerem Blick wanken sie dann durch die Gänge, starren auf die Uhren, warten, gehen, warten.

Es gibt nur noch einen, der in diesem Gebäude schläft, und das ist er, der Hausmeister. Er ist schon immer von einfachem Gemüt gewesen, und auch deshalb ist er sich dessen gar nicht so recht bewusst. Es fing ganz kurz nach den ersten Selbstmorden an. Er erinnert sich gut daran, denn er war es, der die Blutlachen im Innenhof beseitigen musst; das gefiel ihm nicht, beim ersten Mal war ihm sogar schlecht gewesen. Doch nach ein paar Malen gewöhnte er sich daran, es war auch nur Dreck, Dreck, wie er ihn jeden Tag beseitigte, wenn etwa ein Unfallopfer durch die Flure geschoben wurde.

Dann begannen die Träume. Es waren Albträume, aber seltsame sterile; viele der Menschen, die hier arbeiteten, hatten auch solche gehabt, aber er war der einzige, der sich an einzelne erinnerte. Anfangs waren sie schockierend gewesen, Träume von seltsam verdrehter Grausamkeit, Bilder von den Blutlachen, aber aus einer merkwürdigen Perspektive betrachtet. Menschen, die in den Tod stürzten, Schreie und immer wieder ein verkrüppeltes Lachen wie von Blechdosen, die man zusammendrückte. Und am Ende jedes Traumes ein riesiges Raubtier, so riesig, dass man es nur hören, aber nicht sehen konnte, als wäre man bereits verschlugen worden.

Damals hatte auch er darüber nachgedacht, das Gebäude zu verlassen und zu kündigen. Aber draußen gab es nichts für ihn; eine Frau oder Freundin hat er nie gehabt, Freunde auch kaum. Seine Eltern waren früh gestorben. Vor den Träumen hatte er das Gebäude schon seit Jahren nicht mehr verlassen; er wohnt in einem ausrangierten Patientenzimmer. Was er braucht, kauft er im hauseigenen Laden, wo er Rabatt bekommt; er isst immer in der Kantine.
Es gab nichts, wo er hätte hingehen können, und deshalb blieb er. Am Anfang fiel ihm das schwer, die Träume verstörten ihn mehr und mehr, er schlief wenig. Doch nach einer Weile verflog der Schrecken. Er hatte sie immer noch, diese Albträume, sie machten ihm immer noch Angst; aber es war eine andere Art von Angst, eine sterile vielleicht. Er wachte nicht mehr schweißgebadet auf. Seine Angst vertrocknete langsam, wurde zu einer Konstante seines Alltags, die ebenso wie andere Routinen keine Reaktion mehr provozierte. Mehr noch; in gewisser Weise begann er, etwas Beruhigendes in der ständigen Präsenz dieses großen Tieres zu sehen.

Dann, irgendwann, fiel die Lüftung in seinem Zimmer aus; er bemerkte das nicht sofort, denn das Rauschen der kleinen Lüfter in Decken und Wänden ist zwar allgegenwärtig, aber leise – so leise, dass es drei Nächte dauerte, bis er es bemerkte.
Was ihm auffiel, das war das Fehlen der Träume – sie schwanden zusammen mit dem Flüstern der Lüftung.
Er muss den Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen erkannt haben. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, tauschte er nach diesen drei Nächten den Lüfter in seiner Decke aus und hatte fortan wieder seine Träume.

