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Ein Text, eine Geschichte.

Die weiße Stadt

Diesen Artikel drucken 27. April 2010

Im Morgengrauen erreichte ich die Mitte des Plateaus.
Ich weiß nicht, wie lange ich dorthin unterwegs war; auch weiß ich nicht, wie ich überhaupt dorthin gelangt war, in diese endlose Wüste aus Fels und Staub. Ich erinnere mich nur, dass der Weg über das Plateau eine Ewigkeit zu dauern schien, und als ich ganz zu mir kam, da stand ich auf der höchsten Spitze des Bergrückens und starrte in die aufsteigende Sonne.
Die Kleidung, die ich trug, muss viel zu dünn gewesen sein für eine kalte Nacht in der Wüste, denn sie bestand nur aus einem einteiligen Arbeitsoverall. Ein Schild auf der Brusttasche war der einzige Hinweise auf meine Herkunft oder Identität: 2/4/47 stand darauf. Mit trockenem Mund las ich es wieder und wieder, suchte nach Erinnerung oder wenigstens Vertrautheit in der Zahl, doch trotz dieser großen Verwirrtheit in mir begriff ich zumindest, dass mir die kräftiger werdende Sonne einen schnellen Tod versprach, wenn ich nicht Schutz vor ihr fand. Ich sah mich lange um, blickte in jede Richtung der Ödnis, und schließlich entdeckte ich am Horizont eine schmale Linie, die sich quer durch die Ebene zu ziehen schien. Zunächst hielt ich sie für eine Fata Morgana, eine letzte, fatale Täuschung, und für einige Momente blieb ich unschlüssig; da ich jedoch ansonsten nichts entdeckte, was in irgendeiner Weise auffällig oder viel versprechend war, sondern in jeder Richtung nur den endlos abfallenden Fels sah, schlug ich dennoch diesen Weg ein, hin zu dem glitzernden Band.
Die Weiße Stadt Schnell wurde das Sonnenlicht so hell, dass ich das Band nur mit zusammengekniffenen Augen sehen konnte; ebenso kam die Hitze und ließ mich den Overall öffnen. An der Außenseite war ein Gürtel befestigt, so dass ich die Ärmel daran befestigen und den Overall bis zur Hüfte abstreifen konnte. Ein kleines, bedrucktes Emblem fiel mir in die Hände, als ich die Ärmel festzurrte: Es war aus weißem Stoff, und die offenen Nähte am oberen Ende verrieten, dass es zum Overall gehörte. Darauf abgebildet war die Silhouette einiger Kirch- oder Bürotürme, jedenfalls die vergröberten Konturen einer Stadt, deren Flächen – von schwarzen Linien getrennt – aus dem blütenweißen Stoff bestanden, und der seltsame Schriftzug „remove worker before washing“.
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit ich für den Weg zu den Schienen benötigte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die fast kerzengerade am Horizont aufgestiegen war, müssen es etwa drei Stunden gewesen sein, vielleicht auch nur zwei: in der Hitze und ohne Wasser kam es mir um ein Vielfaches länger vor. Ich erinnere mich, wie ich mich lange, noch längere Zeit dahinschleppte, dabei von Zeit zu Zeit beinahe stolperte und nur mit größter Mühe über kleinen Erhebungen und Steine hinwegkam, die auf meinem abschüssigen Weg lagen. Mein Kopf wurde vom ewig gleichen Anblick der Felswüste und der Anstrengung ganz taub, und eine genaue Erinnerung fehlt mir wohl. Ich sah einige Dinge, von denen ich daher nicht weiß, ob sie wirklich da waren, oder ob ich sie erfand: Einmal sah ich einen großen, weißen Büroturm, auf den ich zuschritt, das war sicher eine Illusion. Ein anderes Mal aber sah ich ein Tier; es war weit weg, als ich es erspähte, und so klein, dass ich nicht genau sagen kann, ob es eine Art Katze oder ein Wolf war, oder sogar ein großer Hund. Es muss mich gesehen oder gewittert haben; starr blickte es mich für einen Augenblick an, dann lief es davon. Einen Moment später war es wieder verschwunden. Ich weiß nicht, ob auch dieses Tier eine Einbildung war. Damals dachte ich jedoch, dass diese Richtung nicht die schlechteste sein konnte, wenn ich sogar in dieser trostlosen Landschaft ein so großes Tier traf.
Als ich die Schienen schließlich erreichte, legte ich die Hand schützend über meine Augen, um genauer zu erkennen, was ich gefunden hatte; es waren tatsächlich Bahnschienen, und der blanke Stahl ließ mich glauben, dass hier oft Züge entlang kamen. Viel aufgeregter wurde ich jedoch, als ich das leise Rauschen hörte, welches aus einem neben den Schienen verlaufenden Rohr kam. Es hatte die Farbe des Sandes, und in geringer Entfernung sah ich einen silbriges Ventil glänzen, welches aus dem Rohr hervorstand: ich kniete mich davor, drehte hektisch daran, und tatsächlich schoss eine Flüssigkeit heraus, fast so klar wie Wasser; ich legte mich halb unter das Ventil und trank, bis der Strom versiegte. Schon etwas weniger durstig, aber noch lange nicht befriedigt riss ich an dem kleinen Rädchen, welches das Wasser zum Fließen gebracht hatte. Das Rauschen war noch da, hatte auch nicht abgenommen, und dennoch kam kein Wasser mehr aus dem Auslass. Schließlich versuchte ich das Ventil ganz abzureißen, trat und schlug dagegen, ich legte mich sogar ganz unter das Rohr und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, um es aus der Führung zu brechen – ohne Erfolg. Ich entdeckte einen kleinen Schriftzug unter dem Ventil; in weißer Schrift blinkte dort warnend
„Arbeit schafft Wohlstand“
Ich gab mich geschlagen, klopfte den Staub von meinem Anzug und nahm meinen Weg entlang der Schienen auf; wenn es hier ein Ventil gab, dann gab es vielleicht überall entlang der Schienen Ventile. Die einzuschlagende Richtung war für mich leicht zu ermitteln; alle paar Meter wies ein Pfeil auf der Wasserleitung die Fließrichtung. Die Sonne war inzwischen schon lange völlig unerträglich, und während ich den Schienen folgte, riss ich die Ärmel meines Overalls in Streifen und fertigte eine Art improvisierten Turban daraus, der mich mehr schlecht als recht vor der Sonne schützte. Ich zählte ab, wie viele der Pfeile ich passierte, und nach 150 Pfeilen traf ich wieder auf ein Ventil: kein Schriftzug war darunter zu sehen. Ich trank, dieses Mal aber öffnete ich den Hahn vorsichtig, um nichts zu beschädigen. Aber auch an diesem Ventil floss das Wasser nur kurz, und als ich wieder aufstand, sah ich aus den Augenwinkeln das weiße Blinken, dass ich zuvor schon gesehen hatte. Ich verstand das System und ging weiter an den Schienen entlang.
Als ich das sechste oder siebte Ventil hinter mir gelassen hatte, wurden mir zwei Dinge klar: Zum einen handelte es sich bei der Flüssigkeit in der Leitung auf keinen Fall um Wasser. Ich fühlte, wie leer mein Magen war, und abgesehen davon, dass ich schon mehr als sechs Stunden unterwegs sein musste, konnte ich mich nicht daran erinnern, ob ich jemals etwas gegessen hatte. Selbst wenn ich mein letztes Mahl vor sechs Stunden gehabt hätte, so hätte mein Hunger schon lange zurückkehren müssen aber das geschah nicht: Die einzige plausible Erklärung war die Flüssigkeit, die ich alle 150 Pfeile aufnahm.
Die zweite Erkenntnis betraf ebenso die Flüssigkeit, die stets hörbar durch die Leitungen gurgelte, und war weniger positiv: Ich beobachtete, wie mein Durst von Ventil zu Ventil größer wurde, während vermutlich immer die gleiche Menge heraussprudelte. Zunächst hatte ich es für ein normales Phänomen gehalten, bei dieser Hitze und meinem allgemeinen Zustand, dann jedoch bemerkte ich den salzigen Geschmack in meinem Mund.
Nach zehn Ventilen kam mir zum ersten Mal ein Zug entgegen: Ich hörte ihn schon aus großer Entfernung heranrauschen, und zunächst blieb ich auf den Schienen stehen, um zu sehen, ob er anhalten würde. Als der weiße Punkt am Horizont jedoch sehr schnell größer wurde, besann ich mich eines Besseren und verließ das Gleisbett: Ich weiß nicht, wie schnell der Zug war, aber mir kam er unglaublich schnell vor. Die ganz weiß getünchten Wagen rasten an mir vorbei, ohne abzubremsen. Ich sah keine Passagiere und auch keinen Zugführer. Die Fenster, wenn es denn Fenster waren, waren verspiegelt und ich sah nur meine heruntergekommene Gestalt darin. Als der Zug sich entfernt hatte, entschied ich mich, dennoch in dieser Richtung weiterzugehen, weniger deshalb, weil ich dort weitere Züge vermutete, als vielmehr wegen der Ventile, die in dieser Richtung eine kurze Erleichterung versprachen. Der Salzgeschmack in meinem Mund war inzwischen unerträglich, und ich schleppte mich nur noch von Ventil zu Ventil. Ich weiß nicht, wie viele es am Ende waren.
Irgendwann hörte ich jedoch ein fernes Donner, und als ich die Augen zusammenkniff, sah ich etwas Schwarzes auf den Gleisen. Das Geräusch wurde lauter, und ich begriff, dass es sich um einen wesentlich langsameren Zug handeln musste. Kaum merklich, aber stetig kroch er auf mich zu. Ich ging ihm entgegen, bis zu einem weiteren Ventil, von dem ich trank, ohne den schwarzen Triebwagen, den ich inzwischen erkennen konnte, aus den Augen zu lassen. Dann setzte ich mich neben die Gleise und wartete.
Nach einer Weile erkannte ich immer mehr Details. Die Front des Triebwagens war schwarz, und hinter den durchsichtigen, aber vergitterten Fenstern konnte ich Personen erkennen, offenbar den Zugführer. Der Wagen schien mir sehr alt zu sein, und an einigen Kanten blitzte unter der vom Wüstensand abgeriebenen Farbe der blanke Stahl. Die Front des Zuges war zugespitzt, wie bei einer Art Rammbock, und aus der Nähe wurde das Lärmen der Motoren unerträglich laut. Als der Zug nur noch wenige hundert Meter entfernt war, beschlich mich plötzlich eine seltsam vertraute Angst: Ich dachte darüber nach, in die Wüste zu laufen und auf den nächsten Zug zu warten. Andererseits aber wusste ich, dass der Durst noch schlimmer werden würde, wenn dieser Zug mich nicht mitnahm. Und außerdem, wohin sollte ich laufen? Die Wüste schien in jede Richtung weit und flach zu sein, das Plateau musste ich schon lange hinter mir gelassen habe. Man würde mich über Kilometer hinweg sehen könne, selbst wenn ich mich flach auf den Boden werfen würde. Schließlich verwarf ich meine Bedenken und blieb sitzen, bis der Zug einige Meter vor mir knirschend hielt: Dann stand ich auf und ging mit langsamen Schritten auf das Ungetüm zu.
Eine Tür öffnete sich an der Seite des Führerhauses: Zwei Soldaten stiegen aus. Sie trugen Gewehre, die aber locker vor ihnen baumelten, und weiße Uniformen, die an einigen Stellen fleckig waren. Ich schluckte meine aufkeimende Panik herunter und lächelte die beiden gequält an, während sie mir entgegen gingen. „Hallo…“ rief ich herüber. „Identifizieren sie sich bitte.“ antwortete einer der Soldaten. „Ich bin schon lange in der Wüste, ich weiß nicht…“ „Identifizieren sie sich!“ unterbrach mich der Soldat herrisch. „2/4/47“ antwortete ich, bevor ich darüber nachdenken konnte, „2/4/47“. „Zwei… ein Arbeiter.“ raunten sich die Soldaten zu. Sie griffen nach ihren Waffen. „Steigen Sie ein, Zwei.“ brüllte mich einer der beiden an. Sie deuteten mir, zu ihnen aufzuschließen. Ich gehorchte; sie brachten mich nicht ins Führerhaus, aus dem die beiden geklettert waren, sondern weiter nach hinten, zu den angehängten Waggons, die ich bisher nicht gesehen hatte. Sie sahen noch älter aus als der Triebwagen: Es handelte sich offenbar um Personenwaggons, auch wenn man sie umgebaut hatte. Die Fenster waren überall durch dichte Stahlgitter ersetzt worden, und an einigen Stellen waren noch Reste der ursprünglich weißen Außenlackierung zu sehen: Durch die Gitter blickten mich einige Menschen an, die offenbar auch Overalls trugen; die meisten wirkten äußerst desinteressiert. An einem der Waggons war eine Tür angebracht; einer der Soldaten schloss sie auf, während der andere mich in Schach hielt. Sie deuteten mir, hineinzusteigen, und als ich nicht schnell genug reagierte, gab mir einer der beiden einen Schlag ins Genick. Unsanft landete ich auf dem Boden des stickigen Waggons, und hinter mir hörte ich die beiden lachen. Die Tür schloss sich wieder, und einige Sekunden später setzte sich der Zug in Bewegung.Die Weiße Stadt (2)
Ich stand auf und rieb mir das schmerzende Genick. Meine Anwesenheit schien keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Die meisten Fahrgäste schienen nach dem Zwischenhalt wieder zu dösen. Ich versuchte einige zu wecken, stieß sie sanft, später ruppig an, doch sie reagierten nicht auf meine Ansprache: Schließlich setzte ich mich auf einen freien Platz und dachte wieder an meinen unstillbaren Durst. Ich entdeckte einen kleinen, vergitterten Bildschirm an der vorderen Wand des Waggons. Er zeigte – offenbar in einer Endlosschleife – Schriftzüge: „Wir in Europa“ war darunter, aber auch „Wir können es besser“. Ich erkannte auch den Satz, den ich an den Ventilen immer wieder gefunden hatte. Als sich meine Augen besser an das Dämmerlicht im Waggon gewöhnt hatten, sah ich den kleinen, verstaubten Hahn im hinteren Teil des Wagens. Darüber prangte ein kleines Eingabefeld, dem ich zunächst keine große Beachtung schenkte. Ich verließ meinen Platz und sah mir den Hahn näher an: Er war anders als die Ventile in der Wüste. Inzwischen konnte ich förmlich spüren, wie sich Salzkristalle in meinem Mund sammelten, und so zögerte ich nicht, den Schraubverschluss zu drehen.
Der Stromstoß warf mich erneut zu Boden. Vielleicht war ich auch einige Minuten bewusstlos, jedenfalls fand ich mich auf dem Boden wieder: Mein Kopf schmerzte, und die Hand zitterte unablässig. Ich stemmte mich wieder hoch, schonte dabei die kribbelnde Hand und sah, dass das Eingabefeld über dem Hahn leuchtete. Eine Zeile blinkte über dem winzigen Tastenfeld:
7 + 8 =
Einige Momente musste ich mich sammeln, dann verstand ich. Mit der linken Hand, die nicht zitterte, tippte ich 15.
„Bildung ist ein Bürgerrecht.“
funkelte mir das Display entgegen, dann schoss eine Flüssigkeit aus dem Hahn, und ich trank begierig. Es schmeckte anders: ich glaube, es war kein Salz darin, dafür schmeckte das Wasser seltsam künstlich. Nach einigen Sekunden versiegte der Strom wieder, und ich sah auf dem Bildschirm
4 x 5 =
Einige Male tippte ich die jeweilige Lösung, um weiter trinken zu können, schließlich wurde ich sehr, sehr müde. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich schon seit weit mehr als 10 Stunden unterwegs war, und der Gedanke an die harte Polsterung der Sitze wurde immer verführerischer. Dass etwas im Wasser dafür verantwortlich gewesen sein muss, erkannte ich eher beiläufig und ohne, dass ich lange darüber nachdachte. Ich schleppte mich nur noch zu einem der freien Sitze, ließ mich fallen und schlief auf der Stelle ein.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlief oder wie lange wir unterwegs waren. Zweimal wurde ich in der Nacht wach, und im Dunkeln tastete ich mich zu dem Wasserhahn vor, um nach dem Lösen einer Aufgabe wieder trinken zu dürfen; dann schlief ich wieder. Am Tag (wahrscheinlich war es der nächste Tag, vielleicht aber auch der übernächste) hielten wir einmal an. Ich registrierte kaum, wie die Soldaten draußen eine Frau zwangen, in den Waggon zu steigen. Als der Zug rollte, schlief ich wieder. Ich träumte ein wenig, aber wenn ich es mir recht überlege, kann ich nicht sagen, was genau ich träumte: Es hatte mit dieser weißen Stadt zu tun, denke ich, aber mehr als die ferne Silhouette ihrer Türme kann ich mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen.
Schließlich weckte mich ein Soldat unsanft. Er sprühte mir irgendwas Kühles ins Gesicht, und als mich rührte, herrschte er mich an, wach zu bleiben, damit das Mittel schneller wirke. Meine Müdigkeit verflohg und ich sah nach draußen: Wir waren an einem Bahnhof angekommen. Er war überdacht, und ich konnte nirgendwo Schilder sehen, wusste also nicht, wo wir waren. Auf dem Gleis neben uns stand ein weiterer Zug, ebenfalls ein altes Modell mit vergitterten Fensteröffnungen: Er war leer. Zur anderen Seiten konnte ich zehn oder vielleicht sogar zwanzig Bahnhgleise sehen, und weit entfernt erkannte ich Menschen, die in einen der weißen Schnellzüge einstiegen. Ich beobachtete auch den Soldaten, der allen Arbeitern etwas aus einer kleinen Dose ins Gesicht sprühte und ihnen dann deutete, wach zu bleiben. Der andere Soldat stand währenddessen wachsam und mit gezogener Waffe in der Tür. Ich sprach den Mann an, der neben mir saß: „Was wollen die von uns?“. Ich bekam einen Tritt. „Niemand redet!“ brüllte der Soldat und zog einen Schlagstock aus seinem Gürtel. Ich duckte mich und verbarg den Kopf unter meinen Händen. Der Mann ging wieder an seine Arbeit und steckte den Knüppel weg. Ich stellte keine Fragen mehr.
Als der Soldat alle Passagiere aufgeweckt hatte, fuhren wir wieder los: Die Soldaten blieben im Waggon, ich rührte mich nicht. Bald hinter dem Bahnhof begann ein Tunnel. Wir fuhren vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Ich hatte das Gefühl, es würde immer weiter nach unten gehen, aber das mag täuschen; Als wir jedenfalls wieder an einem Bahnsteig hielten, waren wir offenbar tief unter der Erde, denn der nackte Fels hing über den Gleisen herab. Die beiden Soldaten stiegen aus und sprachen draußen mit anderen. Ich verstand ihr Gespräch nicht, obwohl ich sicher bin, dass sie das weitere Vorgehen besprachen. Einer der Männer kam zurück zum Waggon und deutete uns, auszusteigen, und zwar einzeln, und uns in einer Reihe aufzustellen.
Unter lautem Gebrüll der Soldaten beeilten wir uns, aus dem Waggon zu klettern. Vermutlich hatten wir alle Kopfschmerzen: Ich jedenfalls hatte schlimme Kopfschmerzen, was das Aufstehen nicht leichter machte. Auch meine Beine fühlten sich taub an, aber ich schleppte mich durch den Waggon, während wir nach und nach ausstiegen.
Als ich fast an der Tür war, sah ich die Bewegung des jungen Mannes gerade noch rechtzeitig, bevor er den Schraubenzieher wieder im Dunkel der Kabine verschwinden ließ: Für einen Moment jedoch sah ich ihn aufblitzen, und vermutlich rettete mir dieser Umstand mein Leben an diesem Bahnsteig in der Tiefe. Wahrscheinlich zeigte er ihn mir nicht absichtlich, es war mehr ein Zufall: Keiner der anderen hat ihn gesehen, denke ich. Ich hatte nur wenige Sekunden Zeit, darauf zu reagieren, und ich sah mich so ruhig, wie es mir möglich war, noch einmal um, blickte durch die Vergitterung der Fenster und versuchte, einen Fluchtweg festzulegen.
Als der Mann vor mir aus dem Zug gesprungen war, ging alles plötzlich sehr schnell, wie ich es mir erhofft hatte. Ich sah nicht, was genau geschah, aber soweit ich es einschätzen kann, stürmte der Mann auf den Soldaten los, der dem Zug am nächsten stand. Er muss ihn verwundet haben, denn ich hörte einen überraschten Schrei, aber sicher bin ich mir nicht, denn ich sah nicht hin. Die Trittstufe des Waggons sprang ich, schon halb im Lauf, hinab, dann ließ mich unter den Zug fallen und robbte, so schnell ich nur konnte, auf die andere Seite. Hinter mir hörte ich Rufe, das Klappern von Schuhen, dann Schüsse, immer mehr Schüsse, Schreie, wieder Schüsse. Vermutlich waren die anderen Arbeiter losgelaufen, als sie begriffen hatten, was vor sich ging. Ich sah niemanden von ihnen mehr auf meiner Flucht. Vermutlich haben die Soldaten die anderen erwischt, entweder getötet oder jedenfalls eingefangen. Ich ließ den Tumult hinter mir, als ich die Dunkelheit der Tunnel einbog.
Der Tunnel war einer von dreien gewesen, die ich entdeckt hatte, als ich mich noch im Waggon stehend umsah. Ich hatte aus keinem besonderen Grund für diesen entschieden, es war einfach der Fluchtweg, der mir am kürzesten erschienen war. Sein Verlauf war kurvig und spärlich beleuchtet, dennoch zwang ich mich, auf den ersten vielleicht hundert Metern nicht langsamer, sondern eher schneller zu laufen. Erst, als ich die Schüsse hinter mir nicht mehr hören konnte, bewegte ich mich etwas langsamer, lief aber weiterhin. Als ich an eine Abzweigung kam, wählte ich den dunkleren Pfad: nach einigen Hundert Metern verzweigte der Tunnel sich wieder, und ich wählte wieder den dunkleren Weg durch den Untergrund. Schließlich kam ich an der nächsten Kreuzung keuchend zum Stehen. Ich ging halb in die Hocke und rang nach Atem. Die Luft kam mir stickig vor, warm und dabei so, als ob zu wenig Sauerstoff darin sei; erst nach mehreren Minuten konnte ich langsam weitergehen, ein Stechen in der Seite machte mir das Rennen unmöglich. Dieses Mal nahm ich einen helleren Pfad, denn in dem schmalen Gang, in den ich geflohen war, schienen nur noch einige kleine, bläulich-weiße Lampen, die wie eine Art Notbeleuchtung wirkten. Überall um mich herum war nur noch nackter Fels, und die von Zeit zu Zeit auftauchenden Stützen aus Holz verrieten mir, dass ich in einer Art Mine war. Als sich meine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte ich tatsächlich die Spuren von Arbeit an den Wänden: In einigen entdeckte ich tiefe Löcher mit Scharten wie von Spitzhacken, vielleicht auch von schwererem Gerät. Ich ging voran, kam immer wieder an Abzweigungen und wählte irgendeinen Weg: Verlaufen hatte ich mich ohnehin, nun war es auch egal, in welche Richtung ich ging. Als ich das Hämmern von Werkzeug hörte, wand ich aber in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Hier unten waren andere Arbeiter, dachte ich mir: vielleicht würden sie mir helfen können.
Mein Weg durch die Tunnel war lang, wenigstens kam er mir lang vor. Ich folgte dem Klopfen, und wenn ich an eine Kreuzung kam, blieb ich stehen um zu lauschen. Dann ging ich in die Richtung, in der ich das Hämmern vermutete. Nach einer Weile wurde die Beleuchtung wieder besser, wahrscheinlich war der Bereich, den ich zunächst betreten hatte, ein verlassener oder erschöpfter Bereich der Mine gewesen.
Schließlich kam ich an eine große Kreuzung: Die recht schmale Öffnung im Fels öffnete sich weit nach oben hin und traf weit oben die weißen Kacheln eines großen und breiten Versorgungstunnels, der den felsigen Bereich, durch den ich gekommen war, fast im rechten Winkel schnitt. Der weiße Tunnel schien für meine Augen blendend hell, und doch sah ich auf der anderen Seite der Kacheln wieder einen der kleineren Tunnel, der fast in völlige Dunkelheit getaucht schien. Einen Moment blieb ich stehen und lauschte: Das Hämmern war jetzt ganz nahe, und ich bildete mir zumindest ein, auf der anderen Seite des Versorgungstunnels schemenhafte Gestalten zu erkennen. Dann hörte ich auch das Poltern von Stiefeln und die näherkommenden Rufe von Soldaten, und lief so schnell ich konnte.
Möglicherweise wäre ich weiter gekommen, wenn ich mich umgedreht hätte und in die Dunkelheit der verlassenen Abschnitte zurückgelaufen wäre, aber daran hatte ich keinen Gedanken: Ich rannte quer über den gekachelten Korridor und verschwand in den Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich den gebrüllten Befehl hinter mir hörte, hatte mich der Tunnel schon verschluckt.
Ich keuchte wie ein Tier, während ich das Tempo haltend versuchte, den Weg vor mir und vor allem die Unebenheiten des Untergrundes rechtzeitig zu erspähen. Um einige Biegungen kam ich nur knapp, indem ich meinen Oberkörper abrupt nach links oder rechts warf, und zweimal schlug ich fast hin, als sich im Boden vor mir plötzlich ein kleines Loch auftat. Ich passierte eine ganze Reihe von Arbeitern, die offenbar nur mit einfachsten Geräten gegen den Fels schlugen: sie schienen mir dürr zu sein, und irgendetwas Irritierendes war da an ihnen, aber mehr nahm ich auf meiner Flucht nicht wahr, zu schnell lief ich im Dämmerlicht an ihnen vorbei. Anfangs hörte ich noch die Rufe meiner Verfolger, aber das Tunnelsystem verzweigte sich auch auf dieser Seite sehr häufig, und nachdem ich fünf- oder sechsmal abgebogen war, hörte ich keine Stiefel mehr: Ich lief noch einige Hundert Meter weit, bis meine Lungen wie Feuer brannten, bog um eine Ecke, und prallte in vollem Lauf auf einen der Arbeiter.
Wir gingen beide zu Boden, fielen beinahe aufeinander , und ich schlug mit dem Kopf auf das Gestein. Ich wäre sicher eine ganze Zeit lang liegen geblieben, wenn ich nicht voller Adrenalin gewesen wäre, doch auch der Arbeiter schien sich sofort aufzurappeln, und noch während ich eine gestammelte Entschuldigung herausbringen wollte, verfehlte die breite Seite einer Spitzhacke mein Gesicht um Haaresbreite. Mehr reflexhaft drehte ich mich, immer noch halb liegend, herum und trat mit aller Kraft in die Richtung, in der ich den Stiel der Waffe vermutete: Ich hörte, wie die Hacke davon geschleudert wurde. „Ich will nichts…“, setzte ich keuchend zu einer Erklärung an, doch der Arbeiter hatte bereits nach einem Stein gegriffen und traf mich kräftig am Oberschenkel (im Nachhinein denke ich nicht, dass es ein gezielter Hieb war – mit Leichtigkeit hätte er auch meinen Kopf treffen können). Ich schrie auf vor Schmerz: Der Arbeiter nutzte den Moment und robbte zu seiner Hacke, ich hörte, wie die Klinge über den Boden schrammte und warf mich brüllend nach vorn, landete auf ihm und schlug so fest zu, wie ich nur konnte. Schließlich bekam ich seinen Hals zu fassen und ließ ihn fast wieder los, als ich bemerkte, wie dünn er war – und wie seltsam sich seine Haut anfühlte.
Er nutzte mein Zögern, griff nach etwas und traf mich am Kopf, doch zu meinem Glück war es nur seine flache Hand, die mich traf. Ich biss ihm in die Hand, schmeckte verbranntes Fleisch: Er heulte auf, das erste Mal, dass er einen Ton von sich gab, ich schloss beide Hände um seinen Hals und drückte zu. Er holte mit Armen und Beinen aus, doch sein Widerstand erlahmte schnell, begleitet von einem jämmerlichen Röcheln. Jetzt, da ich halb auf ihm hockte, sah ich, was mich an den Arbeitern im Gang so irritiert hatte. Der Körper des Arbeiters war so unnatürlich dünn, dass er fast wie Puppe wirkte. Dabei war sie nicht dünn im eigentlichen Sinne. Es war mehr so, als hätte man alles Unwesentliche weggelassen, Fett, Bindegewebe; Der Körper wirkte drahtig und auf seltsame Weise muskulös, obwohl er doch unglaublich dürr war. Was mich aber am meisten erschreckte, hatte ich zunächst für eine Täuschung meiner Augen gehalten, wie sie im Dämmerlicht entstehen kann, und ich hätte meinen Griff fast wieder gelockert, als ich es begriff; Der Körper des Mannes, dessen Hals ich umklammert hielt, war über und über verbrannt. Ich konnte keine Stelle entdecken, die nicht verbrannt war, und dabei war er bis auf eine kurze Arbeitshose fast nackt. An einigen Stellen schien sich das äußere Gewebe abzulösen, und ich spuckte aus, als ich mich an den Geschmack in meinem Mund erinnerte. Als sich seine Augen zu verdrehen begannen, lockerte ich meinen Griff  etwas und versuchte nicht darüber zu nachzudenken, wie man ihm so etwas angetan haben konnte. Der Arbeiter reagierte mit einem erleichterten Stöhnen. „Pass auf: Ich will dir nichts tun. Ich werde dich jetzt loslassen, und wir werden nicht mehr kämpfen. Verstehst du?“ sagte ich zu ihm immer noch keuchend. Ich versuchte, in seinen Augen eine Antwort zu lesen, aber ich sah nichts. Vielleicht war mein Griff noch zu stark, dachte ich und lockerte ihn noch etwas. „Verstehst du?“ fragte ich ihn noch einmal. Er antwortete nur mit einem röchelnden Zischen, dass ich zuerst nicht deuten konnte. Dann wiederholte er seine Antwort jedoch, und ich verstand: Wir in Europa, winselte er. Und: Arbeit schafft Wohlstand. Ich blicke entsetzt in seine leeren, ausdruckslosen Augen und vergaß den Griff, in dem ich ihn gehalten hatte Der Arbeiter griff augenblicklich zu einem größeren Stein, den ich nicht gesehen hatte, und traf mich unterhalb der Schläfe. Ich fiel zur Seite und sah einige Sekunden nichts mehr, konnte einem weiteren Hieb aber dennoch ausweichen. Dann sah ich ihn nach der Spitzhacke greifen, die ich fast schon wieder vergessen hatte, trat nach ihm, rollte herum, bekam meinerseits die Hacke zu fassen und schlug zu.
Als er sich nicht mehr rührte, kniete ich neben ihm und sah auf seinen verunstalteten Körper. Der Kampf mit mir hatte große, fast bräunliche Wunden auf seiner Haut hinterlassen. Etwas Schmieriges klebte an meinen Händen. Fassungslos starrte ich auf das Wesen, dass ich getötet hatte, töten musste. Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte den Kopf und sah den Gewehrkolben noch, dann wurde alles schwarz.
Ich kam zu mir, weil jemand mich jemand auf die Beine stieß. Der Kopf dröhnte, wie ich noch nie erlebt hatte, und als ich mein Gesicht befühlte, wurde mir klar, dass meine Nase gebrochen sein musste. Ich stand am Ende einer Schlange von Menschen, die alle einen Arbeitsoverall trugen. Wir schienen immer noch in den Tunneln zu sein: Dieser war so eng, dass ein Erwachsener nur einzeln hindurchgehen konnte. Der Soldat hinter stieß mir das Gewehr in den Rücken, damit ich aufschloss: Von Zeit zu Zeit bewegte sich die Reihe der Menschen ein Stück nach vorne, und als ich wieder sicher genug stand, um auf die Zehenspitzen zu gehen, blickte ich über die Menschen vor mir hinweg um zu sehen, wohin der enge Schlauch führte. Ich sah einen schweren Stahlschott wie den einer Druckkammer. Er besaß kein Sichtfenster, nur die vertraute Silhouette der Weißen Stadt sah ich darauf eingraviert. Die Tür öffnete sich: einer der Arbeiter, der erste in der Schlange wohl, ging an den Soldaten vorbei, die links und rechts in Aussparungen bereitstanden, und betrat den Raum hinter der Tür, der stockdunkel zu sein schien. Dann hörte ich einen gedämpften Schrei und ein Tosen und Dröhnen wie von einem Luftstrahl. Als ich begriff, sank ich zusammen, brach fast zusammen: der Soldat hinter mir erinnerte mich mit einem leichten Stoß an meinen Platz. Ich rückte auf. Es mussten noch vier oder fünf Leute vor mir gewesen sein, so viel hatte ich erkennen können. Auch über der Tür standen zwei Soldaten mit ihren Waffen im Anschlag auf einer Art Plattform, das erkannte ich erst jetzt. Sie waren im Halbdunkel schwer auszumachen, aber ich sah sie. Der Soldat stieß mich heftiger, ich ging wieder zwei Schritt nach vorne. Nur noch drei oder vier, dachte ich. Ich wartete, bis ich das Geräusch des Dampfstrahls hörte, dann drehte mich um und holte aus, doch ich traf den Soldaten nicht einmal, er hatte meine Bewegung bereits im Ansatz erkannt. Ich ging zu Boden, aber er hatte gerade so fest zugeschlagen, dass ich nicht ganz bewusstlos wurde. Unter einigen Tritten und Rufen brachte er mich auf die Füße, ich schleppte mich wieder zwei Schritte vor, beugte mich zur Seite und sah die Tür schon nah, nur noch zwei vor mir. Meine Knie knickten ein, ein weiterer Tritt, jemand zog mich an den Schultern nach oben, ich stand wieder, ich sah die Tür hinter der Frau vor mir, das weiße Emblem darauf, das Zeichen der Weißen Stadt, die Frau trat vor, die Tür schloss sich. Ich steuerte verzweifelt auf den Soldaten zu, der links neben der Tür stand, er schlug mich nicht einmal, sondern stieß mich sanft zurück, dann ein weiterer Tritt von hinten, und ich stand in der Kammer. Die Tür schloss sich hinter mir. Ich hörte Dampf rauschen.

