- bad_indicator - http://badindicator.de/blog -

Alles, Wort, Welt

Von der alten Stadt Ur heißt es, sie hätte die erste Bibliothek der Menschen beheimatet. Der Überlieferung nach enthielt sie das gesamte Wissen der damaligen Welt. Natürlich ist Wissen ein relativer Begriff, und nicht alles, was man damals als Wissen bezeichnete, würde auch heute noch als solches angesehen werden, schließlich waren die Menschen damals mehr von Mystik und dem Magischen gefesselt als heute.
Und so gab es in dieser Bibliothek, so die Legende, auch ein Buch, dessen Inhalt von niemandem, selbst nicht von den Herrschern von Ur, gelesen werden durfte; Sein Titel soll in moderner Umschrift Ank’Pashâ gelautet haben, aber auch das ist nicht sicher. Mancher, der später lebte, spricht auch nur von dem ’namenlosen Buch‘. Der Begriff Ank’Pashâ ist schwer in eine moderne Sprache zu übersetzen, und auch das mag ein Grund dafür sein, dass spätere Chronisten diesen Titel ignorierten. Der erste Teil, Ank, meint nach heutiger Lesart wohl Schrift oder Buch, überhaupt jede Art von schriftlicher Aufzeichnung; aufgrund der Kostbarkeit der Materialien machte es zu damaligen Zeiten auch keinen Sinn, dies weiter zu differenzieren. Der zweite Teil, Pashâ, ist schwerer zu übersetzen. Im Groben bedeutet er wohl Welt, Alles oder auch Wort; all das bedeutet dieser eine Begriff. Die Menschen, die in dieser alten Sprache schrieben, setzten für gewöhnlich spezielle Glyphen, um die gerade gemeinte Bedeutung auszuzeichnen, doch bei dem Eigennamen des Buches taten sie es nicht. Das mag zunächst verwirrend erscheinen, da der Titel so wohl kaum irgendeinen Inhalt klar anzudeuten scheint. Und doch ist er in der Tat weise gewählt.
Der Legende nach war das Buch Ank’Pashâ nicht mit vorzeitlicher Tinte geschrieben worden, auch nicht mit einer anderen Flüssigkeit wie Blut oder aufgelöstem Russ. Auch bestanden seine Seiten weder aus Tierhäuten noch aus Papyrus, überhaupt aus nichts Weltlichem.
Die Übersetzung bereitet auch hier wieder Schwierigkeiten, aber dem Mythos folgend könnte man modern sagen, dass die Lettern des Buches mit reinem Sinn auf Seiten aus Geist oder Seele geschrieben worden sein; wer es verfasst haben soll, ist unklar. Manche Autoren behaupten, ein Gott habe es geschrieben und dafür ein Stück seiner Haut und einen Tropfen seines Blutes verwendet. Andere sagen, der erste, der reine Mensch habe es niedergeschrieben als Geschenk an seine niederen Kinder. In jedem Fall sprach man dem Buch daher magische Fähigkeiten zu; was man darin las, das sollte augenblicklich Wirklichkeit werden.
Doch es standen keine profanen Zaubersprüche darin, im Gegenteil. Die Menschen von damals hatten, so jung die Zivilisation auch gewesen sein mochte, mehr Erfahrung mit Gauklern und Schwindlern als viele nach ihnen und hielten solcherlei Spuk für ebenso nebensächlich wie wir; Feuerbeschwörungen, Dämonenvertreibungen, das Wiedererwecken der Toten – all das hatte keinen Platz in dem Buch. Auch war das Buch nicht als Anleitung oder Rezept zu verstehen; es interagierte, wechselwirkte mit dem Leser, ohne ein echtes Eigenleben zu führen – vielleicht ist es besser, stattdessen zu sagen, es habe das Eigenleben eines Spiegels geführt, sofern man diesem ein solches zuspricht. So wird berichtet, dass ein jeder Leser etwas anderes darin fand. Dass es trotz oder gerade wegen des Verbots von Zeit zu Zeit gelesen wurde, erscheint auch den heutigen Menschen logisch. Im Laufe der Zeit sammelte sich eine recht große Anzahl an Berichten über diese geheimen Lesungen, und auch wenn der Großteil davon verloren gegangen ist, so lässt jedoch die Zahl der Verweise auf sie in späteren Schriften erahnen, dass die Gelehrten von damals eine regelrechte Hierarchie der berichteten ‚Begegnungen‘ mit dem Buch entwickelt hatten.
In dem Buch, so heißt es, standen eben keine profanen Zaubersprüchlein, sondern nur die wirklich mächtigen Sätze; die Worte, die auch für uns wie für jeden Menschen Bedeutung haben.

