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Die Große Schande (3)

Zeitindex +7

Es dauerte etwa vier oder vielleicht sechs Wochen, bis die Infrastruktur in Süditalien wieder in Betrieb genommen wurde. In anderen Gebieten der Welt mag es etwas schneller gegangen sein, aber für mindestens zwei Wochen waren wohl alle damit beschäftigt, einen fast dreiwöchigen Rausch auszuschlafen. Es ist unbekannt, wie viele Menschen sich während dieser Zeit noch das Leben nahmen und wie viele verhungerten oder verdursteten. Es scheint lediglich klar zu sein, dass ihre Zahl im Vergleich zu der der bereits Gestorbenen gering war. Meine Erinnerung setzt erst in Tropea wieder ein. Möglicherweise bin in den ganzen Weg dorthin gelaufen, ich weiß es nicht; es spielt für diesen Bericht auch nur eine untergeordnete Rolle. Als ich in Tropea zu mir kam, war die Armee dort bereits dabei, die Kontrolle zu übernehmen und wenigstens die Trinkwasserversorgung wiederherzustellen. Es waren nicht viele Soldaten, aber wir folgten ihren Befehlen. Im Verlauf des Dezembers konnten wir die Grundversorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln größtenteils wiederherstellen. Wir hoben auch Massengräber aus, verbrannten und verscharrten die Toten: Allein in Tropea müssen es weit über 2000 Gräber gewesen sein. Wir sprachen nicht über das, was geschehen war. Ich weiß nicht, wie es an anderen Orten war, aber die wenigen Menschen, mit denen ich darüber sprechen konnte, berichteten Ähnliches. Niemand stellte Fragen, weil niemand Antworten hören wollte.
Ende Januar 2089 trat erstmals die Generaladministration zusammen, ich erfuhr davon aus dem Radio. Alles, was von den nationalen Regierungen noch übrig geblieben war, sammelte sich unter diesem Begriff in London. Die Verhandlungen über eine neue, übernationale Regierung dauerten fast ein halbes Jahr und verliefen parallel zu den Wiederaufbaumaßnahmen, die sich bald auch auf die mediale Neuvernetzung der Welt richteten.

Zeitindex +8

Die ersten Bilder aus Mitteleuropa sah ich kurz nach meiner Rückkehr nach San Bartolomeo; das Haus meiner Familie war noch intakt, und ich fand sogar den Fernseher funktionstüchtig vor. Kamerateams hatten sich mit Jeeps von Süden aus auf den Weg nach Zentraleuropa gemacht, um die Zustände festzuhalten. Wie schon die Berechnungen der Astrophysiker es nahegelegt hatten, war das Gebiet nicht einfach verschwunden. Das kreisrunde Areal mit einem Durchmesser von knapp 1500 Kilometern hatte zwar an der Oberfläche viel Masse verloren, insgesamt lag es aber im Schnitt nur einen Kilometer tiefer als das Umland. Das offenliegende Gestein war größtenteils leicht verstrahlt und deformiert, aber es war noch da. So sehr ich mich auch bemüht habe, ich konnte keine Fotografie der Ebene von damals finden; sie sind scheinbar schon alle zerstört worden. Ihr kennt die Ebene, von der ich spreche, vermutlich unter dem Namen Marquez-Rift, auch wenn die ursprüngliche Form und Größe nicht mehr zu erkennen ist.
Während der Wiederaufbau voranschritt, kam es im April zu einer ersten militärischen Krise im Mittleren Osten; die ehemaligen Machthaber weigerten sich, der Generaladministration beizutreten.
Ich  richtete mich wieder in San Bartolomeo ein und kontaktierte die Arbeitskollegen, die überlebt hatten: schließlich musste ich meinen Lebensunterhalt sichern. Im Mai arbeitete ich wieder als technischer Assistent für ein Büro des ehemaligen Innenministeriums.
Das nächste Jahr über, also vom Mai 89 bis zum Mai 90, arbeitete ich sehr viel. Der Wiederaufbau war das größte Projekt in der Geschichte der Menschheit. Viele der qualifizierten Arbeitskräfte waren tot, viele technische Einrichtungen zerstört, und zudem gab es immer wieder militärische Konflikte im Zusammenhang mit der Generaladministration, vor allem in Asien und Osteuropa. Aufgrund der leichten Aufstiegschancen erreichte ich schnell eine Position, von der aus ich Zugriff auf die Daten des ehemaligen italienischen Staates hatte. Ein Großteil der Erkenntnisse, die ich hier zusammengetragen habe, stammen aus dieser Quelle.