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen schlimmen, anhaltenden Schmerz. Aber es war nicht der Schmerz, den ich erwartet hatte: Er betraf nicht den ganzen Körper, sondern konzentrierte sich gänzlich auf meinen Nacken. Noch dazu war er zwar intensiv, aber nicht so sehr, wie ich es befürchtet hatte. Ich hob den Kopf, und fand mich an meinem Schreibtisch wieder. Mein Kaffeebecher dampfte noch, und die Unterlagen, auf denen mein Kopf geruht hatte, waren noch genauso sortiert, wie ich sie hingelegt hatte. Das große Büro, dass ich schon seit einer Weile bezogen hatte, wirkte wie immer: Durch die großen Scheiben konnte ich die Welt draußen erkennen. Ich lehnte mich zurück in den tiefen Lehnsessel, und für einen Moment lang verfolgte mich der Gedanke, dass meine Flucht durch die Tunnel, die Arbeit in den Minen, nun schon lange hinter mir lag, dass ich die Minen schon lange verlassen hatte und nun hier arbeitete, doch dann wurde ich ganz wach und erkannte, dass es nur ein Traum gewesen war: die Wüste, der Zug, die Tunnel, alles. Wie zur Vergewisserung sah ich auf meine gepflegten Unterarme: sie waren nicht verbrannt, natürlich waren sie das nicht.
Dennoch beschäftigte mich mein Traum, schien er mir doch so real gewesen zu sein. Kurz betrachtete ich meine Unterlagen, die Tabellen und Zahlenkolonnen, die ich heute noch hatte bearbeiten wollen, dann jedoch nahm ich meinen Kaffee und setzte mich an den kleinen Konferenztisch, der nur einige Meter entfernt stand. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb auf, was ich geträumt hatte. Jede Einzelheit versuchte ich aufzuzeichnen, und als ich das Blatt vollgeschrieben hatte, nahm ich immer weitere. Schließlich hatte ich alles notiert, was mir einfiel, und ich betrachtete meine Aufzeichnung. Mir wurde klar, dass etwas fehlte.
Ich brauchte eine Weile, um mich an das zu erinnern, was ich vergessen hatte. Ich trank den Kaffee aus, genoss den sanften, bitteren Geschmack nach dem langen Weg durch die Wüste in meinem Kopf, und dachte darüber nach. Schließlich stand ich auf und ging zu dem breiten Panoramafenster. Während ich die strahlend-hellen Türme der Weißen Stadt betrachtete, deren Silhouette mir so vertraut war, strich ich abwesend über meine verbrannten Unterarme, diese Narben aus alten Zeiten, an die ich mich kaum noch erinnere.
Dann ging ich zurück zu dem wieder dampfenden Kaffeebecher und schrieb:
Jedes Leben in der Weißen Stand hat einen realen und einen fiktiven Teil; einen, der geschieht, während der Bürger nicht anwesend ist, und einen anderen, der nicht geschieht. Ich strich den Satz und begann neu;
Jeder Bürger der Weißen Stadt führt zwei Leben; dies ist nur die eine Hälfte meines Lebens in der weißen Stadt. Ich überlegte einen Moment, dann fand ich die richtigen Worte und die Geschichte, die ich erzählen musste:
Mein anderes Leben, das zweite der beiden, die man mir gegeben hat, beginnt so;