Überliefert ist etwa die Geschichte von Kanaa, dem Hirten. Er war ein einfacher Mann und aufgrund seines Standes nicht besonders hoch angesehen. Dennoch verliebte er sich in Ani, die Tochter eines gut betuchten und privilegierten Bürgers, die ihm schnell ähnliche Gefühle entgegenbrachte.
Als der Vater die heimliche Beziehung zwischen Ani und Kanaa entdeckte, sperrte er Ani ein und ließ Kanaa aus der Stadt verschleppen. Nach seinem Willen sollte Kanaa seiner Tochter nie wieder zu nahe kommen.
Kanaa aber fühlte sich Ani so sehr verbunden, dass er einige Nächte darauf seinen Bewachern entkam und in die Stadt eindrang. Er befreite Ani aus ihrem Hausarrest und erschlug ihren Vater auf der Flucht. Schließlich wurden die beiden von der Stadtwache verfolgt und retteten sich in die Bibliothek. Die beiden wussten keinen Ausweg mehr und so taten sie das einzige, was ihnen noch möglich schien – sie drangen in die verbotenen Bereiche der Bibliothek ein und lasen im Buch Ank’Pashâ.
Es wurde schon erwähnt, dass diesem Buch eine Eigenschaften eines Spiegels zugesprochen wurde. Als die Stadtwache die beiden Liebenden mit dem aufgeschlagenen Buch stellten, da war auf den Seiten des Buches nur ein Satz zu lesen: Nichts wird uns trennen.
Die hinzugerufenen Gelehrten waren es, die diesen Satz überlieferten. Auf ihr Geheiß wurde das Buch wieder geschlossen und an seinen ursprünglichen Platz gestellt.
Doch weder wurde Kanaa für den Mord belangt, noch wurden die beiden für das Lesen von Ank’Pashâ verurteilt; auf beides hätte der Tod gestanden. Man war so beängstigt von der Botschaft des Buches, dass man von diesen Strafen absah; stattdessen verbannte man sie nur aus Ur und nahm ihnen den Schwur ab, nie wieder dergleichen zu tun. Es ist nicht überliefert, wie es ihnen im weiteren erging; eine Quelle berichtet nur, sie hätten ihren Schwur gehalten und seien auch nie wieder zurückgekehrt.