Er vermutet manchmal, diejenigen, die schon den Tod gefunden haben, könnten ähnliche Träume gehabt haben. Dann fragt er sich auch, warum er nicht gesprungen ist, und weiß die Antwort, ohne sie aussprechen zu können. Seit die Träume da sind, ist er unwirscher geworden, er spricht kaum noch mit anderen Menschen. Die anderen, selbst verängstigt, manche vielleicht schon vollkommen von Sinnen, meiden ihn umso mehr, aber das stört ihn nicht mehr. Wenn sie etwas von ihm wollen, dann lächelt er sie schief an und sein Gegenüber erkennt, dass dieses Lächeln aufgesetzt ist, nur eine Maske. Manche erkennen noch etwas anderes, etwas Bedrohliches in diesem Lächeln, etwas, dass sie an kaltes Linoleum erinnert, aber sie brauchen ihn, und deshalb akzeptieren sie das; einmal wollte man ihn ersetzen, aber niemand wollte seine Arbeit machen. Also ist er geblieben und kommt seinen Aufgaben nach: Wenn ihn jemand bittet, die losen Teile der Balkongitter wieder festzuschrauben oder die Wegweiser an den Wänden neu zu tünchen, dann lächelt er wieder schief und tut es.
Nachts jedoch, wenn er fast allein in dem Gebäude ist, da steht er manchmal auf, schleicht durch die Gänge, um ungesehen zu bleiben, und schraubt die Gitter wieder lose. Oder er reißt wahllos Pfeile von den Wänden. Oder sperrt Türen auf, die eigentlich verschlossen bleiben sollten.

Ihm ist nicht zu jeder Zeit klar, dass er das tut. Noch ist seine Psyche zwar ein zusammenhängendes Ding, eine Person. Doch sie ist verbogen, gekrümmt wie sein Rücken, und manchmal kann man deshalb nicht mehr von einem Ende hinüber zum anderen sehen. Dann kann er sich nicht daran erinnern, Hausmeister zu sein; oder er kann sich nicht daran erinnern, nachts aufgestanden zu sein.
Manchmal bemerkt er diese Lücken sogar; aber es berührt ihn nicht, im Gegenteil. Er ist gern die Ratte, er mag seine Metamorphose: dieses Wort kennt er noch nicht lange, jemand hat es ihm eingeflüstert. Er spricht es immer noch falsch aus, wenn er mit sich selbst redet.
Seine Metamorphose, seine Veränderung begann, nachdem er die Lüftung in seinem Zimmer erneuert hatte und er wieder seine Träume durchlebte.

Denn von nun an sprach das Raubtier zu ihm.

Ihm ist nicht klar, warum das so ist. Er versteht auch nicht alles, was dieses Ding zu ihm sagt. Manchmal jedoch erzählt es ihm einfach Geschichten, oft gruselige, brutale Märchen, in denen es um lebende Häuser geht und um kleine tückische Wesen, die sie bewohnen. In einigen Nächten trägt es ihm nur lange, monotone Gedichte vor, deren Begrifflichkeiten er nicht versteht; doch er versteht den Ausdruck, den die Stimme des Raubtiers dabei hat.
Manchmal gibt ihm das Ding auch Anweisungen; etwa den Auftrag, die Tür zum Dach wieder aufzuschließen. Er befolgt die Anweisungen immer sofort. Danach erzählt es ihm oft eine neue Geschichte. Die Stimme in seinem Kopf lässt nie einen Zweifel daran, dass er nichts bedeutet; er und das Tier werden nie Freunde sein, aber von Freundschaft hat er nie viel gehalten. Das Ding in seinen Träumen ist viel mächtiger und stärker als er, auch das versteht er. Aber das Tier braucht ihn für einige Tätigkeiten, und das macht ihn zu einem mächtigen Mann. Er hat sich noch nie im Leben so mächtig gefühlt, bevor er zu der Ratte wurde. Ratte, so nennt ihn das Ding in seinen Träumen.

Inzwischen kann er das Tier auch tagsüber hören, wenn er wieder durch die Korridore schleicht, leise und verstohlen; die Lüfter sind überall in dem Gebäude, die Stimme ist allgegenwärtig. Manchmal bleibt er dann stehen, meist unter einem der Lüftungsrohre, und lauscht der Stimme.
Ihm ist klar geworden, dass dieses Tier in den Mauern stecken muss, oder dahinter; mehr weiß er nicht, aber mehr will er auch nicht wissen. Ihm reicht die Gewissheit der Stimme in seinem Kopf. Er findet es nicht mehr falsch, wenn die Menschen vom Dach stürzen: Das Tier hat Recht, denkt er. Die anderen gehören nicht hierher. Diese Welt gehört nur dem Raubtier – und ihm.