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen stechenden, endlosen Schmerz, der meinen ganzen Körper erfasst hielt und nicht locker ließ. Es dauerte Stunden, vielleicht auch Tage, bis ich das Bewusstsein gänzlich wieder erlangte. Als ich schließlich die Augen öffnete, lag ich offenbar auf dem Rücken und starrte auf etwas, dass ich zuerst nicht als einen Spiegel erkannte. Doch es war mein eigenes, verunstaltetes Bild, das dort von der Decke auf mich herabstarrte. Das hatten sie aus mir also gemacht; jeder Zentimeter meiner Haut war von dem Dampfstrahl verbrüht, und an einigen Stellen löste sich immer noch Haut. Ich war mir sicher, dass mich nur die schwarze Flüssigkeit bei Bewusstsein hielt, die durch ein dünnes Rohr in meinen Unterarm floss, aber auch so war der Schmerz unerträglich. An den Hand- und Fußgelenken, an denen weiße, starre Bänder mich auf der Liege fixierten, brannte der Kunststoff der Fesseln: An meinem Rücken brannte der kalte Stahl, und selbst die Luft schien sich wie eine schwere, entzündete Flüssigkeit auf mich zu legen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich dort behandelten, festgeschnallt auf dieser Liege, gezwungen, den eigenen, entstellten Körper unablässig zu sehen. Immer wieder wurde ich bewusstlos, und dann träumte ich von den Türmen der Weißen Stadt, die ich nie gesehen habe. Einmal unterhielten sich zwei Menschen direkt neben mir, ohne dass ich sie sehen konnte. „Wie weit ist der?“ fragte der eine. „Der ist auch bald so weit. Er kommt manchmal noch zurück, aber in zwei Tage sollte er soweit sein, dass wir ihn arbeiten lassen können.“ Ich verstand nicht, was sie damit meinten, oder ich hoffte nur, es nicht zu verstehen. Immer häufiger wurde ich bewusstlos und träumte von der Weißen Stadt, sogar von einem seltsamen Leben dort: Ich weinte, als ich aus diesen Träumen aufwachte und wieder mein entstelltes Spiegelbild sehen musste.
Irgendwann kamen die Männer wieder. Ich konnte sie reden hören. „Gut… das hier ist… 2/4/47.“ „Der ist auch bereit, alle Werte sind normal. Schicken wir ihn los.“. Ich sah, wie die Flüssigkeit, die man seit Tagen in meine Arme spülte, langsam ihre Farbe wechselte. Aus dem Schwarz wurde langsam Grau: Aus dem Grau ein helleres, immer noch helleres Grau, und schließlich war sie fast weiß. Ich spürte, wie meine Erinnerungen träger wurden, wie sie verschwanden: Mein Weg durch die Wüste, die Fahrt mit dem Zug. Meine Flucht durch die Tunnel. Der große Spiegel über meinem zerstörten Körper. Alles verschwand.
Dann dachte ich zum ersten Mal
WIR IN EUROPA und dann
ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND. Einen Moment glaubte ich, es wäre vorbei, doch dann
BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT und ich begriff, dass ich bald nichts anderes mehr denken würde, nicht mehr als

Ich trank einen weiteren Kaffee und sah zu, wie die Sonne unterging: Ihr Rot übertrug sich nicht auf die Türme der Weißen Stadt, sie blieben so weiß wie Schnee.

WIR KÖNNEN ES BESSER

Ich ging die Tabellen durch: Die Arbeit war fast erledigt, ich konnte mir Zeit lassen und den Ausblick genießen.

WIR IN EUROPA

Ich streckte mich, nur für einige Minuten, auf dem bequemen Ledersofa aus.

ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND

Ich wusste den Blick über die Weiße Stadt zu schätzen, nicht viele Angestellte in meinem Alter hatten ein Büro in solcher Lage.

BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT

Was geschah

Diesen Artikel drucken 29. März 2010

War er es? Das Gesicht war vertraut, es gleichte dem in seiner Erinnerung trotz der Jahre recht genau. Und doch..
Er zögerte, bevor er auf ihn zuging und ihm die Hand hinreichte. Der andere nahm die Hand: sie erkannten sich. „Stefan…“ sagte er und sah das Gesicht weiter an. Es war Stefan.
Sie tauschten stockend einige Höflichkeiten aus: Die Frage nach dem Befinden (Stefan antwortete verhalten: Die Gegenfrage ließ er aus), die nach der Arbeit (zögernd erklärte Stefan, er sei mit verschiedenem beschäftigt, zur Zeit aber arbeitslos) und einige andere. Er lud den alten Freund auf einen Kaffee ein, doch der lehnte ab: das Gespräch erlahmte rasch, und im Nachhinein erschien es ihm so, als ob seine Fragen Stefan doch nur am Gehen gehindert hatten. Einige Minuten blieben sie so stehen zwischen den Regalen des Supermarkts; er fragte, wie es Katja gehe, ob er noch Kontakt zu ihr habe; Stefan schien Mühe zu haben, sich an seine langjährige Jugendfreundin zu erinnern, und antwortete schließlich Nein, mit Kat-ja habe er schon lange nicht mehr gesprochen, er betonte den Namen auf der falschen Silbe.
Ein seltsames Gefühl des Irrtums beschlich ihn, er sah den Mann, mit dem er doch so viel Zeit verbracht hatte, eindringlich an und fand doch nur vertraute Gesicht Stefans, älter, aber dennoch vertraut und – wie ihm langsam klar wurde – zutiefst unbekannt. Um das einsetzende Schweigen zu vermeiden und die spürbare Spannung zu verringern, fragte er halb scherzhaft nach der „Alten Runde“, der kleinen Gruppe, in der Stefan sich während des Studiums häufig zu Diskussionen und nächtlichen Blitzschachrunden getroffen hatte, zuweilen auch in seiner Begleitung, obwohl er sich nie der Runde zugehörig gefühlt hatte.
Wieder schien Stefan nachdenken zu müssen, sein Blick wanderte vom Waschmittel zum Weichspüler und dann zurück. Die seien doch alle schon lang nicht mehr da, sagte er dann nervös, mit denen spreche er nicht mehr und überhaupt sei das ganze ja schon vor langer Zeit gewesen, da habe er noch Blitzschach gespielt, und nein, das könne er heute nicht mehr, das sei nicht gut.
Er sah Stefans Blick nach, bis er erkannte, dass sein alter Freund nichts suchte: Dann versuchte er zu erklären, dass er die Frage nicht ganz ernst gemeint habe, aber Stefan schien ihn nicht zu verstehen. Schließlich fragte er stattdessen, ob Stefan hier häufiger einkaufe; er antwortete nicht sofort, stattdessen wandte er sich zwei oder dreimal um, sah in verschiedene Richtungen, erschien dabei teils bestimmt, teils unbestimmt. Nein, er sei nur heute hier, sonst gehe er nur selten in einen großen Warenhandel (er sagte das ganz betont, als ob sich dahinter noch etwas anderes verberge als der Supermarkt, in dem sie gerade standen), er habe eigentlich ein bestimmtes Produkt gesucht, aber das sei hier nicht zu bekommen, nur deshalb sei er hier. Einige Sekunden herrschte Stille, Stefan trat nervös auf der Stelle, doch sein Studienkollege gab noch nicht auf. Ob er ihm, Stefan, vielleicht helfen könne, was suche er denn, fragte er, Stefan schien die Frage zu verstehen, und zum ersten Mal sah sein Jugendfreund so etwas wie eine affektive Reaktion in seiner Antwort, wenn auch zögernd und nervös, Ja, das sei nicht so einfach, ob er denn etwas davon verstehe, eigentlich sei es sehr kompliziert. Nach nochmaliger Nachfrage sah Stefan wieder auf das Regal mit den Waschmitteln, er suche Geschirrspülmittel, aber es dürfe keine Citronensäure und keine Phentamyne enthalten
Den Begriff Phentamyn kannte er nicht, obwohl er promovierter Chemiker war; er fragte danach, doch Stefans Antwort leuchtete ihm nicht. Dass seien Zusatzstoffe, erklärte Stefan, immer noch von einem Fuß auf den anderen springend, giftige Zusatzstoffe, das sei doch bekannt.
Einen Moment lang dachte er darüber nach, suchte in seinem Gedächtnis noch einmal nach Phentamynen. Stefan hatte damals – genau wie er –  Chemie studiert, und als sie sich aus den Augen verloren hatten, war Stefan mit seinem Studium fast fertig gewesen; er fragte noch einmal nach einer Stoffklasse, konkreten Stoffbezeichnungen; Stefan nannte keine. Das sei schwierig, erklärte er stattdessen und sein Studienfreund wusste nicht, ob Stefan selbst sprach oder ob er nur rezitierte, es sei schwierig, denn die so genannte Wissenschaft (diesen Terminus schien er oft zu verwenden, denn er verschluckte einige Silben) sei derartig unterwandert, dass es kaum Studien in Fachzeitungen dazu gebe, allerdings könne er sich selbst ja ein Bild machen, und dann nannte er einige Namen und Internetadressen. Danach schwieg Stefan wieder, blickte einen Moment auf ein Handgelenk, an dem keine Uhr war, schüttelte den Kopf und machte dabei den Eindruck, als würde er gerade etwas im Geiste überschlagen.
Sein Freund blickte ihn wieder an, sondierte das vertraute, unbekannte Gesicht, fand keine Abweichung der Details, doch irgendetwas war anders. War es wirklich Stefan?
Wie es denn dem Hund ging (wie hieß er doch gleich?), Baxter, dem Hund seiner Eltern, fragte er schließlich, und er wusste selbst nicht, ob er die Frage als eine Art der Kontrolle stellte oder ob es ihn interessierte: Er schien damit einen falschen Punkt getroffen zu haben, denn Stefan wurde noch nervöser, zitterte regelrecht, schien nach Worten zu suchen: Tot sei Baxter, das wisse er. Tot, tot, mausetot. Phentamyn, sagte er dann, Phentamyn, und nickte dabei, als müsse er sich dessen bestätigen. Mit seinen Eltern spreche er seitdem nicht mehr, fügte er dann noch hinzu.
Er folgte dem Impuls, nach den genauen Umständen und Gründen zu fragen, aber Stefan schien nicht antworten zu wollen und blieb nebulös: So sei es manchmal, sagte er, die einen so, die anderen so, aber irgendwann…
Dann sprach Stefan nicht weiter, als ob ihm das offene Ende seines Satzes nicht aufgefallen sei.
Noch einmal blickte er auf sein Handgelenk, an dem sich keine Uhr befand: Er müsse jetzt auch weiter, es gebe viel zu tun, sagte er. Sein Schulfreund wollte noch nach einer Telefonnummer fragen, oder nach einer E-Mailadresse, aber da war Stefan schon zwischen den Regalen verschwunden.

Was geschah

An der Kasse traf er ihn wieder; zwei Polizisten in Uniform standen bei ihm und schienen sich mit ihm zu unterhalten. Er verfolgte die Szene, zahlte und ging hinaus. Er wollte zunächst zu ihm gehen, doch dann entschied er sich dagegen und blieb einige Meter hinter der Gruppe stehen, so dass er noch verstehen konnte, worüber sie sprachen.
Offenbar warfen sie Stefan vor, etwas gestohlen zu haben, und tatsächlich konnte er aus den Augenwinkeln sehen, dass einer der Polizisten einen Gegenstand aus seinem Rucksack zog, der nach einer Plastikflasche aussah. Stefan schien den Diebstahl auch nicht zu leugnen; er bestritt nicht, dass er den Weichspüler nicht bezahlt hatte. Doch dann schien er es sich anders zu überlegen und sagte immer wieder, er habe es tun müssen, er sei dazu gezwungen gewesen. Einer der Beamten, eine Polizistin, schien ihn schon zu kennen und erklärte ihrem Kollegen, dass es „schon mehrmals so gelaufen sei“. Stefan blieb zunächst stumm, als die Polizistin jedoch wiederholt von ähnlichen Diebstählen sprach, schien ihn das wütend zu machen, er wurde laut, das sei doch kein Diebstahl, ja, er hätte die Flaschen mitgenommen, aber dass sei doch kein Diebstahl. Die Polizistin unterbrach ihn, deutete ihm leiser zu sprechen und fragen, ob es nicht Diebstahl sei, wenn man Dinge nehme, die einem nicht gehörten, und das habe er ja bereits zugegeben. Einen Moment lang schien Stefan darüber nachzudenken, aber offenbar verstand er die Frage nicht oder wollte sie nicht verstehen. Nein, die Flasche habe er nicht mitgenommen, er habe sie zwar eingesteckt, aber bezahlt, sagte er schließlich und schien gehen zu wollen. Der andere Polizist hielt ihn am Ärmel, Stefan suchte sich loszureißen und schrie: Schließlich brüllte der Polizist, nun sei es aber genug und griff nach ihm. Sie drehten Stefan den Arm auf den Rücken und schoben ihn vor sich her; Stefan hatte nicht gesehen, dass sein Studienfreund die ganze Szene beobachtet hatte, und als der sich schließlich umdrehte, sah er ihn leise wimmern, von den beiden Polizisten geführt; der Ausdruck in seinem Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass Stefan nicht genau wusste, warum dies mit ihm geschah. Er sah ihm nach, bis der Streifenwagen das vertraute, unbekannte Gesicht verschluckte.