In einer anderen Überlieferung wird die Geschichte von Miraain, der Schönen, erzählt. Sie war nach aktuellem Wissensstand die Tochter eines Hochpriesters von Ur und damit Mitglied der angesehensten Schicht in der Stadt. Neben ihrem Reichtum, der sich auch in vielen anderen Schriften idiomatisch widerspiegelt, war sie für ihre sprichwörtliche Schönheit bekannt. Schon im Alter von zwölf Jahren soll sie von solcher Anmut gewesen sein, dass sich ein Hofdiener ihretwegen das Leben nahmen. In späteren Jahren soll sie nur noch von Frauen betreut und bedient worden sein, da sich kaum noch ein Mann in ihre Nähe wagte; dennoch blieb ihre Schönheit doch immer eng mit dem Tod verknüpft. So verliebten sich etwa zwei Cousins in sie, gerieten über sie in Streit und starben bei einer Auseinandersetzung. Der Legende nach hinterließ diese morbide Verknüpfung tiefe Spuren in der jungen Miraain; so soll von immer größeren Selbstzweifeln geplagt worden sein. Gleichzeitig berichten gerade die späten Quellen von ihrer Arroganz und ihrer Herrschsucht, die selbst vor ihren beiden älteren Schwestern keinen Halt machte. So soll sie etwa für den Tod eines Schwagers gesorgt haben, nachdem dieser sich bei einem Bankett geweigert hatte, Miraain zu bedienen.
Nach dem Tod ihres Vaters übernahm sie faktisch seine Rolle und wurde damit zur zweitmächtigsten Frau von Ur. Ihre Position war dabei nicht ausschließlich durch ihre Herkunft festgelegt; auch half ihr ihre Wirkung auf andere Menschen und ihr Geschick für Hof und Intrige. Manche Autoren bezeichneten sie daher – natürlich erst lang nach ihrem Tod – auch als die ‚Hexe von Ur‘. In jedem Fall blieb Miraain trotz ihrer Macht unzufrieden. Einen Großteil des Reichtums ihres Vaters verwendete sie für Bäder, Kosmetik und ähnliche Dinge, die sie über Hunderte von Kilometer hinweg nach Ur bringen ließ. Denn bei all dem, was sie offenbar erreicht hatte, war Miraain von ihrer eigenen Anmut nie überzeugt, trotz ihrer mythischen Wirkung auf andere.
In den letzten Jahren ihres Lebens in Ur, Miraain muss zu dieser Zeit zwischen 25 und 27 Jahren alt gewesen sein, verdichtete sich das, was wir heute wohl Neurose nennen würden, zu einem fast wahnhaften Drang nach Selbstbestätigung. Miraain heiratete in weniger als drei Jahren sechs Mal; alle ihre Männer, angesehene Handelsleute meist, starben bald nach der Hochzeit. Manche brachten sich um, andere ließ sie ermorden. Als das Kapital ihres Vaters zur Neige ging, nutzte sie all ihr Geschick und all ihre Kontakte, um sich Güter und Gold zu verschaffen. Ihre Schreckensherrschaft über Ur begann schließlich mit einem Mordkomplett an der legitim eingesetzten Fürstenfamilie und währte mehr als zwei Jahre, in denen sie sich immer mehr in die Vorstellung zurückzog, von allen bedroht und verachtet zu werden: Dabei war den Quellen nach ganz Ur immer noch so fasziniert und entzückt von ihr, dass ihre Taten unbeachtet blieben. Doch Miraain reichte das nicht; in ihrer krampfhaften Suche nach der eigenen Schönheit vernichtete sie fast die gesamten Ressourcen der Stadt. Sie erhöhte Steuern, führte neue Abgaben ein, ließ sogar die Gasthäuser schließen. Natürlich machte sich daraufhin Unzufriedenheit breit, aber die Bevölkerung lastete diese Maßnahmen nicht ihr, sondern der Exekutive an.
Schließlich berichtet die Überlieferung davon, dass sich Miraain in einer Winternacht Zugang zum Buch Ank’Pashâ verschaffte. Es ist der einzige dokumentierte Fall, in dem das Buch quasi ‚legitim‘ gelesen wurde; zwar war es auch ihr eigentlich verboten, darin zu lesen, allerdings überredete Miraain kurzerhand die Wachen, sie zu dem Buch zu führen. Auch Miraain soll nur einen einzigen Satz vorgefunden haben, und dieser erscheint vielleicht wenig überraschend: Grob übersetzt lautet er etwa Ich bin hässlich, wobei der Begriff, den wir hier mit ‚hässlich‘ übersetzt haben, auch verdorben (etwa bei Speisen) oder falsch bedeuten kann.
Der Legende soll der Bann, den ihre Schönheit auf die ganze Stadt gewirkt hatte, allein durch die Worte im Ank’Pashâ gebrochen sein. Nachdem ihre Eskorte gelesen hatte, was die schreckensstarre Miraain eigentlich schon gewusst hatte, nahmen sie sie fest. Sie wurde entmachtet und aus der Stadt vertrieben; wenige Wochen später fanden fahrende Händler ihren Leichnam in der Wüste südlich von Ur.

