- bad_indicator - http://badindicator.de/blog -

Die Große Schande (1)

Liebe Leser, ich habe nach langer Arbeit einen sehr schönen Text fertiggestellt. Aufgrund seiner Länge habe ich beschlossen, ihn zunächst stückweise zu veröffentlichen. Jeden Tag um 10 Uhr erscheint ein neuer Teil. Viel Spaß beim Lesen.

Zeitindex +0

Was würde geschehen, wenn die Welt morgen aufhören würde zu sein?
Was wäre mit den Menschen, wenn sie davon wüssten?
Wie würden sie sich verhalten? Wären sie wie Menschen? Wären sie wie Tiere?

Auf all diese Fragen gibt es eine Antwort, die man euch lange vorenthalten hat. Vielleicht ist es eine Art von Verrat, sie euch zu geben; vielleicht ist es falsch, den Schleier des Nichtwissens von euch zu nehmen. Nur die Geschichte wird ein solches Urteil fällen können – doch kann es ein solches Urteil noch geben, wenn es nicht die wahrhaftige Geschichte ist, die dort richtet, sondern eine erfundene, eine erlogene Geschichte?

Aus der Zeit des Anfangs ist nicht mehr viel erhalten. Bei der Suche nach Quellen konnte ich den genauen Ursprung, die genaue Ursache für das Ereignis nicht ausmachen. Klar ist, dass es im September 2088 erstmals von den Medien aufgegriffen wurde, aber da war die Anlage schon zerstört worden. Auch das Phänomen selbst konnte ich bei meinen Recherchen nicht eindeutig identifizieren; die meisten Aufzeichnungen sind schon gelöscht. Es muss sich um eine Art Artefakt gehandelt haben, nicht direkt um eine Singularität, aber um etwas Ähnliches; vielleicht ein unwahrscheinlicher Übergang oder eine lokale C-Streckung. Die Daten geben nicht mehr her. Wichtig ist nur, dass es rein physikalisches Objekt war; das wurde mehrmals empirisch bestätigt. Nach den Messungen hatte es die vorausberechnete Abstrahlcharakteristik eines Nullstrahlers, kaum gefährlich, wenn man sich nicht in direkter Nähe befand.

Zeitindex +1

In den ersten Tagen wussten wir genauso wenig, was vorging, wie die Journalisten; im Fernsehen sah man immer wieder diesen dunklen Fleck mitten in einem Rapsfeld irgendwo in den Alpen; der Fleck reflektierte zum Teil die dunkle Erde, aber an einigen Stellen auch den Raps, und ich erinnere mich, in einer Liveschaltung das Wachstum dieses Flecks verfolgt zu haben; ich sah es mit meiner Tochter zusammen. Es war vielleicht die Spiegelung des gelben Rapses, die eine Panik noch verhinderte. Irgendwie schien es nicht gefährlich, dieses kleine Ding im Raps. Dennoch war klar, das etwas sehr Beunruhigendes vorging, zumal man zusehen konnte, wie das Ding langsam wuchs. Trotzdem verschwand es gegen Mitte September aus dem Programm, vermutlich hatten die Regierungen einen Informationsstop verhängt.
Ich weiß nicht mehr, was zwischen Mitte September und Anfang Oktober geschah, aber das ist nicht ungewöhnlich. Es muss Alltag gewesen sein; von dem ist mir nicht viel geblieben aus dieser Zeit.
Am 3. Oktober wurde das Ding schlagartig größer. Es muss vormittags geschehen sein, oder aber erst gegen Mittag. Der Durchmesser vergrößerte sich wohl von drei Metern auf 100 Kilometer, so sagte man es zumindest in den Nachrichten. Die meisten Berichterstatter in der Schweiz wurden von dem Ding einfach verschluckt, in Sekunden oder Minuten, daher gab es nur noch Satellitenbilder von dem Objekt. Aus dem Orbit sah es aus wie eine dunkle Blume; die Sterne funkelten darin, und der Kommentator wurde nicht müde, auf den silbernen Fleck hinzuweisen, der die Spiegelung des Satelliten zu sein schien.

Zeitindex +2

Wenn ich daran zurückdenke, ist es seltsam, was mir erhalten geblieben sind; das Ding verschwand von da an nicht mehr aus dem Fernsehen, und ich weiß noch genau, was die Fernsehsprecher berichteten, immer und immer wieder. Dutzende von Wissenschaftler wurden interviewt, sie alle sagten immer nur das gleiche. Eine präzise, physikalische Antwort lieferten sie nie, aber das mag dem Publikum geschuldet gewesen sein. Irgendwann muss ich im Netz einige theoretische Arbeiten dazu gelesen haben, die man hektisch zusammengestückelt hatte, aber daran erinnere ich nicht mehr genau. Daher kann ich auch nicht sagen, was genau dieses Ding war. Geblieben sind mir vor allem diese Bilder auf dem Bildschirm. Die aus dem Rover, den man an das Loch heranfuhr; die Spiegelung des Rovers in einem silbrigen Nichts, das sich langsam ausdehnte. Die Metallstange, die man in die Anomalie schob, um sie entsprechend verkürzt und mit glühendem Ende wieder herauszuziehen. Die Aufnahmen von den startenden Interkontinentalraketen, ihr wirkungsloses Eindringen ins Ziel.
Ich denke, es dauerte etwa ein oder zwei Wochen, bis die Prognosen kamen. Ich erinnere mich an drei oder vier Interviews mit Theoretikern, die plötzlich durch Bildstörungen beendet wurden; ich nehme an, die Regierungen oder das Militär haben die Ausstrahlung unterbunden. Letztlich war das egal; einige Sender gingen nach diesen erzwungenen Störungen nie wieder auf Sendung, auf anderen konnte man später die kalkweißen Gesichter der Reporter sehen, die stotternd nach einer Entschuldigung suchten. Es war klar, dass es schlimm um uns alle stand, und das auch ganz ohne wissenschaftliche Erklärung. Zu diesem Zeitpunkt gab es die ersten Unruhen, meist in den größeren Städten. Einige Endzeitsekten begingen kollektiven Selbstmord, wenn die Armee sie nicht daran hinderte. Im Großen und Ganzen jedoch blieb es relativ ruhig; Gewaltausbrüche wurden rigoros niedergeschlagen. Das Fernsehen zeigte zwischen Nachrichten und Satellitenbild immer häufiger Gottesdienste oder Andachten; einmal habe ich sogar eine Live-Übertragung aus einer Moschee gesehen. Auch in meiner Gegend gingen immer mehr Menschen in die Kirche. Vielleicht war ich auch da, einige Male, das ist möglich, mit Gewissheit kann ich es nicht sagen.
Schließlich, es muss Mitte Oktober sein, wurde auf allen Sendern gleichzeitig der Wortlaut eines Papiers verlesen, auf dass sich die nationalen Wissenschaftsräte geeinigt hatte; ich weiß nicht, warum die Regierung es zuließ, vermutlich warum sie zu der Überzeugung gelangt, dass alle das Recht hätten, es zu erfahren. Mir ist nicht bekannt, wie sie zu diesem Entschluss gelangten; ich kann ihn dennoch gut verstehen.