Einige Stunden später saß er tief über den Bildschirm gebeugt an seinem Schreibtisch. Der Gedanke war eigentlich lächerlich; er hatte damals viel Zeit mit Stefan verbracht, fast 14 Jahre lang (er hatte es ausgerechnet), ihn aber nach dem Studium aus den Augen verloren (das war jetzt 5 Jahre her, auch das hatte er herausgefunden). Für eine lange Zeit hatte er nicht einmal mehr an ihn gedacht, doch jetzt beschäftigte ihn dieser frühere Freund wieder. Er wusste nicht einmal, wonach genau er das Internet durchsuchte, weil ihm die Frage nicht klar war, die er zu beantworten suchte.
Einige Einträge, die noch aus Studienzeiten stammten, fand er schnell; er hatte die Adressen in seinen Unterlagen gelesen. So etwa ein Klausurergebnis von 2010:

Anorganik II: Stefan Anders: Bestanden: Note 1,7

Er hatte sich nicht geirrt, Stefan hatte Chemie studiert, genau wie er; und er war kein schlechter Student gewesen. Nach einiger Suche fand er auch einen Hinweis auf Stefans Abschlussarbeit. Zwar fand er die Arbeit selbst nicht, aber eine Mitteilung über hervorragende Ergebnisse im Studium. Stefans Name tauchte auch dort auf.
Nachdem er einige Stunden gesucht hatte, nahm er ein Blatt Papier und zeichnete darauf eine senkrechte Linie; einen Zeitpfeil. Oben schrieb er 2012 hin (er wusste nicht mehr genau, wann genau der Kontakt abgebrochen war; es war jedenfalls 2012 gewesen), ganz nach unten den 18.12.2017, den Tag, an dem er ihn wieder getroffen hatte. Nach und nach schrieb er mehr Daten dazwischen;

2013 – Abschlussarbeit.
2014 – Arbeitsstelle am Institut für anorganische Chemie in Dresden angetreten
7.12.2014 – Foto vom Betriebsausflugs des Instituts
13.12.2014 – Newsgroup-Eintrag zur Planung der Weihnachtsfeier
Januar 2015 – Betreuung von vier Lehrveranstaltungen (Anorganik I/II + zwei Seminare)
Mitte 2015 – Gruppenfoto von einer Konferenz in Berkeley

Einige Stunden suchte er weiter; er fand nichts mehr. Er konnte nicht herausfinden, wann er seinen Job in Dresden aufgegeben hatte. Auf der Webseite der Universität war er nicht mehr aufgeführt, es war nicht auszumachen, seit wann. Nach 2015 verlor sich schlicht seine Spur. Er erwog, diese seltsame Suche aufzugeben, und machte sich etwas zu essen. Dann sah er etwas fern, ohne sich dabei entspannen zu können. Schließlich setzte er sich wieder an den Computer, überlegte einen Augenblick, tippte eine andere Suchanfrage. Und fand eine E-Mailadresse; über die Adresse fand er nach einigen Minuten einen Nickname, über den Nickname eine weitere Mailadresse und damit schließlich einige Einträge in einem Forum.

1.5.2016 – erster Eintrag auf forum.phentamyn-luege.org

Bei genauerer Suche fand er viele Einträge in diesem Forum, die von Stefan stammen mussten. Es waren über Hundert, die meisten enthielten längere Texte, doch er las sie alle.
Er hatte schon direkt nach seiner Rückkehr aus dem Supermarkt festgestellt, dass so genannte Phentamyne Gegenstand einiger pseudowissenschaftlicher Theorien waren, die vor allem im Internet grassierten. Die Antwort auf die Frage, worum es sich dabei genau handelte, wurde je nach Theorie unterschiedlich beantwortet; soweit er es übersehen konnte, fielen für einige eine Reihe von willkürlich gewählten Säuren darunte, so etwa Citronen- oder Phosphorsäure, andere schienen eine unbestimmte Gruppe von Tensiden, also Seifenlaugen, darunter zu zählen. Wieder andere verstanden unter Phentamynen „nanoverstärkte Partikelchips“, ohne dass er hätte sagen können, was das nun genau bedeutete; auch der Zweck oder Effekt dieser Phentamyne schien strittig zu sein, einige Theorien schienen an so genannte Gedankenkontrolleprojekte der CIA anzuknüpfen, andere sahen schlicht eine über alle Maßen gesundheitsschädlichen Effekt, der von der Industrie geleugnet wurde, da die Phentamyne bei maschinellen Herstellungsprozessen unweigerlich in die Produkte gelangten und eine Entfernung zu aufwendig wäre. Alles in allem waren Phentamyne die ausgemachten Hirngespinste, um die sich Verschwörungstheorien stets drehten, und es gab für ihn keinen Zweifel daran, dass es keine derartigen Partikel gab. Die Quellen, die Stefan ihm genannt hatte, stammten allesamt von Verschwörungstheoretikern ohne jeden akademischen Abschluss und ohne nachvollziehbare Expertise; empirische Beweise fand es nicht.
Dennoch las er die Einträge, die Stefan offenbar verfasst hatte; die meisten waren wirr und voller Fachbegriffe, die teils der chemische Fachsprache, teils der Fantasie entlehnt waren. Es verwunderte ihn, dass aucb die chemischen, die Stefan doch beherrschen musste, in vollkommen falschen, wenn nicht gar absurden Zusammenhängen auftauchten. So sprach Stefan mehrfach von der „Orbitalstruktur der Herstellungsprozesse“ oder schien chemische Bindungen ganz analog zu mechanischen zu behandeln; genausogut hätte er auch behaupten können, dass Liebenswürdigkeit grün sei.
Die Erklärung lag auf der Hand; sein früherer Freund Stefan musste verrückt geworden sein. So etwas geschah, das wusste er. Manche Menschen verbissen sich so sehr in solch wirre Ideen, dass sie den Realitätsbezug verloren.
Seine Suche war damit vorüber, erkannte er. Zumindest hätte sie vorüber sein können; dennoch las er weiter. Etwas schien ihm unbefriedigend an dieser Erklärung, und nach einer Weile begriff er auch, was es war; nicht nur, dass er ein Vokabular falsch verwendete, welches er eigentlich im Schlaf beherrschen musste, es waren auch seine Ausführungen selbst, die inkonsistent blieben. Verschwörungstheorien hießen Verschwörungstheorien, weil sie eben Theorien waren; und als solche waren sie zwar meist völlig falsch und widerlegt, um nicht zu sagen, hirnrissig, aber wenigstens in sich konsistent. Sie enthielten – wenigstens in sich – keine allzu offensichtlichen Widersprüche. Und das galt nicht für Stefans Einträge. Er behauptete, Zitronensäure sei ein Phentamyn, und zwei Sätze dahinter sagte er das Gegenteil. Im einen Moment versuchte er zu beweisen, dass der CIA hinter den Phentamynen steckte, im nächsten verteidigte eine andere These. Je mehr er las, desto klarer wurde ihm, dass auch anderen Nutzern des Forums aufgefallen war, dass Stefan sich ständig widersprach. In Diskussionen las er, wie Stefan diese Kritik offenbar nicht verstand; Nichts von dem, was andere Nutzer schrieben, schien ihn zu erreichen. Es war nicht so, dass er anderer Meinung war, oder die Belege anderer nicht akzeptierte; er verstand sie, so schien es, schlicht nicht. Schließlich schienen sie es aufzugeben, ebenso wie Stefan.

2.7.2017 – letzter Eintrag auf forum.phentamyn-luege.org.

Er nutzte einige gefundene Daten, um weiter auf Stefans Spuren zu reisen; schließlich fand er in Video aus dem September. Offenbar hatte er eine öffentliche Vorlesung gestört, dabei Unverständliches gebrüllt, das sich mutmaßlich auf Phentamyne bezog. Das Video war offenbar mit einem Mobiltelefon aufgenommen worden. Man sah, wie Stefan schließlich von zwei Ordnern hinausgetragen wurde. An einer Stelle konnte er Stefans Gesicht erkennen; er war es ohne Zweifel. Er kopierte das Bild, druckte es aus und legte es neben ein altes, auf dem er zusammen mit Stefan zu sehen war. Ja, er war es. Das war der Mann, mit dem er früher Blitzschach gespielt hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie berüchtigt die Diskussionen in der Runde damals gewesen waren; er hatte Stefan immer bewundert, war manchmal neidisch gewesen. Stefan hatte über eine äußerst schnelle Auffassungsgabe verfügt und war dazu noch ein außerordentlich guter Rhetoriker gewesen, was für einen Naturwissenschaftler schon ungewöhnlich war. Doch darüber hinaus hatte er sich für so gut wie alles interessiert und war immer „auf dem neuesten Stand“ gewesen, wie er es selbst gern ausgedrückt hatte.
Er verwendete mehrere Stunden darauf, immer wieder die beiden Bilder zu vergleichen; das aus der Studienzeit und das aus dem Internet. Es waren die gleichen Gesichtszüge, er war es, ohne jeden Zweifel; aber wie konnte das sein? Selbst den größtenteils selbst wohl hochgradig verwirrten oder wenigstens paranoiden Benutzern des Forums war aufgefallen, wie widersprüchlich seine Auslassungen waren: Sie hatten ihn ausgeschlossen aus ihrer Gemeinschaft. Was war geschehen?
Er suchte weiter nach Spuren, die Stefan im Internet hinterlassen hatte. Auf einigen anderen Verschwörungsplattformen fand er Einträge, die er ihm zugeordnet hätte, aber sicher sein konnte er sich darüber nicht mehr; es waren immer unterschiedliche E-Mailadressen, immer andere Benutzernamen, und selten mehr als zwei oder drei Beiträge, die in sich so wirr und widersprüchlich waren, dass eine sichere Zuordnung unmöglich wurde. Einer der Beiträge fiel ihm auf; Stefan klagte darin (wenn er es denn geschrieben hatte) die Nutzer des Forums selbst an, Teil einer Verschwörung zu sein. Der Beitrag war recht lang, und nach wenigen Zeilen verlor er sich wieder in Widersprüchen, offenen Halbsätzen; der Schluss war bezeichnend: „ich allein gegen euch und ich allein allein und“. Der Satz endete nicht.

Nachdem er einige Stunden lang nichts mehr fand, beendete er seine Suche, kochte sich einen Kaffee und trank ihn, während er weiter die Bilder betrachtete.

Immer noch schien es ihm nicht zu genügen, dachte er: möglich, dass eine psychische Krankheit für seine Veränderung verantwortlich war. Aber wie war es dazu gekommen? Menschen veränderten sich nicht von einem Tag auf den anderen in dieser Weise, und auch verrückt wurde man nicht in einem Augenblick. Schließlich begriff er, was ihn störte; Es war schlicht keine Erklärung für sein Verhalten, wenn er nur sagen konnte, Stefan sei verrückt. Es ließ die Frage nach dem Warum weiter offen, und es gab nicht den Hauch eines Hinweises darauf, wie sich Stefan konkret verhalten würde. Wenn man jemand nur wüsste, dass Stefan verrückt war, aber nichts weiter, dann wüsste er deshalb nicht das geringste darüber, wie Stefan sich gab, was er sagte und wann (oder warum). Aber welche Erklärung gab es dann? Die Frage war, warum er verrückt geworden war. Als er darüber nachdachte, fiel ihm sofort die Möglichkeit eines Unfalls ein. Es gab Linien auf dem Gesicht Stefans in dem Video: Er hatte sie bisher für Artefakte des Kompressionsverfahrens gehalten, aber als er länger darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, wie seltsam verändert ihm Stefans Gesicht vorgekommen war. War es nur seine Mimik gewesen, der Ausdruck darin, oder waren es möglicherweise Deformationen, die man nach einem schweren Unfall zuschreiben konnte? Als er den Gedanken einmal gefasst hatte, ließ es ihn nicht mehr los. Schließlich setzte er sich wieder an den Computer und begann gezielt, nach den Benutzernamen und E-Mailadressen zu suchen, die er bereits gefunden hatte: Diesmal jedoch fügte er der Suche einige andere Begriffe hinzu: Eine halbe Stunde war es „Unfall“, dann „Trauma“: Schließlich suchte er auch noch einige andere Begriffe und verknüpfte sie auf komplizierte Weise.

Schließlich fand er etwas, dass seine Aufmerksamkeit weckte: Den Newsgroup-Eintrag eines Arztes der Universitätsklinik Dresden.

12. September 2015 – Artikel „Concerning Case Study Stefan A.“

Viele Details des vier Seiten langen, englischen Artikels blieben ihm unverständlich, obwohl er einige Dutzend medizinische Fachwörter heraussuchte und auf ein Blatt Papier schrieb: Im Wesentlichen schien es aber um einen Unfallpatienten zu gehen, den der Arzt betreut hatte: Die Fallstudie beschrieb sehr genau, welchen Verlauf psychische und physische Folgen eines nicht näher beschriebenen Unfalls nahmen. Von einer „cranial fracture“, also einem Schädelbruch war die Rede, auch von einem Hirntrauma. Weiterhin beschrieb der Artikel psychotische und zwanghafte Phasen des Patienten, über dessen Identität natürlich keine weiteren Informationen angegeben waren, von „Stefan A.“ und seinem Alter abgesehen: es passte zu Stefan Anders.

Einige Minuten zögerte er, dann schrieb er die Mailadresse des Arztes ab und verfasste eine kurze Nachricht an ihn: Der Kaffee war inzwischen kalt geworden. Er versendete die Mail noch nicht, ging in die Küche und setzte neuen auf. Während er vor der Maschine stand, dachte er darüber nach, was für ein Unfall es gewesen sein könnte: Vielleicht war er mit dem Auto von der Straße abgekommen; vielleicht war er mit dem Fahrrad gestürzt. Es könnte auch eine Ziegel gewesen sein, die sich nach einem Sturm vom Dach gelöst hatte: er konnte es nicht wissen. Noch nicht. Wenn der Arzt ihm antworten würde – und das war durchaus denkbar, wenn auch unwahrscheinlich – dann hätte er die Antwort. Dann würde er verstehen.

Kaum hatte er das gedacht, stutzte er. Was genau würde er dann verstehen? Wie er verletzt worden war? Sicher. Aber würde er auch wissen, wie aus dem alten Stefan der neue geworden war? Er überließ die Kaffeemaschine ihrer Arbeit, setzte sich wieder vor den Bildschirm und las die Nachricht, die er verfasst hatte: „Ich möchte verstehen, was geschehen ist.“, mit diesen Worten hatte er seine Bitte abgeschlossen. Er dachte über die Worte und über seine Frage nach, bis die Kaffeemaschine nur noch leise zischte. Die Frage war ganz richtig formuliert, aber weder sie noch die Antwort würde ihm helfen können: Denn es ging nicht darum, was mit dem Auto, dem Fahrrad oder der Ziegel geschehen war oder mit Stefans Kopf. Es ging um das, was mit Stefan geschehen war, und dafür gab es keine Erklärung. Er schob die Mail in den Papierkorb.

Es war völlig egal, welchen Titel, welche Bezeichnung er für Stefans Veränderung verteilte. Was hieß „verrückt geworden“ anderes, als dass er heute anders war als früher? Das war keine Erklärung, nur eine Beschreibung des Offensichtlichen. Die Frage danach, warum er denn verrückt geworden war, half nicht weiter, denn ebenso verhielt es sich mit den Antworten auf diese Frage: Vielleicht war es ein Unfall gewesen; auch das war nur eine Beschreibung. Ein Unfall ist ein Ereignis, nach dem Dinge anders sind als zuvor, oder es zumindest sein können. Ob der Arzt ihm nun die Wahrheit sagen würde; ob Stefan sein Patient gewesen war; ob er verrückt oder invalide war; es würde nichts ändern. Die Erklärung blieb leer, weil es keine geben konnte. Niemand kannte den Mechanismus, der den alten Stefan zu Stefan gemacht hatte, und würde jemand ihn kennen, so würde er wieder nur eine Beschreibung davon geben können, dass der alte Stefan nicht mehr existierte, während es einen anderen Menschen gleichen Namens gab. Wenn der Arzt ihm Unterlagen schicken würde, Krankenakten, in denen dann stehen könnte, dass Stefans Kopf an dieser oder jenen Stelle und hier oder da verletzt wurde, so könnte er das alles lesen und würde doch nicht mehr wissen zuvor. „Der Stein traf Stefan A. zwei Zentimeter oberhalb der rechten Schläfe. Eine Spitze drang dabei 0,7 Zentimeter tief ein und verursachte ein Hämatom mit einem Durchmesser von genau drei Zentimetern, nur zweieinhalb Millimeter entfernt vom Zentrum des […]“. So würde es vielleicht klingen; aber was würde das bedeuten? Nichts, wenigstens nicht mehr als das, was er auch ohne den Bericht sehen konnte: Stefan war anders geworden. Den Stefan aus seiner Vergangenheit gab es nicht mehr. Übrig war seine Hülle, gefüllt mit einem anderen.

Die Krankheit

Diesen Artikel drucken 7. Februar 2010

Der Bus der Linie 8 hielt um 15:03 Uhr am Klinikum. Zweimal schon hatte er auf die Notiz in seinem Mantel sehen müssen, um sich wieder daran zu erinnern: beständig hielt er eine Karte des Arztes zwischen den Fingern, um die Zimmernummer nicht zu vergessen. Er fragte sich, ob es an der Aufregung lag oder ob es Teil der Krankheit war.
In der Klinik angekommen brachte man ihn zu einem Wartezimmer. Nach wenigen Minuten kam eine Schwester mit undurchdringlicher Miene und führte ihn in einen Besprechungsraum: Der Arzt hatte schon begonnen zu reden, bevor er den Raum betreten hatte.