In einigen Schriften, die erst vor wenigen Jahren im heutigen Irak entdeckt wurden, findet sich ein Bericht über eine besondere Passage aus dem Buch Ank’Pashâ; Es ist der Abschnitt ‚Kaleé Ank‘, übersetzt also etwa ‚die letzte(n) Seite(n)‘. Dieser Ausdruck ist nicht wörtlich, sondern eher metaphorisch zu verstehen. Dem Wesen des Buchs nach gab es darin weder erste noch letzte Seiten: Es interagierte mit dem Leser, und dieser las darin nur, was er lesen sollte, wenigstens der Legende nach. Zu damaligen Zeiten wurden Bücher genau wie Erzählungen und Geschichten im Allgemeinen als sehr wertvoll gesehen, sowohl in materieller als auch in ideeler Hinsicht; der wichtigste und geachtetste Teil einer Geschichte aber war, damals wie heute, ihr Ende, und so ist der Titel dieser Passage eher in dieser Hinsicht zu verstehen; als Ende der Geschichten. Die Überlieferung, die von Kaleé Ank berichtet, lässt viele Fragen offen; insbesondere müssen sich auch schon zeitgenössische Leser gefragt haben, wie die Verfasser denn an die Informationen über diese letzten Zeilen gelangt sein können.
In den Schriften heißt es, es habe einen Abschnitt im Buch Ank’Pashâ gegeben (nach anderer Übersetzung: eine „Spiegelung“), dessen Bedeutung die aller anderen bei weitem überwogen habe.

