- bad_indicator - http://badindicator.de/blog -

Avatar

Als ich vier Jahre alt war, beherrschte ich bereits zwei Sprachen flüssig, da meine Eltern großen Wert auf meine frühe Ausbildung legten.
Sport betrieb ich, sobald ich laufen konnte: Ich spielte Fußball, Handball, Basketball, ich joggte, mit zehn begann ich Gewichte zu heben.
Auch meine musische Ausbildung begann früh. Mit sieben lernte ich Geige und Klavier von einem alten, russischen Meister. Er war streng, aber ich tat alles, was er verlangte.
In etwa dem gleichen Alter bekam ich meinen ersten Privatdozenten, der mir neben einer dritten Sprache auch Kenntnisse der Naturwissenschaften, der Philosophie, Psychologie und des Wirtschaftswesens vermittelte. Es war nicht einfach, aber ich lernte dennoch schnell, viel schneller als andere Kinder meines Alters.
Als ich 14 wurde, hatte ich bereits mein erstes Studium begonnen; ich legte die Prüfung einen Tag vor meinem 17. Geburtstag ab. Direkt danach konzentrierte ich mich zum Ausgleich auf den Leistungssport. Für vier Monate trainierte ich acht statt zwei Stunden am Tag: Dabei benötigte ich keinen Trainer mehr, ich war längst mein eigener geworden.
Abends übte ich meine sozialen Fähigkeiten: ich ging zu Bällen und Banketten, ich traf mich mit vielerlei Arten von Menschen. Auch Proleten waren darunter: mein letzter Sozialcoach lehrte mich, dass auch diese Art von Kontakt Aufmerksamkeit und Übung verlange. Ich tat es konzentriert und durchaus interessiert, und das Training schärfte in der Tat meinen Sinn für das so genannte Menschliche. Ich schloss Freundschaften, ich fand eine angemessene Partnerin. Ich interagierte, bis mir das Behandeln von Menschen ebenso ins Blut überging wie der Stabhochsprung oder die Platonischen Dialoge.
Heute bin ich 20 Jahre alt. Ich spreche fünf Sprachen, ich laufe die hundert Meter in weniger als zehn Sekunden. Ich habe Dutzende von Urkunden, Pokalen und Medaillen in gläsernen Vitrinen, die die Schnelligkeit meiner Auffassungsgabe, die Stärke meines Körpers und die Unabänderlichkeit meines Willens bezeugen. Ich habe drei Studiengänge abgeschlossen und bin auf dem Gebiet der Philosophie ebenso firm wie auf dem der Naturwissenschaften oder der Theologie; meine Reden sind beliebt, meine Diskussionsbeiträge gefürchtet. Die meisten Anstrengungen anderer verblassen, ganz ohne Arroganz, vor meiner Leistungsfähigkeit, und manchmal bemerke ich sie nicht einmal mehr.
Dabei ist der Neid der anderen unbegründet: es war nicht einfach, so zu werden, wie ich es jetzt bin.
Ich musste lernen, meinen Körper zu hassen, ihn vernichten zu wollen, um dann diesen wunderbaren, anderen Körper aus der Asche wachsen zu lassen, den ich nun lieben darf.
Ich musste lernen, meinen Geist zu verachten, ihn stumm zu machen, um ihn mit all den perfekten Ideen neu zu füllen, die die großen Denker und Dichter einst hatten, bis schließlich ein neuer Sinn, ein neuer Geist meine Welt ausfüllte.
Nun bin ich, was ich sein soll; makellos und rein. Wer mich kennt, wer ehrlich zu sich selbst ist und meine Leistungen nicht schmähen will, der muss zugeben, dass ich im Rahmen dessen, was dem Menschen möglich ist, perfekt bin.
ich weiß, dass ich im Zenit meiner Leistungsfähigkeit stehe. Ein paar Jahre noch, dann werden die Jahre ihren Tribut fordern. Auch das werde ich stoisch hinnehmen: meine sittliche Ausbildung ist abgeschlossen und vollständig..