„Ich muss ihnen leider mitteilen, dass die Krankheit noch nicht sehr gut erforscht ist; Es gibt nur wenige Hundert dokumentierte Fälle auf der Welt, und bisher gibt es nur eine verlässliche Untersuchung zu dem Thema. Ich muss gestehen, ich hatte selbst noch nie davon gehört, und wenn es da nicht einen sehr engagierten Assistenzarzt gegeben hätte, der die Arbeit zufällig gelesen hatte, dann wüssten wir vermutlich nichts mit ihren Symptomen anzufangen. Ein amerikanischer Arzt – Bridge – hat vor zwei Jahren Patienten untersucht, die zunächst unter den meisten der von ihnen beschriebenen Symptomen litten. Ich kann es ihnen nur sagen, wie es ist; Bridges Patienten sind alle tot. Sie starben innerhalb weniger Jahre nach Ausbruch der Krankheit, und man kann seine Arbeit leider auch kaum mehr nennen als eine Systematisierung der Symptome in ihrer zeitlichen Abfolge, also ein Phasenmodell. Es gibt keine weitere Forschung auf dem Gebiet, weder laufend noch abgeschlossen. Die Pathogenese liegt völlig im Dunkeln, und keins der Präparate, die üblicherweise bei solchen Befunden verabreicht werden, hatte irgendeinen Einfluss auf Bridges‘ Patienten. Wir können und werden natürlich auch bei ihnen eine Reihe von Medikamenten und Therapien versuchen, aber momentan sieht es, so schwer das auszusprechen ist, sehr, sehr düster aus. Ich kann ihnen auch kaum Hoffnungen auf eine Fehldiagnose machen. Die Blutmarker, die man dem Bridge-Syndrom zuordnet, sind eindeutig und in großer Zahl nachweisbar.“

Er entschuldigte sich bei dem Arzt, der nur stumm nickte, verließ das Besprechungszimmer und ging einige Schritte hinüber in einen der Waschräume. Einige Sekunden dauerte es, bis er begriff, wie man die Armaturen bediente, dann floss das Wasser in ein silbriges Waschbecken. Er tauchte seine Hände hinein und wusch sie ausgiebig; erst säuberte er die linke Hand sorgfältig, dann die rechte. Als er fertig war, fand er nichts, um sie zu trocknen. Schließlich rieb er sie an seiner Hose und dem Pullover. Als er sich zur Tür drehen wollte, sah er den gelben Schein hinter dem Milchglas: Die Sonne schien endlich wieder. Es würde warm werden. Er lächelte still und fast ausdruckslos in sich hinein, dann ging er.

„Das Phasenmodell ist relativ präzise. Es basiert auf einigen Dutzend Verläufen der Krankheit, und die leider äußerst starke Ähnlichkeit zwischen diesen Abläufen motiviert Bridges Einteilung in vier Phasen; ich denke, über die sollten wir jetzt doch sprechen, auch wenn das sehr unangenehm sein wird.
In Phase Eins befinden sie sich, so wie wir das einschätzen, gerade jetzt: Sie ist vor allem gekennzeichnet durch eine Reihe von verhältnismäßig leichten Symptomen, die noch relativ unspezifisch für das Bridge-Syndrom sind, so etwa Konzentrationsstörungen – von diesen haben sie ja auch berichtet- aber auch kleinere Störungen der Kurzzeitgedächtnisses sowie eine gewisse Mattigkeit. In den meisten Fällen wird das Bridge-Syndrom zu diesem Zeitpunkt noch nicht diagnostiziert, viele Patienten suchen nicht einmal einen Arzt auf. Wenn sie es doch tun, so kommt meist gar keine Diagnose zu Stande, bevor nicht Phase Zwei beginnt, oder aber es werden andere neurologische Erkrankungen angenommen, wie etwa Demenz oder Alzheimer. Insofern könnte es möglicherweise von großer Bedeutung für ihre Therapie sein, dass wir das Bridge-Syndrom bei ihnen schon so früh erkannt haben.“

Er bedankte sich für die Offenheit des Arztes, der in mit seltsam stummen Augen ansah und während des Gesprächs immer wieder seinen Blick gemieden hatte, und verabschiedete sich. Zunächst hatte er die Ausführungen des Arztes für unpassend kalt gehalten, aber er verstand, dass auch dieser von der Situation betroffen war. Noch auf dem Weg aus dem Raum wählte er die Nummer seine Frau und erklärte ihr, was man ihm gesagt hatte; dann weinten beide, bis er schließlich wortlos auflegte.

Im Lift traf er wieder auf den Arzt mit den stummen Augen, der ihn knapp grüßte.
„In Phase Zwei werden die Störungen des Kurzzeitgedächtnisses schnell drastischer. Der Einfluss der Störungen auf das Alltagsleben der Patienten wird schnell sehr groß. Einigen gelingt es zwar, den Alltag bis zum Eintritt von Phase Drei selbst zu bestreiten, aber Bridges‘ Ergebnissen nach beschleunigt dies den Verlauf der Krankheit. Insofern sollten wir darüber nachdenken, sie aufzunehmen. Es gibt einige sehr charakteristische Symptome, die sich in Phase Zwei einstellen. So nehmen empathische Regungen der Patienten ab; ihr Interesse am Schicksal anderer nimmt ebenso ab wie das an ihrem eigenen. Das mag der Grund dafür sein, dass das Bridge-Syndrom erst in den letzten Jahren als Krankheitsbild isoliert wurde. In vielen Fällen hat man diese Symptome einfach für eine Form von Akzeptanz gehalten, ganz im Sinne der gängigen psychologischen Trauermodelle. Bridge konnte durch neurologische Untersuchungen aber beweisen, dass es sich um eine tatsächliche Aktivitätsabnahme in einigen Hirnbereichen handelt, die sich psychologisch nicht erklären lässt. Ebenso wird eine steigende Reiz- und Schmerzunempfindlichkeit beobachtet: Viele Patienten berichteten davon, dass sich bekannte Gegenstände oder Eindrücke plötzlich anders anfühlten, oder dass sie einige Dinge kaum wiedererkennen, ohne dass dies auf einen Erinnerungsverlust zurückzuführen ist. Es ist völlig unklar, wie dies im Zusammenhang mit den anderen Symptomen steht oder ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt.“

Der Arzt begleitete ihn bis in sein Zimmer, wo ein Pfleger schon wartete: er wurde gewaschen, man zog ihm ein Krankenhemd an. Schließlich wurde er in ein Bett gelegt, von wo aus er aus dem Fenster sah, bis seine Frau ins Zimmer kam,
„Ich liebe dich.“ sagte sie und lächelte ihn an. Die Sonne stand hell am Himmel, und sie hatten einige Zeit, bis sie weiter mussten: sie küssten sich innig.

„Du hast nicht angeklopft“ sagte er dann nüchtern. Sie küsste ihn auf die Wange; ihre Augen waren gerötet und von einem dunklen Kranz umgeben. Er schob sich aus dem Bett und stützte sich dabei, so gut es ging, auf die Krücken. Sie wollte aufstehen, um ihm zu helfen, aber er deutete ihr, sitzen zu bleiben. Einige Schritte bewältigte er mit tauben Beinen, dann knarrte eine der Krücken seltsam blechern. Er schlug auf den Boden, ohne eine Ton von sich zu geben, und blieb auf der Schulter liegen: über sich er konnte die dampfende Kaffeetasse auf dem Tisch sehen. Seine Frau schrie auf, und eine Tür wurde geöffnet. Man hob ihn zurück ins Bett.
Die Rosen rochen nicht mehr; Er trank einen Schluck kalten Tee, den ihm seine Frau anreichte. „Was wäre denn anders, was wäre besser, wenn wir uns nicht kennengelernt hätten?“fragte sie so, als ob sie eine Gegenfrage stellen würde, ihre Stimme klang tränenerstickt; „Bald wird es so sein als ob.“ antwortete er kühl. Sie weinte. Er drehte sich zur anderen Seite des Bettes und starrte in den grauen Himmel. Als sie schließlich ging, kam der Arzt und fragte nach seinem Befinden. Er antwortete nicht, und der Arzt redete einige Minuten auf ihn ein.

„Mit Phase Drei beginnen die völlig unverstandenen Symptome des Bridge-Syndroms. Während der Verlust der Kurzzeitgedächtnisses nicht weiter fortschreitet, bilden sich schwere Störungen der Erinnerungskoordination aus, wie Bridge es nennt. Anfangs sind es kleine Episoden, die der Patient sozusagen verschiebt, also die zeitliche Reihenfolge verändert. Ein Patient von Bridge etwa glaubte, erst nach dem Mittagessen gefrühstückt zu haben, und beschwerte sich daraufhin beim Klinikpersonal. Diese Art der Vermengung von Erinnerungsepisoden nimmt stetig zu. Anfangs scheint ein psychologischer Mechanismus noch zu bewirken, dass die Patienten anstatt der eigentlichen Geschehnisse eine andere, zusammenhängende Geschichte erzählen, aber dieser Effekt verliert sich mehr und mehr, je stärker die Fehlordnung wird. Um ein Bild zu gebrauchen, erzählen die Patienten am Anfang der Phase Drei noch stimmige Geschichten, auch wenn sie falsch sind: Es ist ihnen auch wichtig, dass sie stimmig sind und als wahr akzeptiert werden. Im späteren Verlauf dagegen nimmt diese Neigung ab. Erinnerungen werden kaum noch verknüpft, Ereignisse folgen völlig unzusammenhängend aufeinander, Orte, Zeiten und Personen werden unablässig ausgetauscht. “

Er setzte sich einen Kaffee auf und sah in etwas, dass er für einen Spiegel hielt; heute war ein guter Tag zum Wandern. Dann nahm er einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und stopfte sie in den Rucksack. Draußen wartete sie bereits: Die Rose schien sie sehr zu freuen. Er hatte geplant, sie ihr erst auf dem Gipfel zu geben, es aber dann verworfen. Sie umarmte ihn lang, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg in die Klinik.

„Die Patienten scheinen dies nicht mehr bemerken oder korrigieren zu wollen. Damit zusammenhängend entwickelt sich ein weiteres Symptom, welches wir nicht einmal im Ansatz begreifen: die Patienten verlieren sich, um es wenig technisch auszudrücken. Es scheint so, als würden sie sich immer mehr zurückziehen. Neben den schwächer werdenden Reizreaktionen bilden sie auch eine Parese aus. Sie bewegen sich kaum; auf Ansprache reagieren sie nur selten, und wenn, dann nur einsilbig und teilweise geistig klar, teilweise deutlich verwirrt. Im Übergang zu Phase Vier reden sie manchmal, auch ohne jede Veranlassung, plötzlich los und erzählen von sich selbst oder ihrem Leben, stets aber jedoch in der dritten Person, so als ob sie über jemanden anders berichten würden. Auch hier zeigen sich die charakteristischen Episodenverschiebungen. In einigen Fällen wurde festgestellt, dass die Patienten zwar noch auf Fragen antworten konnten, so wussten sie etwa noch, in welchem Krankenhaus sie waren, aber Fragen nach ihrer Person schienen sie überhaupt nicht mehr zu verstehen, sie reagierten verwirrt bis gereizt.“

Er hatte dem Arzt zugehört, dabei aber ein Pärchen beobachtet, welches sich scheinbar unablässig vor dem Fenster des Besprechungsraums küsste. Sie schienen ihn nicht zu bemerken: ein anderer Mann, der schon eine Weile neben ihm saß, schien eine Frage zu haben.
„Wie wird es enden? Was wird mit mir geschehen?“ Einen Moment lang dachte er an das Schicksal des Mannes, der so aufgelöst klang, dann dachte er an das Pärchen vor dem Fenster.

„Phase Vier endet mit dem Tod; die neurologischen Befunde, die bisher erbracht wurden, zeigen eine fortgesetzte Zerstörung wesentlicher Hirnbereiche, die bisher immer zum Tod führte. Wie ich gerade schon sagte, ich kann ihnen auch kaum Hoffnungen machen. Der Verlauf nach Bridge besagt, dass die Reaktionen auf äußere Einflüsse immer weiter abnehmen, gleichzeitig scheinen die anderen Symptome in ihrer Ausprägung erhalten zu bleiben, soweit man das sagen kann. Es mündet schließlich in eine Art Wachkoma, in dem die Patienten für wenige Monate verbleiben, bis sie schließlich sterben. Es scheint so zu sein, als ob sich das Gehirn in Abwesenheit äußerer Reize teilweise regeneriert, was die Zerstörung des Hirngewebes verlangsamt.“

Er saß in einem Bus der Linie 8 und starrte aus dem Fenster: in der Hand hielt er eine Visitenkarte mit einer Adresse darauf, die er unablässig zwischen den Fingern drehte. Neben ihm unterhielten sich andere Fahrgäste.

„Aber was bedeutet das? Wie wird es am Ende sein?“

„Das können wir nicht wissen, eben weil noch nie ein Patient aus diesem Zustand erwacht ist. Man kann nur Vermutungen anstellen; Bridge hat festgestellt, dass die komatösen Patienten für lange Zeit noch rege Hirnaktivität aufweisen, auch wenn sie der in Phase Drei gemessenen gleichkommt. Man kann nur spekulieren; sicher ist, dass sie keine Schmerzen mehr haben. Die Beschäftigung der späten Phase Drei-Patienten mit Erinnerungen deutet daraufhin, dass auch im Wachkoma immer wieder Erinnerungen hin- und hergeschoben, neu verknüpft und anders erlebt werden. Was davon bewusst erlebt wird, ist eine andere Frage; die Patienten ziehen sich, wie ich schon erwähnte, von sich selbst als Subjekt immer stärker zurück. Sie sprechen von sichn ur noch, als würden sie über Dritte sprechen; manchmal erzählen sie ganze Episoden oder Verknüpfungen aus diesen, als wären es Kurzgeschichten, die einem fiktiven Protagonisten geschehen sind. Vielleicht ist es so, Bridge vermutet es jedenfalls; vielleicht bleibt von den Patienten noch ein Rest, so etwas wie ein Beobachter oder ein Leser, der auf das verworren und unverständlich gewordene Leben und Erleben eines Dritten starrt.“

edit: Das ist wohl die Folge, wenn man so spät noch schreibt: zehn Fehler habe ich gerade korrigiert, der eine oder andere könnte aber noch da sein.

Transformation

Diesen Artikel drucken 18. Januar 2010

Ich bin nur ein Mensch; dennoch gibt es drei, möglicherweise vier Personen, die diese Aufzeichnungen abfassen oder wenigstens später glauben werden, sie verfasst zu haben. Ich weiß nicht, wer sie tatsächlich verfasst; womöglich ist diese Unsicherheit auch nicht aufzulösen, vielleicht ist sie dem Menschlichen selbst geschuldet, der Abhängigkeit der Wahrheit von der Perspektive des Subjekts. Es ist mehr eine vage Spekulation, dass die Person, die diese Zeilen gerade schreibt, einen Mischzustand bildet, von dem man nicht sagen kann, ob und wann seine Vieldeutigkeit wieder in die Homogenität eines einzelnen Individuums, einer diskreten Person übergeht, auch wenn ich mir sicher bin, dass der Plan, der alles leitet, dies als letzten Zweck beinhaltet.
Inhalt und Zweck meiner Aufzeichnung aber ist, das ist mir recht klar, eine Erläuterung des Begriffs der Transformation, gleichsam ein Abschied, eine notwendige (wenn auch unvollständige) Erinnerung und eine Rechtfertigung, bestimmt für den Menschen und die Person, die einmal glauben werden, die Zeilen geschrieben zu haben, wenngleich dies in gewisser Hinsicht auch wahr sein mag.

Die Transformation bezeichnet, allgemein gesprochen und vom technischen Terminus befreit, den Wandel des einen hin zum anderen vermöge eines Dritten; Dies mag, wenigstens im Nachsatz, allgemein nicht richtig sein. Wo, so könnte man fragen, ist der Dritte beim Wandel, bei der Transformation des Bäumchens zum Baum? Diesem Einwand gebe ich statt, möglicherweise ist es nur eine facon de parler, wenn ich von dem Dritten spreche. Wenigstens in dieser Form aber mag man mir dann zustimmen; der genannte Wandel würde sich wohl nirgendwo in der Natur vollziehen, wäre da nicht genug Licht, Wasser und anderes, auch nicht ohne den verborgenen Plan der Natur dahinter (wenn man mir diese Metapher gestattet). Im Falle des Baumes mögen wir nichts davon wörtlich den Dritten nennen, es widerspräche auch dem wissenschaftlichen Weltbild und jeder empirischen Erkenntnis, einen solchen zu benennen.

In der Transformation, die das Ding betrifft, dessen Hand diese Zeilen schreibt, gibt es sehr wohl einen solchen Dritten, und dessen Rolle nehme ich zur Zeit ein; es ist eine Rolle, weil ich sie bald, spätestens aber morgen abgeben werden, und weil mich diese Rolle nicht völlig bestimmt. Ich bin eine temporäre Erscheinung, so wie der Eindruck von einer Person, den man im Halbdunkel gewinnen kann, kurz bevor man diese dann als Bekannten erkennt, aber dabei immerhin von solcher Dauer, dass mir diese Aufzeichnung möglich ist.