Zeitindex +9

Es muss absolut unverständlich sein, wie wir dies alles tun konnten – wie wir ignorieren konnten, was die meisten von uns getan hatten. Wie wir die Große Schande ignorieren konnten. In diesen schrecklichen Wochen haben wir Menschen gezeigt, wozu wir fähig sind; wir haben alles Menschliche vergessen, einfach vergessen, und danach konnten wir uns nicht einmal daran erinnern. Die Frage quält auch mich; warum konnten wir einfach weiterleben?
Auch hierzu gibt es keinerlei Untersuchungen mehr, sie sind alle vernichtet worden, ich kann daher nur für mich und die Menschen sprechen, die mir davon erzählt haben, Vermutungen aufstellen. Für einige Zeit, sagen wir zwei Jahre oder auch drei, verlor ich wirklich kaum einen Gedanken an die Geschehnisse von 89. Manchmal wachte ich nachts schreiend auf, ich wurde manchmal auch von Albträumen geplagt, aber am Tage dachte ich kaum daran. Ich arbeitete in dieser Zeit kaum weniger als 12 Stunden pro Tag, auch an den Wochenende, es gab schließlich viel zu tun, für jeden: Vielleicht ist das ein Faktor, der uns verdrängen ließ. Ich weiß aus meinen Quellen, dass die Selbstmordrate unter Erwachsenen 89 und 90 immer noch weit höher war als vor der Großen Schande, aber schon 91 sanken sie deutlich. Nicht ich, aber eine russische Historikerin, mit der ich mich unterhalten konnte, stellte die Vermutung auf, dieses Phänomen sei mit dem zu vergleichen, das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten gewesen sei. Ich stimme ihr insofern zu, als dass wir leben wollten; wir wollten nichts von den Taten hören. Ich hatte überlebt, ich war der eine Mensch, der statistisch gesehen überlebt hatte, während fünf andere gestorben waren. Ich hatte den sicheren Tod schon vor Augen, die Vernichtung bereits akzeptiert. Und doch war ich noch am Leben: Wir hätten nicht überleben können, wenn wir die Große Schande akzeptiert hätten. Aber wir wollten überleben, also vergaßen wir unsere Schuld. Ich denke, dieser Wunsch nach Vergessen war der Grund, warum die meisten Menschen ihren Wohnort wechselten. In San Bartolomeo war ich der einzige der alten Bewohner, der wenigstens zeitweise noch dort lebte. Alle anderen, Nachbarn, Freunde und Bekannte waren weggezogen.

Zeitindex +10

2093 war der Wiederaufbau größtenteils abgeschlossen, und in gewisser Hinsicht war es wenigstens in Italien fast so, wie es vor dem Untergang gewesen war. Alle wichtigen Ämter in dem aus der alten Generaladministration entstandenen Erdbund waren seit über einem Jahr besetzt, die letzten Konflikte in Indien und den ehemaligen USA waren beendet. Die Supermärkte füllten sich wieder mit Produkten aus aller Welt; die Geldwirtschaft kam wieder in Schwung. Die Zerstörung Mitteleuropas hatte große Industriezentren vernichtet, aber das brachte auch Vorteile mit sich. Die großflächige Abtragung hatte an einigen Stellen gigantische Erzlagerstätten freigelegt, und man war dabei, diese auszubeuten. Die Bevölkerungszahl wuchs langsam wieder an, zumindest legen das die Daten nah, die ich aus Europa bekam, ebenso war es in Nordafrika und Südamerika. Die Menschen gründeten wieder Familien; auch ich habe Ende 92 eine Arbeitskollegin geheiratet. Die großen Kirchen gehörten zwar der Vergangenheit an, aber einige evangelikale Sekten hatten überlebt und gründeten gemeinsam die Church of Restauration, die größte Religionsgemeinschaft nach der Großen Schande.
Und dann kehrten die Erinnerungen zurück. Es ist letztlich nicht genau zu klären, warum sie zurückkehrten, aber sie taten es. Es war ein schleichender Prozess, der sich zeitlich nicht genau einordnen lässt. Er war natürlich hochgradig individuell bestimmt, und bei mir dauerte es bis Mitte 94. Bei anderen müssen die Fragen früher zurückgekehrt sein.
Feststeht, dass im Januar 94 die erste Dokumentation zur Große Schande über die Kanäle lief. Journalisten aus Spanien hatten sie erstellt, ihrem eindringlichen Vorwort nach, weil es ihnen ein persönliches Bedürfnis gewesen war, über die Vergangenheit zu sprechen. Der Erdbund reagierte nicht: man ließ die Ausstrahlung geschehen. Ich denke, das ist auch ganz natürlich; die Regierungsvertreter waren genauso beteiligt, genauso betroffen wie alle anderen lebenden Menschen, und so wussten sie nicht, was sie tun sollten. Ich denke, selbst die Militärs haben an diesem Abend fassungslos auf den Fernseher gestarrt und ebenso geweint wie viele andere Menschen auch. Die Ausstrahlung führte zu einigen Selbstmorden und wenigen Ausschreitungen, aber im Großen und Ganzen waren die Menschen einfach fassungslos. In anderen Regionen der Welt mag der Film stärkere Reaktionen ausgelöst haben, aber davon weiß ich nichts. Ich war zu dieser Zeit schon stellvertretender Verwaltungschef für den Bezirk Italien/Marokko, und natürlich telefonierte ich noch an diesem Abend mit einigen Experten, befragte sie, soweit es möglich war, nach den Konsequenzen der Ausstrahlung. Man konnte mir Zahlen vorlegen, die den aufkommenden Wunsch nach Beschäftigung mit der Geschichte bestätigten. Die Dokumentation war vielleicht ein Multiplikator für das Denken einiger Menschen, sie trieb den Prozess der Bewusst-Werdens voran, aber sie war nicht der Grund für diesen Prozess, allenfalls ein Auslöser.