Zeitindex +3

Der Bericht hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf, er nannte Daten. Jeder Mensch, den damals lebte, muss den Wortlaut noch genau in Erinnerung haben; Unsere Berechnungen hinsichtlich der Entwicklung der Störung wurden auf nationaler und auch auf internationaler Ebene hundertfach wiederholt und mehrfach verglichen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Radius des Objekts mit einer mittleren Geschwindigkeit von 50m pro Tag wachsen wird. Weiterhin ist unstrittig, dass nach der sprunghaften Expansion, die wir schon erlebt haben, weitere folgen werden. Es ist uns uns möglich gewesen, diese Sprünge exakt zu berechnen. Am 1. November wird es in den Morgenstunden auf einen Radius von etwa 743,25 Kilometer plus minus drei Meter anwachsen. Am 18. November wird es gegen 22:00 Uhr auf einen Radius von 11343,34 Kilometern plus minus zwei Meter anwachsen. Damit wird die Anomalie die gesamte Erde einschließen. Die Chance, dass nach diesem Zeitpunkt noch irgendeine Art von Leben auf der Erde existiert, ist Null.
Nachdem ich diese Worte zum ersten Mal gehört hatte, sah ich herüber zu meiner Frau. Sie hielt unsere Tochter im Arm. Beide weinten; das ist der letzte Moment mit ihnen, der mir im Gedächtnis geblieben ist.
Ich weiß nicht, warum sie das Wort Weltuntergang nicht verwendeten, auch nicht Apokalypse, nicht Armageddon. Nach der Verlesung jedenfalls waren die Fernsehsender voll von diesen Worten, zumindest, solange sie noch arbeiteten. Eigentlich war jedes Gespräch voll von diesen Begriffen und vor allem von diesem Gedanken.
Natürlich gab es unmittelbar danach große Unruhen; Buenos Aires brannte, Tokio. New Orleans. Einige europäische Städte fielen ebenfalls in den ersten Tagen nach der Botschaft. Was in Zentral- und Ostasien geschah, kann niemand mehr genau sagen, die Chinesen kappten alle Verbindungen zum Ausland und es sind zu wenige Menschen übrig geblieben, die man heute noch fragen könnte. Das Militär zog sich aus den Unruhegebieten zurück, zumindest war das die Aussage der wenigen verbliebenen Fernseh- und Radiosender. Dennoch herrschte eine doch recht gefasste Stimmung. Soziologen und Psychologen meiner Generation wussten nie, warum das so war; einige schoben es auf eine Art retardiertes Moment der menschlichen Psyche, andere verwiesen auf lang tradierte, äußerst stabile gesellschaftliche Systeme und meinten damit vor allem die Kirchen.
In der Tat waren die Kirchen in diesen Tagen voll mit Menschen, ich bin mir sicher, ich war auch einer von denen, die sich dorthin flüchteten. Andere zogen sich in ihre eigenen Vorstellungen zurück; in die von einem Jenseits, in die von einer letztendlichen Gerechtigkeit, die die Menschheit nun traf. Wieder andere hielten ihre politischen Botschaften aufrecht, manchmal sah man sie noch im Fernsehen. Sie sprachen vom Frieden; oder von der Würde des Menschen, die selbst im Angesicht des Untergangs nicht verloren ging. Und tatsächlich verlief sogar die Flucht der Millionen Mitteleuropäer nach Westen oder Osten recht ruhig ab.
Dann, es muss in den letzten Tagen des Oktobers gewesen, leerten sich die Kirchen wieder. Niemand weiß, woran das lag; die Wissenschaftler haben auch hierzu ihre Theorien, aber keine klingt in meinen Ohren plausibel. Ich weiß nur, dass der Fernseher plötzlich nur leere Kirchen zeigte.
Irgendwann am Morgen des 1. Novembers hörte ich ein lautes Geräusch; ich saß auf der Terrasse, niemand von uns hatte schlafen können. Es war ein Geräusch wie das eines Autos, das scharf bremste, nur viel durchdringender und lauter. Ich erinnere mich, wie ich nach Norden sah; es war noch dunkel, aber ich konnte das silberne Glänzen des Lochs erkennen. Mitteleuropa war verschwunden.

Fortsetzung folgt.