Ich besitze drei kleine, schwarze Bücher, die voll sind mit Bauplänen, technischen Zeichnungen und Spezifikationslisten. Abgesehen von den ganz offensichtlich unverrückbaren Parametern, die in der Transformation keine Berücksichtigung finden können, weil sie nicht zu ändern sind – so etwa gewisse Maße oder auch Strukturen der äußeren Erscheinung, ist in den Unterlagen alles bis ins Kleinste berücksichtigt. Es finden sich darunter auch naturgetreue Zeichnungen von Brustmuskulatur und Brillenbügeln; diese in ihrem Planungsaufwand paradoxerweise zeitraubenden Merkmale werden in der Realisierungsphase, in der ich mich nun befinde, nur verhältnismäßig wenig Aufwand bedeuten. Arbeitsintensiver werden dagegen die Teile der Transformation ausfallen, die in den endlosen Spezifikationslisten auf- und ausgeführt sind und in ihrer Natur wesentlich funktioneller sind, tiefer liegen, sozusagen. Das soll nicht bedeuten, dass sie für den Beobachter nicht erkennbar sind oder Ähnliches, ganz im Gegenteil, der größte Teil der Spezifikation betrifft ja gerade das Verhalten, welches wie keine andere Größe bestimmt, wer wir für andere sind, wer ich für den anderen bin. Mag es zwar der äußeren Erscheinung nicht zugerechnet werden – und so scheint es Konvention zu sein – stellen die Spezifikationen doch einen Großteil dessen bereit, was wir allgemein den Eindruck von einer Person nennen.
Die Schwierigkeiten, mit denen diese Abschnitte der Transformation behaftet sind, bedürfen wohl kaum einer Erklärung; zu betonen bliebe nur, dass diese, Disziplin, Technik und Opferbereitschaft vorausgesetzt, allesamt mit großer Sicherheit lösbar sind, auch wenn mir die technischen Details – so will es Spezifikation #12 – nicht mehr bekannt sind. Da Spezifikation #12 zu Charge #2 gehört, welche ich also bereits am zweiten Tag in meiner Zelle eingenommen habe, gehe ich davon aus, dass der Person, die ich als Mensch einmal war, gerade diese Veränderung, dieses Vergessen, äußerst wichtig war. Ich kann nur spekulieren, warum dies so ist; möglicherweise hatte diese Person erkannt, dass das Wissen über die Transformation und ihre genauen Gesetzmäßigkeiten, die pharmazeutischen und medizinischen Geheimnisse, die zur Erzeugung der Chargen notwendig waren, zu gefährlich seien, um sie einem nachgerade doch völlig Unbekannten mitzugeben.
Mir scheint es auch nicht nötig, den genauen Prozess zu kennen; die Technik ist meiner Überzeugung nach in sich perfekt (dies gebot schon Spezifikation #2), und der Wandel geht so rasch voran, dass ich diesen Brief trotz der relativen Stabilität meines Bewusstseins zügig abfassen muss. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass ich vergesse fortzuschreiben: Einmal schon muss dies geschehen sein, denn ich erinnere mich nicht mehr an die ersten Zeilen.
Ich akzeptiere diese Beschränkung freimütig, kann ich doch erkennen, dass der Prozess vorangeht. Noch sehe ich viele Brüche, viele sich widersprechende Haltungen und Eigenheiten an oder in meinem Charakter, doch sie lösen sich unter der Behandlung mehr und mehr auf, wechseln zu einer tiefen Harmonie, die nicht einmal die Natur hervorbringt. Bis gestern etwa liebte ich den Jazz, doch verabscheute seine stumpfen Rhythmen (Spezifikation #155), was mir jeden Musikgenuss verleidete und mich tonlos in meiner Zelle sitzen ließ, obschon doch eine Musikanlage darin steht.
Heute nun habe ich entdeckt, dass ich Chopin liebe, und seitdem höre ich ihn mit Genuss. Ich sah in die schwarzen Bücher: es wird bleiben (#196). Ich werde Chopin immer lieben! Es ist nicht die einzige Veränderung, welche die letzte Charge bewirkte: Einige sind mir bewusst, so etwa meine ewige Liebe zu Chopin oder meine weiter gefestigte Haltung gegenüber Fleisch und fettiger Nahrung (heute Mittag ließ ich das Fleisch auf dem Teller, es ekelte mich zutiefst an), andere dagegen sind mir weitestgehend verborgen: Ich habe von ihnen gelesen, aber es erscheint mir nicht, als ob sich etwas verändert hätte. Von den 54 Chargen sind nur noch 22 übrig: Ich bin die Liste von Charge #32, also die Reihe von Eigenschaften, die ich mir noch geben werden, bereits heute morgen durchgegangen. Ich freue mich darauf, Mitleid mit den Armen zu empfinden, und ich freue mich ebenso, morgen nicht mehr zu sein, weil ich jemandem anders, einem anderen Dritten Platz mache. Die kümmerliche eine Person, die in den meisten Menschen wohnt, ist versucht dem Tod zu entgehen, das weiß ich wohl. In meinem Fall scheint es aber anders zu liegen: Ich bin nur ein Zwischenprodukt, und unfertig wie ich bin, wäre das Leben mir wohl eine Qual, wüsste ich nicht, dass es vorbeigeht und einem anderen, harmonischeren Platz macht, welches wiederum unausweichlich dem Ausgang der Transformation entgegenstreben wird (entsprechend Spezifikation #1), so wie ich es tat, als ich die heutige Charge einnahm.

Transformation

Mir erscheinen die Zeilen, die oben von einer Erinnerung, gar einer Rechtfertigung künden, als ein seltsames Artefakt, welches zwar möglicherweise nicht wünschenswert, aber dennoch von dokumentarischem Belang ist: Ich konnte den Autoren der Worte eingrenzen auf den Bereich zwischen Tag/Charge 5 und Tag/Charge 8. Erst #30 und #32 eliminierten jede Form von Schuld und jede Verantwortung für die Person, die diese Transformation vormals geplant und eingeleitet hat, während #18 den Wortschatz etablierte, der sich in den Sätzen zeigt. Sollte ich eine Bezeichnung wählen, so schrieben es entweder Nummer Fünf, Sechs, Sieben oder Acht. Ich bin Nummer 32 in dieser Hierarchie, und damit so gänzlich verschieden von jenen, dass mir ihre Gedankengänge nicht mehr zugänglich sind: man mag mir verzeihen, wenn ich keine Rechtfertigung, nicht einmal eine Erinnerung niederschreiben kann. Ich erinnere mich nicht und es gibt nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste. Der Gedanke daran, dass ich vormals ein anderer war, und dass dieser andere aus Gründen, die mir verborgen bleiben, diesen Weg wählte, um durch Transformation – und durch mich sowie meine Vorfahren und Nachfolger – ein anderer zu werden, schreckt mich nicht, noch weckt es in mir Bedenken (#31 und #33). Sollte ich spekulieren, und dies ist mir aufgrund der bereits verinnerlichten psychologischen Kenntnisse möglich, so kann ich nur vermuten, dass der Erschaffer der Chargen, dem ich mich so nah fühle wie auch einem Hausschwein oder einem Hasen, in höchstem Maße verzweifelt, bei all dem Leid aber auch in technischer (und nicht zuletzt künstlerischer, man denke nur an Chopin!)  Hinsicht begabt genug war, um diesen Weg zu finden. Mir ist nicht bekannt, aus welchen Gründen er nicht sein wollte, wer er war, wohl aber ist mir die Tatsache vertraut, dass es den meisten Personen schwerfällt, nur eins zu sein und daran nur mühsam etwas ändern zu können: Möglicherweise, so denke ich es mir, war er gar nicht so verschieden von all den anderen Wesen. Auf eine Art erscheint es mir grausam, dass er mir, dir und uns die Fähigkeit nahm, auch anderen Menschen derart zu helfen; es gäbe viele, die den Prozess bereitwillig durchlaufen würden, so denke ich es mir, auch wenn ich weiß, dass #212 dies ändern wird. Die Natur, so sagt es bereits die Alltagsvernunft der meisten (#77), schafft nur selten wahrhaft harmonische, weil stimmige Strukturen. Kein Baum, an dem nicht ein Makel der Asymmetrie wäre, kein Vogel, dessen Gefieder nicht die eine oder andere Unstimmigkeit besäße: mit den Menschen und den Personen, die ihnen innewohnen, ist es nicht anders. Der Charakter wächst wild wie Gestrüpp oder Unkraut, ohne dass es je einen Gärtner gegeben hätte, und nur allzu schnell nistet sich der Makel ein, zerstört die Schönheit absoluter Symmetrie. Ich kann mich glücklich schätzen, dass der Mann, der einst die Bücher schrieb, die Technik entwickelte und die Zelle für die Dauer der Transformation einrichtete, uns und vor allem dich, der du am letzten Tag diese Zelle verlassen wirst, nicht diesem Schicksal überließ. Die Natur mag aus dem Nichts das Schöne hervorbringen; doch zu ihrer Perfektionierung braucht es den geschulten Intellekt – und die Transformation.

Der Traum und die Anderen

Diesen Artikel drucken 14. Januar 2010

Es war bereits zehn nach fünf, als er zum ersten Mal an diesem Abend – oder besser Morgen – die Zeit fand, eine kleine Pause zu machen. Das war nichts Ungewöhnliches an einem Freitag; der Laden war meist völlig überfüllt, und da er der einzige war, der an der hinteren Theke bediente, hatte er meist alle Hände voll zu tun. Er schenkte aus, kassierte, nahm die nächste Bestellung entgegen, ununterbrochen; es war anstrengend, zumal es in der Nähe der Tanzfläche so heiß war, dass manchmal Kondenswasser von der Decke tropfte.
Jetzt, um zehn nach fünf, lichtete sich die Tanzfläche langsam. Diejenigen, die schon den ganzen Abend bei ihm bestellt hatten, waren entweder auf dem Weg nach Hause oder hatten genug. 30 oder 40 Leute tanzten noch; er kannte einige vom Sehen. Manche schienen direkt von der Spätschicht hierher zu kommen, um noch einige Stunden zu tanzen, bevor sie erschöpft ins Bett fielen. Der Laden schloss in der Regel erst um 7 oder 8; offiziell war natürlich um halb 6 Schluss, aber damit nahm es sein Chef nicht so genau.
Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf einen Hocker, der am Rand der Theke stand. Einen Moment lang schweifte sein Blick über die Tanzenden, versuchte sich an den Namen des Lieds zu erinnern, das gerade gespielt wurde; jemand sang von der Kürze des Lebens und davon, wie sehr uns die Zeit fehlt, den Anderen zu finden. Dann sah er das Buch.

Es lag zwischen Wand und Theke: Wenn die Wände nicht aus spiegelndem Glas gewesen wären, hätte er es gar nicht entdecken können. Es fiel ihm auf, weil es hier sonst keine Bücher gab; wer würde hier schon lesen wollen? Und doch lag dort, versteckt in der Ecke des hölzernen Bartisches ein Buch. Das heißt, eigentlich war es weniger ein Buch als vielmehr eine Broschüre, ein kleines Heft, nur mit Stahlzwecken gebunden: er griff danach und versuchte, den Titel zu lesen, „Der Traum und die Anderen: Eine Warnung“ stand da, auf dünnem Kopierpapier. Er neigte sich ein wenig, so dass die Lampe über der Kasse das Papier etwas erhellte, und legte die Zigarette weg. Es war kein Autor angegeben; in seiner ganzen Ausführung wirkte das Buch auch eher so, als ob es in Heimarbeit erstellt worden wäre. Er sah zu den Gäste, vergewisserte sich, dass er noch Zeit hatte, dann schlug er um.

„Das luzide Träumen ist eine seit Jahrtausenden verwandte Technik, die das bewusste Durchleben und Steuern von Träumen ermöglicht. Viel ist darüber geschrieben worden, auch über spezifische Methoden des Luziden Träumens. Wir werden daher nicht näher auf die Frage eingehen, wie der luzide Traum zu erreichen ist und verweisen stattdessen auf die reichhaltige Literatur zu diesem Thema. In diesem Buch soll es daher um etwas anderes gehen: Wir wollen auf eine Gefahr des luziden Träumens, möglicherweise des Träumens selbst hinweisen. Unsere Botschaft lautet: Wir sind nicht allein im Traum. Dies mag seltsam klingen, gleichsam sicher auch unglaubwürdig, aber es ist die Wahrheit. Einen Beweis kann jedoch nur ein jeder für sich selbst erbringen, und zu diesem Zweck sind Kenntnisse über das luzide Träumen nötig, aber nichts darüber hinaus, abgesehen von einem großen Spiegel (maximal 1,80 mal 0,90 Meter).“

Er blickte auf und sah den Kunden, knickte das Heft und nahm seine gelallte Bestellung entgegen. Geistesabwesend nahm er das Geld, gab zu wenig heraus (aber das bemerkte er erst später) und zapfte ein Bier. Als der Mann gegangen war, wand er sich wieder dem seltsamen Büchlein zu; es war seit langem das interessanteste Objekt, dass er hier gefunden hatte. Natürlich verloren hier viele Menschen das ein oder andere, manchmal sogar Handys oder persönliche Kalender, aber dieses Buch erschien ihm wesentlich spannender, auch wenn er kein Wort glaubte von dem, was darin stand:

„Es sind keine großen Erfahrungen mit dem luziden Traum erforderlich: Erfahrene Anwender können jede Änderung, ja den Traum selbst frei gestalten. Dafür ist einiges Training nötig, doch diese Fähigkeiten sind hier nicht von Belang. Es reicht, wenn sie sich eine der Basismethoden des Luziden Träumens zu eigen machen, so etwa WILD (Wake-Initiation of Lucid Dreams). Von Vorteil ist es, wenn sie diese oder eine der anderen existierenden Methoden einige Male ausprobieren, bevor sie mit dieser Anleitung fortfahren.“

Er blätterte um.

„Nachdem sie sich mit einer Methode vertraut gemacht haben, können sie nun die Anderen treffen. Sollte sich ihr Bett in der Nähe einer Wand oder an einer Wand befinden, so verrücken sie es so, dass es in der Mitte des Raumes steht. Stellen sie den Spiegel (maximal 1,80 mal 0,90 Meter) frontal vor das Fußende ihres Bettes und merken sie sich die Zahl der Schritte, die er vom Bett entfernt ist: Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass sie während des Einschlafvorgangs Sicht auf den Spiegel haben. Versuchen sie nun, einzuschlafen. Fixieren sie dabei immer wieder geistig den Spiegel. Machen sie sich jederzeit klar, dass der Spiegel existiert! Halten sie sich bewusst, wie viele Schritte er vom Bett entfernt ist! Gleiten sie in den Zustand des Träumens hinüber.“

Es war die vorletzte Seite des Buches gewesen; die letzte war fast leer.

„Sind sie sicher, dass sie träumen? Dann treten sie zurück durch den Spiegel!“

Die letzten Gäste gingen schneller, als er es erwartet hatte, und so war es bereits um sieben zu Hause. Das Buch hatte er mitgenommen, zum einen, weil es eine originelle „Trophäe“ war, zum anderen, weil er einige Schlagwörter daraus (wie etwa den „luziden Traum“) doch einmal heraussuchen wollte, um zu sehen, ob es wirklich rein ersponnene waren. Google und sogar die Wikipedia kannten den Luziden Traum, stellte er zu seiner Überraschung fest; er war, wie gewöhnlich zu dieser Stunde, zwar müde, aber auch etwas überdreht, und so überflog er fünf oder sechs Artikel darüber und fand sogar die WILD-Methode, die in seinem Büchlein genannt worden war. Von den mysteriösen Anderen aber las er nirgendwo etwas.

Es war schon halb neun, als er seinen Computer wieder ausschaltete. Er stand auf, ging durch den Flur in die Küche, um noch einen Schluck Wasser zu trinken: Da fiel ihm der Spiegel neben der Garderobe ins Auge. Er hatte ihn geschenkt bekommen, ein Nachbar hatte ihn wohl wegwerfen wollen. In dem kleinen Flur wirkte er immer etwas deplatziert, aber er hatte sich nie dazu durchringen können, ihn wegzuwerfen. Er war riesig und ging fast bis zur Decke, die immerhin fast drei Meter hoch war: An einer Ecke hatte er einen kleinen Riss, aber sonst war er völlig intakt.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb er davor stehen und sah sein eigenes Spiegelbild grinsen. Was konnte es schaden? Die Artikel über das Luzide Träumen hatten ihn neugierig gemacht. Angeblich konnten trainierte Träumer in ihren eigenen Träumen fliegen und vieles mehr; er wollte es ausprobieren.

Der Spiegel war nicht so schwer, wie er es erwartet hatte, und so hatte er kaum Mühe, ihn aus dem Flur ins Schlafzimmer zu wuchten. Er schob die Unterlagen, die sich im Zimmer auf dem Boden verteilten, in eine Ecke, und lehnte den Spiegel an die Wand. Dann schob er das Bett über das protestierende Laminat hinweg in die Mitte des Raumes, so dass es genau drei Schritte davor stand. Er zog sich um und stellte fest,  dass ihn die Anstrengung doch müde gemacht hatte; es würde nicht schwer werden, einzuschlafen.

Die WILD-Methode, so hatte er gelesen, war im Prinzip sehr simpel. Im wesentlichen ging es darum, das Bewusstsein solange wach zu halten, bis der Körper und andere Teile des Gehirns schliefen – dann wechselte man in den Traum, ohne dabei selbst zu schlafen. Er versuchte es; einige Male bemerkte er gerade noch rechtzeitig, wie seine Aufmerksamkeit floh und seine Gedanken verschwanden. Am Anfang versuchte er noch, sich auf einen bestimmten Gedanken, eine bestimmte Sache so sehr zu konzentrieren, dass er nicht wegdämmerte, aber nach einigen Versuchen begriff er, dass es viel einfacher war, die eigene Aufmerksamkeit immer wieder auf neue Dinge zu richten. Eine Zeit lang versuchte er, jeden Gedanken im Geiste auszuformulieren, und jedes Mal dann, wenn er eine bestimmtes Wort dachte, einen neuen Gedanken zu fassen: er wusste nicht, wie lange er das tat, und als er bemerkte, dass auch dieses Spiel ermüdend wurde, fuhr er damit fort und wechselte das Wort selbst, auf welches hin er den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ändern wollte, wiederum auf ein anderes Wort hin, und so weiter und so fort, bis er eine fast unaussprechliche Verschachtelung dieses Spiels dachte oder spielte. Er war es fast leid, als er plötzlich feststellte, dass die Welt hinter seinen Lidern nicht mehr dunkel war.