Nur unter ganz bestimmten Bedingungen sei dieser Abschnitt Menschen erschienen. Mehrmals aber sollen Verzweifelte auf der Suche nach ihm in die Bibliothek eingedrungen sein; keiner von ihnen soll es je geschafft habt, ihn laut zu Ende zu lesen, und in der Überlieferung kommt diesem Umstand entscheidende Bedeutung zu. So wird von dem jungen Ikoraa berichtet, der von späteren Schreibern nur noch mit seinem Beinamen ‚der Unglückliche‘ bezeichnet wird; Ikoraa soll der Sohn eines relativ wohlhabenden Händlers gewesen sein, der seine Ländereien in der Hochebene nördlich von Ur verkauft hatte und sein Glück als fahrender Händler gemacht hatte. Das war nichts für Ikoraa; er hielt das Geschäft seines Vaters für unehrenhaft und sehnte sich lange danach, wieder die Felder zu bestellen. Er wird dennoch als guter und folgsamer Sohn gelobt; nachdem er mit 14 Jahren seine Volljährigkeit erreicht hatte, lief er keineswegs davon, sondern half seinem altersgeschwächten Vater mit den Geschäften. Es vergingen 16 Jahre, bis sein Vater verstarb: Auf dem Sterbebett soll er Ikoraa die Erlaubnis gegeben haben, das Geschäft des fahrenden Händlers aufzugeben und die Felder, die er so liebte, zurückzukaufen. Ausgestattet mit dem relativen Reichtum des Vaters tat Ikoraa dies auch; es war üppiges, fruchtbares Land, auf dem jede Art von Frucht gut gedeihte, und Ikoraa kaufte wesentlich mehr Land, als sein Vater früher besessen hatte. Mit 15 war er, wie damals üblich, mit einer jungen Frau verheiratet worden. Die beiden waren ein harmonisches Paar und bekamen in dem Jahr, als der Vater starb, ihr drittes Kind. Ikoraa ließ für die Familie ein Haus auf dem neuen Grund errichten und begann, wie er es sich schon lange gewünscht hatte, wieder als Bauer zu arbeiten. Der Legende nach jedoch blieb die Idylle nur von kurzer Dauer; es war das Jahr vor den ‚Jak’Isaa‘, den ’schrecklichen Jahren‘, als Ikoraa sein Haus bezog. Die schrecklichen Jahre tauchen in vielerlei Berichten über die damalige Zeit auf und werden von Historikern heute meist als eine lange Dürreperiode interpretiert, denen kleinere politische, demografische und militärische Verwerfungen folgten. Dieser speziellen Überlieferung nach jedenfalls folgte dem Jahr von Ikoraas Ankunft auf dem väterlichen Boden das erste Jahr der Dürre, und darauf das zweite und noch zwei weitere. Im zweiten Jahr vernichtete ein von Vagabunden gelegtes Feuer die wenigen Feldpflanzen, die Ikoraas Familie noch anbauen konnte. Im Jahr darauf begannen sie zu hungern, weil das wenige, das ihnen vom Erbe geblieben war, aufgebraucht war. Im vierten Jahr starben die beiden jüngeren Kinder. Ikoraas Frau starb, so heißt es, bald danach nicht etwa am Hunger, sondern am Kummer. Zuletzt, gegen Ende der Dürrezeit, überfielen Banditen den Wohnsitz; natürlich fanden sie nichts mehr von wert, und erzürnt darüber zündeten sie das Haus an. Ikoraa, der keine soldatische Ausbildung hatte und nie in einen Kampf verwickelt worden war, lief außer sich vor Panik in die nächtliche Wüste hinaus. Erst im Morgengrauen kehrte er zu den Überresten des Hauses zurück und fand seinen ältesten Sohn – verbrannt in seinem Bett. Es ist nicht untypisch für derart alte Schriften, dass sie den Tod des Sohnes als Strafe der Götter für Ikoraas Feigheit deuten; in diesem speziellen Fall lässt sich einer Anmerkung des Verfassers aber entnehmen, dass man es offenbar zumindest für eine ungebührlich hohe Strafe hielt. Geschwächt von dem nächtlichen Lauf durch die Wüste und über alle Maßen verzweifelt über den Tod des Sohnes soll sich Ikoraa, die Götter verfluchend, auf den Boden geworfen haben, um zu sterben. Den Schriften nach soll Ikoraa dort vier Tage lang gelegen haben; vier Tage, in denen er in der Sonne lag und weder trank noch aß. Doch er starb nicht; zwar mehrten sich Hunger und Durst auf schmerzhafte Weise, aber er blieb am Leben. Spätestens an dieser Stelle des Berichts wird deutlich, dass der oder die Verfasser das Schicksal dieses Mannes, welches natürlich der Lenkung der Götter zugeschrieben wurde, mit ungewöhnlich viel Mitgefühl betrachteten; diese Haltung ändert sich auch im Weiteren nicht, auch nicht, als Ikoraa, krank vor Hass auf die Götter, die ihm dies angetan haben sollen, nach Ur reist. Da sein Vater mit vielen, oft gebildeten Menschen verkehrte, wusste er für einen Landmenschen recht viel von Ur und auch vom Ank’Pashâ. Dennoch suchte er wohl nicht bewusst nach den ‚letzten Seiten‘, sondern eher nach einer Waffe oder auch nur nach einem Ausweg aus seiner hoffnungslosen Situation. Auch er drang in die Bibliothek ein und fand das Buch; warum dies immer wieder gelungen sein soll, scheint heute unplausibel, damaligen Gelehrten aber scheint es nicht irritiert zu haben. Womöglich war das Gleichgewicht aus Neugier und Sicherheitsbedürfnis in diesen Zeiten ein anderes, oder man wagte es einfach nicht, ein so mächtiges Schriftstück ganz und gar wegzuschließen. Als Ikoraa das Buch aufschlug, erschienen ihm die Kaleé Ank; wir verzichten an dieser Stelle auf eine Zusammenfassung und geben direkt die Schrift wieder, die von Ikoraas Reise berichtet (kanonische Übersetzung);

Wer aber diese Zeilen liest, diese wenigen, der ist am Ende aller Wege,
und nicht einmal die Sonne glüht wie sein Zorn,
und nicht einmal das Meer löscht seine Pein.