Und doch bewegt mich eine Frage, keine die Unvermeidlichkeit des Alterungsprozesses betreffend, sondern eine andere, die sich mir im Hier und Jetzt stellt:
Als ich jung war, da suchte ich die Herausforderung, weil meine Eltern mich dazu anspornten, so sagt es zumindest die Psychologie. Später, als ich diese Interessen als eigene Vorstellung internalisiert hatte, strebte ich um meiner Selbst willen nach immer mehr: Daran kann ich mich erinnern. Selbst in der Pubertät, die unter Entwicklungspsychologen als schwerste Phase der Undiszipliniertheit gilt, mussten mich meine Eltern nur selten züchtigen. Ich war es, der aus sich selbst heraus den Kant las, statt den Mädchen nachzuschauen: der trainierte, statt mit Gleichaltrigen zu raufen; der Klaiver spielte, anstatt Bars zu besuchen.
All dies tat ich ohne Zweifel oder Widerstand. Niemand kann mir vorwerfen, ich hätte mich nicht voll und ganz den ehernen Gesetzen der Selbstkontrolle ergeben, um mein Ziel zu erreichen, eben das Ziel, besser zu werden, immer noch besser zu werden.
Und so habe ich im stetigen Voranschreiten wirklich einen Mensch erschaffen, den viele für ein Kunstwerk halten. Ich bin dem Himmel näher als der Erde, schrieb einer einst über mich; anderen, vielleicht euch, diene ich als Vorbild, als Idol.
Und so will ich nicht undankbar erscheinen, wenn ich mich frage, wozu ich dies alles tat. Mein ganzes Leben lang schien es klar zu sein, doch jetzt weiß ich es nicht mehr. Dabei ist es kein Fehler des Gedächtnisses; ich habe es nicht vergessen. Es ist so, als hätte ich mein Leben lang auf den Gipfel eines Berges hinzugestrebt, doch jetzt, wo ich auf diesem Gipfel bin, stellt mich das nicht zufrieden. Mein Weg war weit und beschwerlich, doch ich bin stets vorangeschritten und habe dabei den Ort, an dem ich jetzt bin, die Art und Weise, auf die dieser Mensch, der ich bin, jetzt existiert, immer ins Auge gefasst. Doch jetzt, wo ich dieses Wesen erschaffen habe, wo es nun mehr nicht nur am Horizont der Vorstellung existiert, sondern mir vielmehr in Fleisch und Blut im Spiegel erscheint, da erscheint mir der Weg, den ich hinter mich gebracht habe, kaum noch lohnenswert. Ich bin auf dem Gipfel, doch über mir klafft nicht der Himmel, sondern das Vakuum, der leere Raum zwischen den Sternen. Ich kenne selbstredend die Theorien über die Unstetigkeit des Menschen, über seine Neigung, niemals Ruhe zu finden. Aber das ist es nicht, was mich beschäftigt: es ist, so denke ich, mehr das Missverhältnis zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Ich weiß, welchen Zauber die Vorstellung hat, in einer Weise perfekt zu sein, effizient, funktional; einen beträchtlichen Teil meines Lebens trachtete ich danach, dies zu erreichen. Doch, und das ist es wohl, was mich zu diesen Zeilen treibt, der Zauber verfliegt, wenn man ihn im Spiegel betrachtet. Alles, was vorher mythisch verklärte Vorstellung war, ist am Ende der Reise doch nur Fleisch und Knochen; sehe ich in den Spiegel, so sehe ich kein Wunder, wie ihr es manchmal in mir zu sehen scheint. Ich sehe eine Maschine, eine effiziente, eine funktionale, eine perfekte Maschine vielleicht, aber eben doch nur eine Maschine, geschaffen durch Ausbildung und Training. Ich kann und will euch nicht der Antriebe berauben, die das Bild in eurer Vorstellung – und mein Bild – in euch wecken. Aber beherzigt meinen Rat; seid achtsam mit euren verklärenden Wünschen. Perfektion ist eine Hure: Glaubt ihren Lügen nicht.