„Das Wasser ist nicht tief. Du kannst darin schwimmen, es wird dich tragen.“, sagte ein alter Mann, der wie ein verlorener Kieselstein auf dem Strand saß und dabei an ihm vorbei blickte. Er erkannte den Mann als jemanden, den er als Kind einmal hatte Angeln sehen, und zu seiner Überraschung erkannte er auch den Strand; es war der Strand, an dem er zwei oder drei Urlaube verbracht hatte. Bei genauerer Betrachtung wurde ihm klar, dass es nicht exakt dieser Strand war. Es war eine gewissermaßen geträumte, irgendwie verdunkelte Variante des Strandes in seiner Erinnerung; es gab Sand, es gab das Meer. Es gab die Brücke, einige Hundert Meter entfernt, und sogar einige Strandkörbe waren dort: aber irgendwie schien alles abgedunkelt, als wäre es Nacht, obwohl doch heller Tag war. Selbst die Wellen schienen zu schlafen, denn sie machten kein Geräusch, wenn sie auf den Strand prallten. „Das Wasser ist nicht tief“, sagte der Mann noch einmal, als hätte man ihn nicht richtig verstanden. Etwas trieb ihn ins Wasser; er wollte, musste schwimmen. Kontrolle, dachte er, die Kontrolle war nicht vollständig. Er konnte bewusst zusehen, aber es war schwer, die Handlung zu beeinflussen. Drei Schritte, es waren nur drei Schritte: Der Spiegel. Er sah auf seine Füße und versuchte, sich auf die Bewegung zu konzentrieren. Einen Schritt machte er nach vorne: es funktionierte. Ein zweiter. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, von dem er nicht wusste, ob er ihn hatte, oder ob es jemand anders war, der ihm den Gedanken einflüsterte: Hinter dem Spiegel. Du bist hinter dem Spiegel. Nicht vorwärts: rückwärts! Es war überraschend schwer, der Anweisung zu folgen, und doch setzte er langsam einen Fuß vor oder besser: hinter den anderen. Ein Schritt, ein zweiter, ein dritter. Der alte Mann saß immer noch im Sand und schien ihn gleichgültig zu beobachten. Der vierte Schritt: Nur noch einer, der schwierigste, der entscheidende. Er blickte auf seine Füße und sah, wie sein Bein sich hob, ein Ruck, dann hörte er ein Geräusch in der Stille des Strandes, als ob man mit den Fingern gegen eine Glasscheibe – eine Spiegelscheibe – schnippen würde.

Er hob den Kopf: Der alte Mann war noch da, der Sand war noch da, die Brücke, das Meer, die Strandkörbe. Doch etwas war anders: der Strand war nicht länger leer. In den Körben saßen dunkle Gestalten, die ihn beobachteten: einige von ihnen standen auch auf der Brücke, manche schienen Ferngläser zu halten. Auch im Sand, den ganzen Strand entlang saßen, standen oder lagen die Männer in ihrer schwarzen Kleidung. Selbst auf der nahen Sandbank, an die er zuvor überhaupt nicht gedacht hatte, sah er einige von ihnen. Zwei standen direkt neben dem alten Angler und schienen flüsternd etwas zu erzählen; vier oder fünf standen ihm selbst so nahe, dass er ihre Gesichter erkennen konnte, ununterscheidbare, pergamentartige Züge, mit tiefen Rillen und Furchen. Sie waren viel größer als er selbst, vielleicht 1,90, vielleicht sogar etwas größer. Ihr Alter konnte er nicht schätzen; sie sahen sowohl jung als auch alt aus, und wenn ihr Gesicht etwas ausdrückte, dann war es eine schwere, lang anhaltende Anstrengung. Der, der ihm am nächsten stand, wand seinen Kopf plötzlich: „Der Träumer sieht uns.“, sagte er überrascht, und so etwas wie Erschrecken schien sich darin wiederzufinden.

Tritt zurück, dachte er, du stehst im Spiegel, tritt einfach zurück und erwache. Er machte einen Schritt und fand sich in seinem Bett wieder, doch es war nicht still und friedlich, wie er es erwartet hatte; Dutzende Leute schienen durcheinander zu sprechen. Er sprang auf und fand sich in einem Gemenge, einem wirren Haufen von schwarzen Ärmeln, schwarzen Hosenbeinen und düsteren Gesichtern wieder, „Er gehört zu den anderen!“ riefen sie, „Macht euch bereit!“, „Ladet die Waffen!“, er wühlte sich durch den Haufen, und der machte Platz, schien von ihm weichen zu wollen wie er von ihm, er versuchte die Schritte zur Tür zu finden, doch es waren zu viele im Raum, die sich dazu noch umeinander und aneinander vorbei schoben, „Auf mein Kommando!“, brüllten zwei, „Bajonette aufpflanzen!“ andere, „Bewahrt die Ruhe, bewahrt die Ruhe!“, die Spannung schien zu einem hörbaren, greifbaren Surren zu werden, während er sich wie die Anderen auch verloren durch das Gemenge kämpfte, mal hier anstieß, mal dort, und schließlich hörte er,

Left to no one
No Space
No time,

Und erkannte seine eigene Stimme, die mühsam die Töne haltend sang, während die Anderen im Chor antworteten,

I’m not to find you,
But if there was just a second,
I would try,
I would try.

Die Männer und er wiederholten den Gesang, immer wieder, und dabei standen sie alle still, konzentrierten sich auf jeden Ton: ihre Stimmen ergänzten seine, und er gab ihnen die Worte, wo sie ihnen fehlten. Das Surren war verschwunden, und in den Augen der Anderen sah er so etwas wie eine friedliche Übereinstimmung. Als sie das Lied einige Male gesungen hatten, begannen sie sich zu der Musik zu bewegen, betont langsam, wohl auch um ihn nicht zu erschrecken, nur um die Anspannung zu lösen, und schließlich wiegten sich alle leise im Takt der Musik. Schließlich hörte einer von ihnen auf zu singen, trat langsam und vorsichtig an ihn heran, ergriff ihn an der Schulter und sagte: „Du bist keiner von uns. Geh lieber in den Flur, dort ist es sicherer.“ Sie ließen ihn zur Tür durch, er ging hinaus, zog den Hocker heran und setzte sich. Die Männer hörten nicht auf zu singen und zu tanzen, im Gegenteil, jetzt, wo der Fremdkörper zwischen ihnen entfernt war, schienen sie mutiger zu werden, und sie bewegten sich schnell und geschickt, nie stießen sie aneinander. Er sah ihnen zu bei ihrem Tanz; dann griff er zu dem Aschenbecher und nahm die Zigarette, die er dort abgelegt hatte. Als er wieder hinblickte, erkannte er plötzlich einige der Männer: sie kamen wohl nach der Spätschicht direkt hierher, um noch einige Stunden zu tanzen. Er blickte auf die glimmende Glut; Wann hatte er sich diese Zigarette angezündet? Plötzlich stand jemand vor der Bar und verlangte lautstark ein Weißbier.
Es dauerte eine Weile, bis er reagierte, dann jedoch tat er, was von ihm verlangt wurde. Es war zwanzig nach fünf; immer noch tanzten dreißig oder vierzig Menschen nur einige Meter entfernt. Er suchte nach dem Büchlein, fand es aber nirgendwo; schließlich blickte er in die Ecke, in der er es gefunden hatte. Einen Moment lang glaubte er, es in der Spiegelwand zu sehen. Doch vor dem Spiegel lag kein Buch.

Klein Pāradies

Diesen Artikel drucken 25. November 2009

Eine Welle schwappt an den Strand, trägt kein Korn davon, fügt kein Gramm hinzu. Die Wellen kommen und gehen nicht – sie bleiben.

Du siehst hinunter auf den Tisch, siehst das mühevoll zubereitete Essen, das schöne Porzellan, die feinen Gläser. Du siehst auch die Gäste, allesamt Verwandte, Freunde. Und alle zusammen sind sie so – mühelos unbeschwert. Und ja;

Solltet ihr nicht glücklich sein? Könnte es nicht schlimmer sein? Könnte es nicht Krieg sein – könnte es nicht Hass sein?

Nein, nicht Krieg, nicht Hass. Nur Sand. Du weißt, unter den Tellern, unter den Gläsern, unter dem Tischtusch da ist der Sand; warm, weich, jedes Korn so weiß, so weiß, dass es schon fast weh tut – aber nicht weiß genug. Weiß, aber nicht zu weiß, warm aber nicht zu warm, strahlend aber nicht zu strahlend. Könnte es nicht viel schlimmer sein? Nein.

Du legst dich nieder in den Sand, hörst die immer gleiche Welle plätschern. Sie streicht über den Sand, verliert ihn wieder.

Weit hinten siehst du ein Boot, ein kleines Ruderboot. Es schwankt von links nach rechts, von rechts nach links.

Du könntest, ja du könntest damit fahren; nicht weit, einige Meter nur. Und dann würdest du zurückwollen und dich matt ins Wasser gleiten lassen. Zurückschwimmen; Schwimmen durch klares Wasser, warm wie der Sand. Durch kleine und große Wellen, kleine ,aber nicht zu kleine, große, aber nicht zu große Wellen. Schließlich lägst du wieder hier; im Sand. Unter einer Sonne, die dich nicht frieren lässt, aber auch nicht verbrennt. In Sand so feinkörnig und weiß und warm, in Sand der dich wärmt, der dich beschützt, der warm ist, weil er keinen Winter kennt und keine Nacht.

Du nimmst ein Stück von deinem Steak, führst die Gabel zum Mund; Oh, wie dieser Sand schmeckt, süß wie Kaugummi. Süß wie die Bonbons, die du als Kind so mochtest. Aber nicht zu süss, nicht zu fett.

Was treibt dich in diesen Sand, an diesen Strand, an dieses über und über vertraute Meer, das Meer ohne Horizont?

Was daran fasziniert, ist nicht sein Ferne; nein. Es ist seine Beständigkeit, es war schon immer da, es wird immer da sein. Du kannst es betreten, jeden Tag, jeden Mittag, jeden Abend. Es ist nie fer,n aber doch unendlich weit von dieser Welt, dieser Welt der Schwierigkeiten, weit von diesen Abgründen; diesen Dingen, die niemand will. Die du nicht willst. Dieser Strand, ja, dieser Strand, liegt dir immer zu Füßen. Du musst nur dorthin finden. Wenn du dort bist, dann legst du dich in den Sand. Du legst dich in Sand, der nie zu warm ist und nie zu kalt; du legst dich in Sand, der so warm ist, weil er keine Nacht kennt und keinen Winter.

Du kennst die Nacht; du kennst den Winter. Und deshalb bleibt er dir immer ein wenig fern, bleibt dir fremd, wie die Umarmung eines Fremden, die zwar zärtlich sein mag und auch gefühlvoll, dich aber niemals kennt; dich niemals verstehen kann, weil sie eben dich nicht kennt. Weil sie den Winter nicht kennt. Und die Nacht.

Du liegst in der Badewanne. Der Schaum ist ganz weich, das Wasser so warm und anschmiegsam. Und wieder ist es Sand: Sand, in dem du liegst an diesem Strand, der nur dir gehört. Es gibt dort keine Fernseher, kein Radio, kein Handy, auch wenn diese Dinge ein Weg zu ihm sein mögen; Es gibt dort niemanden, der dich informiert, belehrt, berät. Der dir sagt, dass diese oder jene Entscheidung notwendig ist oder wichtig. Für den Sand ist nur der Sand wichtig; dem Meer ist nur das Meer wichtig.

Und selbst wenn das Wasser immer das gleiche sein mag, und die Sandkörner, die sich so zärtlich an deinem Körper schmiegen, immer die gleichen Sandkörner sein werden: Ist es nicht richtig so? Ist es nicht dein Ort, deine Heimstatt?

Entspannt liegst du in deinem Sessel, und betrachtest flackernde farblose Bilder aus einer anderen Zeit, die es nie gab. „It will come to you, this love of the land. There’s no gettin‘ away from it.“, sagt ein Mann. Du kennst den Film, kennst sein Ende; du siehst gerne auf deinen Strand. Deine Gliedmaßen werden schläfrig, doch dein Geist reist ohne Mühe zwischen den zwei Welten, an deren einem Ende der Sand wartet. Warmer, weicher Sand. Einen Moment ist da die Fremdheit, das Wissen, dass dies nur Klein Pāradies ist; dann verschwindet jedes Gefühl. Könnte es nicht schlimmer sein? Solltest du nicht glücklich sein? Ja, es könnte schlimmer sein. Ja, du solltest glücklich sein. Dieser – dein Strand – verspricht nicht die Ewigkeit, er ist Ewigkeit.

Partner kannst du verlieren, Jobs, Freunde, Hobbies, Ziele. Der Strand wird immer das bleiben, was er ist; wird immer dort warten, wo er ist. Die Welt, ja selbst Scarletts Welt, ist nicht so weich und warm wie dein Strand. Andere mögen glauben, der Strand könne nicht der Bestimmungsort aller Leben sein. Es ist egal, denn andere gibt es an deinem Strand nicht. Nur dich, das Wasser, den Sand.

Du sitzt auf einem Stuhl in deinem Büro, blickst auf Zahlen und Daten und Aufgaben, auf viel zu wenig Zeit. Einen Moment Pause gestattest du dir, atmest tief ein und hörst das Rauschen der immer gleichen Welle. Denkst an den Strand, den du wieder betreten kannst, wenn die Uhr Sechs zeigt. Du weißt es genau: Um Sechs wirst du wieder da sein, schon auf der Autofahrt, vielleicht, wenn das Radio alte Musik spielt. Vielleicht auch schon auf dem Weg in den Fahrstuhl; die Türen werden sich öffnen, und du wirst lächeln, weil du gar nicht mehr im Lift stehst, sondern bis zu den Knien im Sand. Noch ist es nicht soweit; die Uhr zeigt Vier. Noch weißt du, dass es anderes gibt, andere Menschen, andere Ziele, andere Zwecke, anderen Schmerz. Bald wird eine Welle das Wissen davonspülen, genau wie jeden Gedanken. Als letztes wird ein bestimmter Satz verblassen, immer der gleiche.

Es gibt nur den Strand; mehr als Klein Pāradies kann man nicht erwarten.


PS: Die Notation Pāradies soll andeuten, dass die erste Silbe betont wird.
Dieser Text ist eine Niederschrift eines Improvisationsversuchs, den ich vor einigen Wochen per Mobiltelefon aufnahm. Die letzten vier Absätze habe ich nach der Abschrift hinzugefügt.

Bekenntnisse eines Wissenschaftlers

Diesen Artikel drucken 16. November 2009

Dies kann kein Plädoyer gegen die so genannten Wissenschaften sein: ein solches zu fertigen wäre widersprüchlich und sinnlos. Eine Anklageschrift zu fertigen ist unmöglich. Zwar sind die Verbrechen offenkundig, aber die Vorfälle sind in ihrer Vielzahl kaum zu erfassen; sogar der Anfang ist nicht leicht zu verorten. Vielleicht begann es schon mit den Griechen, vielleicht davor. Vielleicht auch viel später: Man kann es nicht so leicht einordnen. Aber man kann Beispiele angeben, unzählige Beispiele für das Gift und seine Wirkungsweise. Seht euch um: die Schulen sind voll davon, selbst die meisten Kindergärten. In den meisten ernsten Gesprächen ist es schon vorhanden, wenigstens latent. Es umgibt uns, und vielleicht ist das Grund, weshalb wir uns an seine Wirkung schon so sehr gewöhnt haben.Heiligtum
Die einfachsten seiner vielfältigen Ausprägungen beginnen meist mit Erklärungen. So erklärt man dem Kind, dass Schneeflocken nicht schweben können: sie fallen nur langsamer als andere Objekte, aber wie alle Dinge müssen sie sich der Gravitation beugen. Es gibt keine winzigen Engel und auch keine Feen, die sie sachte heben, ihnen ihre Anmut und ihren Glanz verleihen. Schneeflocken, so erklärt man es dem Jugendlichen vielleicht, sind kristalline Ansammlungen von gefrorenem Wasser, und wenn sie zur Erde zu schweben scheinen, dann ist das nur die Folge eines Kräftegleichgewichts zwischen Luftwiderstand und Gravitation. Ihr Aufleuchten im Gegenlicht ist eine rein physikalische Konsequenz, die mit den optischen Eigenschaften von Kristallen zu tun hat. Man muss nicht spitzfindig sein, um darin den Prozess zu erkennen; den eines Zerbrechens, eines Vernichtens von Vorstellungen. Andere Beispiele betreffen eher die Erwachsenen: So wird man nicht müde zu erklären, dass der Mensch das Resultat einer vom Zufall dominierten Entwicklung ist, die gemeinhin Evolution genannt wird. Die Existenz des Menschen besitzt keine auf einen Zweck ausgerichtete Berechtigung; er ist einfach nur da. Ebenso ist die Erde nicht das Zentrum des Universums, und nicht nur das, es gibt überhaupt kein Zentrum. Es gibt kein Gestirn, kein Objekt, um das sich alles dreht. Wir befinden uns am äußeren Rand einer durchschnittlichen Galaxie in einem durchschnittlichen Teil des Alls. Weiterhin, so wird erklärt, ist der Mensch im Kern eine deterministische Maschine, wie ein Dosenöffner oder eine Batterie, und bei allem, was wir tun, sind es doch nicht wir, die sich dazu entschließen, denn es gibt weder einen freien Willen noch ein Ich, für Dosenöffner und Batterien ebensowenig wie für den Menschen. Es gibt auch subtilere Varianten; kleinere, unauffällige Akte der Zerstörung. Einige dieser Manöver nennt man Statistik, andere Studie. Wie man sie auch nennen will, diese Anschläge auf unsere Träume, Wünsche und Hoffnungen, sie sind zahlreich, und nach und nach, so scheint es, weiten sie sich auf den gesamten Bereich dessen aus, was Menschen Wirklichkeit nennen wollen. Der Mensch glaubt an die göttliche Schöpfung – die Wissenschaften erklären ihm, dass es eine solche nicht gab. Der Mensch flüchtet sich in die Liebe – die Wissenschaften erklären ihm, dass es sich nur um einen chemischen Prozess handelt. Er flüchtet in den Wunsch danach, dass seine Kinder ein besseres Leben führen könnten – die Wissenschaft schärft ihm ein, dass auch die Sorge um den Nachwuchs ein alter, letztlich zufällig installierter Mechanismus ist.
Die Wissenschaften haben im Rahmen eines gigantischen Projekts über viele Hunderte Jahre hinweg systematisch Ordnung geschaffen in der Wirklichkeit; sie haben vermessen, sie haben kartografiert, sortiert, berechnet und studiert. Diese Ordnung begann vielleicht mit Dingen, die der Lebenswirklichkeit fern sind; mit den Planeten und Sternen, mit Begriffen von Glück und Moral, die wenig mit dem zu tun hatten, was der Mensch im Alltag denkt. Doch nach und nach haben Wissenschaftler, haben wir das Projekt ausgeweitet, bis es von den fernen Galaxien über das menschliche Verhalten zu den innersten Sehnsüchten, den tiefsten Wünsche der Menschen reichte.
Und, werte Kollegen, wir haben dabei Schätze gehoben und Unfassbares entdeckt; Wir haben Technologien entwickelt, den Alltag vereinfacht und Erklärungen geliefert.
Aber vor allem haben wir den Menschen ihre Vorstellungen genommen: Wir haben ihnen Erklärungen angeboten, die sie nackt in der Dunkelheit zurücklassen. Wir haben ihre Ideen, ihr kreatives Konstruieren der Welt verhindert und alles Wünschen als nutzlos entlarvt mit unseren Werkzeugen, den Zahlen und Daten und Theorien.