Fallen wird die Welt vom Klang seiner Worte,

Nutzlos Speere, Schilde, Mauern,
Nutzlos selbst der Götter Schutz,

Fallen wird die Welt vom Klang seiner Worte.

[…]

Mächtiger als alle Sätze aber ist dieser;
Es gibt keine Hoffnung,
denn wer ihn verinnerlicht (auch: gelesen/gesprochen) hat,
dem ist alles möglich, weil nichts mehr Bedeutung hat.

Es ist unklar, inwiefern die Überlieferung den Text, der als Kaleé Ank bezeichnet wird, an dieser Stelle wiedergibt; nach heutiger Lesart bestand dieser eigentlich nur aus einem Satz. Es ist wahrscheinlich, dass die Verfasser des Berichts von Ikoraas Reise den obigen Abschnitt als Ausschmückung und Erläuterung angefügt haben, auch wenn sie ihn nicht klar von dem getrennt haben, was Ikoraa tatsächlich gelesen haben soll. Eindeutig scheint dagegen zu sein, dass die damaligen Menschen oder zumindest der Kreis um die Verfasser des Berichts von der Vorstellung beherrscht waren, dass das Lesen des entsprechenden Abschnitts im Ank’Pashâ das Ende der Welt einläuten würde; in einigen, scheinbar ’nachgereichten‘ Fragmenten der Schrift ist vom ‚Brennen der Welten‘ Tore‘ und vom ‚Ende aller Grenzen‘ die Rede, ebenso wie vom ‚Vergehen der Götter‘.
Auch wenn die Überlieferung im weiteren leider nur noch fragmentarisch ist und sich widerspricht, teils wohl, weil mehrere Autoren ihre Version der Ereignisse parallel aufgeschrieben haben, kann man davon ausgehen, dass Ikoraa die Kaleé Ank nicht zu Ende las. Die Wachen, die das Buch beschützen sollten, stellten ihn und töteten ihn, bevor er die letzten Worten laut sprechen konnten; unklar ist nur, ob er sich selbst in die Speere stürzte oder nicht.

Der Verbleib des historischen Buches Ank’Pasha ist bis heute ungeklärt. Archäologen führen zur Zeit Ausgrabungen in der Nähe von Bagdad durch, bei denen sie u.a. das Buch oder Hinweise darauf finden wollen. In den bisher gefundenen Aufzeichnungen findet sich nur ein Vermerk dazu. Das Dokument stammt aus der Zeit nach dem Fall von Ur, also aus jenen Jahren, in denen ein Reitervolk aus dem Westen Ur eroberte und die Kultur ihrer Bewohner genauso zerstörte wie ihre wirtschaftliche Grundlage. Es war vor allem ein großer Mentalitätsunterschied, der zu diesen Verwüstungen beitrug, ein Unterschied, der sich vor allem in der simplen und kaum kultivierten Sprache der Eroberer niederschlug.
Die Schrift spricht an einer Stelle von ‚dem Buch‘, was nach Meinung vieler Historiker ein klarer Verweis auf Ank’Pasha ist. In der kanonischen Übersetzung lautet der Text:

Die Männer aus dem Westen kamen an die Bibliothek; ihre Rösser waren groß und schwarz, und ihnen folgte das Feuer. Was ist so wichtig an diesem Haus? fragten sie den Hüter der Bücher und er erklärte es ihnen. Als sie von dem Buch hörten, verlangten sie es zu sehen. Doch fanden sie in dem Buch nur leere Seiten, und ihr Spott und ihr Hohn waren laut.
Seht ihr diesen faulen Zauber, riefen sie unter Gelächter, ein Buch, ein leeres Buch.
Sie blendeten den Hüter der Bücher, auf dass er nie wieder lesen würde. Dann nahmen sie das Buch und schickten einen der ihren damit hinaus, es zu verbrennen.