Zeitindex +11

Es dauerte einige Wochen, bis eine weitere Dokumentation gesendet wurde. In der Zwischenzeit wurde noch kein öffentlicher Diskurs geführt, die Menschen hatten den ersten Film gesehen, und in vielen hatte er eine Tendenz bestärkt, aber die wenigsten sprachen darüber. Ich hatte die Dokumentation mit meiner Frau zusammen angesehen, und auch wir beide waren tief betroffen; dennoch sprachen selbst wir nicht darüber, nicht über den Film, nicht darüber, wo wir zu dieser Zeit gewesen waren und was wir getan hatten.
Die zweite Dokumentation war von Anfang an als Serie ausgelegt. Ein Zirkel um die Produzenten herum gehörte, so erfuhr ich später, zur Church of Restauration, und wahrscheinlich hatten sie auch ein originär religiöses Interesse an der Thematik. Jedenfalls ging die Serie sehr viel mehr ins Detail. Sie zeigten sogar eine Aufnahme aus Tropea, allerdings vor meiner Ankunft; das verwackelte Foto, offenbar mit einer digitalen Kamera aufgenommen, zeigte Leichen und eine brennende Tankstelle. Man erwog schon zu dieser Zeit, weitere Ausstrahlungen zu unterbinden, doch die Administration zögerte: das Interesse an den Geschehnissen zog sich durch alle Gesellschaftsschichten und machte auch vor den Ministerien nicht halt. Auch in meinem Stab wurde darüber diskutiert, die Sender abzuschalten, aber ich lehnte es noch ab.
Letztlich war es unvermeidlich, dass die Menschen irgendwann über die Vergangenheit sprachen; der Charakter der Dokumentationen veränderte sich entsprechend. Es waren nicht mehr nur kommentierte Bildfolgen, immer häufiger wurden Psychologen interviewt und Menschen nach ihren Taten befragt. Die Stimmung kippte langsam; auch ich bemerkte, wie ich immer nachdenklicher wurde. Immer seltener sah ich Menschen lächeln: die Statistiken von damals belegten den Stimmungswandel. Ein Psychologe aus meinem Stab erklärte mir, das die Menschen sich in einem seltsamen Zwiespalt befanden. Einerseits zwang sie etwas, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen; andererseits führte die Beschäftigung zu einer Art von Unzufriedenheit, die kaum zu überwinden war. Ich verstand damals nicht gleich, was er meinte, auch deshalb, weil mich persönlich diese Unzufriedenheit noch nicht wirklich ganz erfasst hatte. Deshalb hatte ich mir auch noch keine Gedanken darüber gemacht, welche Auswirkungen das ganze haben würde. Jedoch denke ich, dass die Lösung für all dies schon damals in einigen Köpfen schlummerte.