Wir sind Giftmischer, Verhetzer, und schuldig in allen Anklagepunkten; schuldig des Raubens von Illusionen. Schuldig des Zerstörens von Hoffnungen, der Vernichtung aller noch so bescheidenen Vorbilder.

Aber man kann uns nicht bestrafen. Warum?

Weil wir die Gerichte stellen; mehr noch, weil die Gerichte, wie wir sie heute kennen und Mittel der Gerechtigkeit nennen, unsere Idee sind. Uns gehört die Gerechtigkeit genau wie die Rechtfertigung. Kein Herrscher, kein Mächtiger kann sich auf Dauer unserem Wirken entziehen. Sie können einige von uns töten, sie können viele von uns einsperren; aber früher oder später werden sie den Verlockungen erliegen, den Kühlschränken, dem Breitbandanschluss, der Interkontinentalrakete.
Wenn die Menschen es wollten, dann könnten sie unsere Richter stürzen. Sie könnten die Gerichte abschaffen und ihre Mikrofaserkleidung ablegen: sie könnten das Auto stehenlassen und zu Fuß zu den Universitäten gehen, um sie niederzubrennen. Sie könnten, aber sie werden es niemals wollen: Und wenn sie es doch wollen, so wird das nur von kurzer Dauer sein. Am Ende zahlen sie gerne den Preis; Man mag von Macht sprechen, wenn jemand jeden Widerstand zerschlagen kann. Aber diese Autorität, die der äußeren Gewalt, kann nicht bestehen, nicht dauerhaft, denn gegen das Wollen vieler ist selbst Stein weich. Wahre Macht besitzt nicht der, der das Handeln kontrolliert. Doch wenn der Mensch den Kampf nicht wollen kann, dann wird er ihn niemals führen. Unser Preis für ihre Wünsche und Träume ist gut gewählt: sie werden das Geschäft nicht ablehnen.

Monstrum/Drei Bilder

Diesen Artikel drucken 6. November 2009

Was sie dort wohl tun, fragte er sich. Was sie dort wohl tun. Er zog an einer Zigarette und blickte weiter aus dem Fenster. Die Antwort auf seine Frage lag vor ihm, lag groß und mächtig vor ihm, aber er würde sie nie verstehen, verstehen können, wollen.

Was sie dort wohl tun, fragte er sich, und blickte auf die Fabrik. Sie lag nicht einmal zum Schein verborgen zwischen den Wohnhäusern. Ihre silberne, an einigen Stellen vom Rost zerfressene Haut war eine Beleidigung, ein offener Affront: zwischen ihr und der ansonsten ruhigen Wohngegend rundherum herrschte so etwas wie ein ästhetischer Krieg. Es ließ sich nicht genau bestimmen, wie hoch der ewig dampfende Schornstein war, der mitten aus dem silbernen Panzer herausragte. In der Umgebung gab es kein Gebäude, keinen Fixpunkt, der auch nur annähernd so hoch war, und deshalb schien er bis in den Himmel zu ragen wie ein übergroßer Zeigefinger.

Monstrum Viel mehr wusste niemand über die Fabrik; sie stand da, war wie eine zum Stillstand gekommene Wucherung in die Stadt gewachsen, und blieb. Er hatte die Nachbarn gefragt, um was für eine Anlage es sich handelte, aber auch sie wussten nicht mehr darüber und wollten – so schien es – auch nicht darüber sprechen. Es war so, als wüsste überhaupt niemand irgendetwas darüber. Alle kannten die Stahlhaut, den grotesken Turm, mehr nicht. Den meisten war dieser Fremdkörper ein Dorn im Auge, sicher; aber er hatte nie von offenem Protest gehört, einer Petition oder Bürgerinitiative.  Und niemandem konnte entgehen, wie sehr die Präsenz dieses seltsamen Monstrums die plangenau angelegten Straßen und Häuserblocks, die Vorgärten und Hinterhöfe rundherum zu verzerren schien; wenn man aus einem der oberen Stockwerke auf die Stadt und die Fabrik blickte, schien es so, als sei die Stadt um das Monstrum in ihrer Mitte angelegt worden, als solle jeder Weg dorthin führen.

Und dabei gab es niemanden, der dort arbeite. Das war falsch, natürlich; dort mussten Menschen arbeiten, manchmal sah er auch einige Gestalten über das Gelände huschen, und die Geräusche, die das Ungetüm selbst in der Nacht von sich gab, ließen auf unablässige menschliche Geschäftigkeit schließen. Aber niemand aus der Stadt arbeitete dort, und niemand kannte jemanden, der es tat; sie mussten von weit her kommen.

Er beobachtete, wie ein kleiner Hubschrauber am Horizont auftauchte, sah ihn auf die Fabrik zuhalten. Einige Minuten umkreiste er den stahlgrauen Zeigefinger, schien etwas zu suchen. Es war ein schwarzer, schmaler Helikopter, der höchstens für zwei Personen Platz bieten konnte, wie er glaubte:  die Scheiben waren geschwärzt, und so konnte er die Insassen nicht sehen. Er blickte auf seine Uhr, als der Pilot wieder abdrehte und in die Richtung zurückflog, aus der er gekommen war: die gleiche Zeit wie immer.

Was sie dort wohl tun. Das fragte er sich und schloss das Fenster wieder.

Der Zug hatte Verspätung gehabt, wie so oft, und so stand er viel zu spät vor seiner Wohnung. Er drehte den Schlüssel im Schloss und trat ein: Die Luft roch abgestanden. Einige Sekunden horchte er und genoss die Stille. Dann ließ er seine Tasche auf den Boden fallen, setzte sich. Atmete tief durch. Und befühlte fast unwillkürlich den Riss, den niemand sah.

Ja, er war wieder größer geworden: aber wen hätte das verwundern sollen? Es würde sich nicht mehr ändern. Das Loch würde wachsen, auch wenn er nicht sagen konnte, wohin: es würde seine Organe auflösen und Platz für die Leere schaffen, auch wenn er sich nicht einmal sicher war, wo der Riss genau verlief. Manchmal dachte er, er oder es wäre in seiner Brust; dann war es wieder der Bauch. Manchmal glaubte er, ihn mit den Fingerspitzen zwischen zwei Rippen zu spüren. Dann wieder war er sicher, dass der Riss quer über seine Stirn lief. Wenn er aß, dann schien alle Nahrung durch den Riss zu sickern und er blieb hungrig, immer hungrig: war ihm nach Weinen zu Mute (und das geschah oft), so schienen die Tränen in dem Loch zu verschwinden.

Sie hätten es erklären müssen, dachte er oft. Natürlich hatte er den Vertrag gelesen, und natürlich hatten sie ihn in gewisser Weise darüber informiert, dass es Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde. Aber sie hatten ihm nichts von dem Riss erzählt. Die Einspeisung war irreversibel gewesen, das wusste er; er hatte es in Kauf genommen, weil die Bezahlung gut war.

Er stand auf und ging zum Kühlschrank, fand nichts Essbares vor. Sinnlos, dachte er, und setzte sich wieder. Das Schlimmste an der Einspeisung war, dass sie niemand sah. Früher hatte er sich nicht einmal getraut, bei Tageslicht auf die Straße zu gehen, weil er dachte, die Passanten würden erschrecken. Aber niemand sah ihm an, was mit ihm geschah, wie ihn die Arbeit langsam auffraß. Einmal hatte er den Kassierer im Supermarkt angesprochen; er hatte nicht gewusst, wie er es sagen sollte, und so hatte er alles auf einmal und dabei doch gar nichts gesagt, als ob selbst die Worte in dem Abgrund zwischen seinen Schultern verschwinden würden. Der Mann hatte ihn einige Sekunden angestarrt und dann gelacht: Das kennen wir doch alle, hatte er gesagt, und nicht das Geringste verstanden. Sie sahen den Riss nicht; sie sahen ihn einfach nicht.

Er seufzte leise, und für einen Augenblick glaubte er, so etwas wie ein tiefes, fast stummes Echo zu hören. Es war bereits halb eins; nur an der Tankstelle würde er noch etwas zu Essen bekommen, und dann blieb zum Schlafen kaum noch Zeit. Wenn er noch etwas zu sich nehmen wollte, dann musste er jetzt losgehen; einen Moment lang versuchte er, sich an den Weg zu erinnern, den er nehmen musste.

Aus dem Haus heraus, dann über die Straße. An der Ecke vor der Schule musste er links abbiegen auf den Zubringer; dann immer geradeaus, zwischen den beiden Brücken hindurch, immer entlang der großen Straße, auf der ein beständiger Strom von silbrigen Fahrzeugen in jedwede Richtung fuhr. Vorbei an den stahlgrauen Bürokomplexen, in denen um diese Zeit kein Licht mehr brannte, immer weiter parallel zur Leitplanke, die im Licht der Scheinwerfer so vertraut funkelte, funkelte wie ein Zeigefinger in dunkler Nacht. Irgendwo hier hätte er noch einmal abbiegen müssen, aber wo, wo nur, es half nichts, er musste zunächst weiter geradeaus, hin zu dem Ungetüm, silbrige Haut und ein 50 Meter messender Stachel, immer weiter darauf zu, kein Weg zurück, er musste weiter, er hörte schon das unablässige Klopfen, konnte den Rauch aufsteigen sehen, fühlte, wie der Riss von seinem Bauch in die Brust und dann in den Kopf wuchs, sah sich selbst, ein Fleck Nicht-Anwesenheit zwischen Bordstein und Häuserwand, ein Riss mit einem Stachel, der 50 Meter in die Nacht wuchs.

Als er erwachte, fand er sich auf dem Stuhl wieder, auf dem er eingeschlafen war. Er blickte auf die Uhr, es wurde Zeit. Ein letztes Mal atmete er tief ein. Es mißlang ihm; der Riss gestattete es nicht. Dann nahm er seine Tasche und lief durch die Dunkelheit zum Zug.

Er blickte auf die Zigarettenschachtel, dann nahm er die letzte Zigarette heraus und fröstelte. Es war kalt um diese Uhrzeit: er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so früh noch wach gewesen war. Seine Uhr zeigte 4 Uhr 22, und es war noch immer niemand in Sicht. Vor einer halben Stunde wäre er fast schon nach Hause gegangen, und je früher es wurde, desto verlockender erschien ihm sein Bett. Seine Neugier war groß genug gewesen, um sich in der Nacht aus dem Haus zu schleichen; jetzt stand er schon fast fünf Stunden in dieser düsteren Ecke zwischen zwei Häusern in der Nähe der Fabrik. Irgendwann mussten sie hier vorbeikommen; er wusste, manche kamen mit dem Zug, vielleicht sogar alle. Er trat die Zigarette aus; jetzt konnte er nicht einmal mehr rauchen. Lautlos fluchte er. Wie war er nur auf diese Idee gekommen? Es war eine Fabrik, jeder konnte es sehen. Wen scherte es schon, was sie genau darin taten? Und wer würde so dumm sein, die ganze Nacht frierend zu warten, nur um einen der Arbeiter aus der Nähe zu sehen? Er selbst, dachte er und musste fast lächeln, auch wenn er seine Lippen kaum noch spürte. Noch einmal sah er auf die Uhr; 4 Uhr 33. Um halb fünf kamen sie also auch nicht. Er gab seinem frierendem Körper nach, schüttelte seine Füße einige Momente aus, um wieder etwas Wärme hineinzubringen, dann trat er aus der Ecke heraus und machte sich auf den Weg nach Hause. Er war erst einige Meter gegangen, da bemerkte er, wie sehr es ihn erleichterte, von dort verschwinden zu können: Nachts und aus der Nähe wirkte die Fabrik noch seltsamer, nicht nur befremdlich, sondern fast beängstigend. Er fragte sich immer noch, was darin vorging: aber das musste warten, vielleicht auf den Sommer. Ja, im Sommer würde er es vielleicht länger dort aushalten.

Er sah den Mann in Arbeitskluft erst, als er in eine Seitenstraße einbog, und prallte fast gegen ihn. Es war ein Arbeiter, dass war ihm sofort klar; er trug den Overall mit dem seltsamen Emblem, das auch den Turm zierte. In der Hand trug er nur eine dünne Aktentasche, und es wirkte so, als wäre sie sehr leicht.

Er starrte den Arbeiter an: „Verzeihung“ murmelte er  „Mein Fehler.“ antwortete der andere. Einige Sekunden blieb er stehen und musterte den Mann in dem Overall; der tat es ihm gleich.

Die ganze Nacht lang hatte er gewartet und sich Fragen zurecht gelegt; er war sich ganz sicher gewesen, was er fragen musste und in welcher Reihenfolge. Doch jetzt fiel ihm kein Wort mehr ein. Einige verirrte Silben entflohen ihm, ziellos, aber der Arbeiter schien irgendetwas davon zu verstehen und nickte. Sein Gesichtsausdruck wurde düster, und mit der freien Hand schien er instinktiv nach etwas zu greifen, dass sich an oder in seinem Overall befinden musste.

„Das machen sie. Es frisst uns auf.“

Für einen Moment versuchte der Anwohner zu lächeln; sein Mund öffnete sich, er wollte sagen, dass es ihm auch manchmal so geht. Dann sah er, wonach der Arbeiter gegriffen hatte; das heißt, eigentlich war er sich nicht sicher, was er sah, aber es ließ ihn verstummen. Das Lächeln verschwand, Entsetzen kam. Einige Sekunden starrte er auf die Brust, oder den Bauch, oder den Kopf des Arbeiters, der immer noch zitternd seine Aktentasche hielt.

„Das geht uns doch allen so. Die Arbeit frisst einen auf!“, sagte er dann und lachte bellend laut. Er ließ den Mann mit dem Loch in der Brust hinter sich, eilte nach Hause und versuchte schon auf dem Weg alles zu vergessen, was er jemals über diese Fabrik gehört hatte.

Todesurteil

Diesen Artikel drucken 7. September 2009

Am 2. Verhandlungstag wurde die Anklageschrift verlesen. Sie war verrworren, und der Stimme des Staatsanwalts war neben der autoritären Grundhaltung eines Mannes im Staatsdienst so etwas wie eine gewisse Unbedarftheit zu entnehmen, so als ob man ihm selbst diese Schrift erst kurz vor Verhandlungsbeginn zugestellt hätte.

Jedenfalls erfuhr er, 42, ledig, arbeitslos, erst an diesem Tag, was ihm vorgeworfen wurde. Das heißt, eigentlich erfuhr er es nur ungefähr – ein halbes Dutzend Tatbestände schienen, jedenfalls auf den ersten Blick, in Frage zu kommen. Natürlich forderte man ihn auf, sich zu äußern. Es fiel ihm nichts ein; er beteuerte natürlich seine Unschuld, aber das schien niemand anders zu erwarten. Der Richter hörte sich seine Geschichte an, und stellte nur zwei Fragen; er fragte, ob er sich schuldig bekennen wolle, und ob die Zustände in der U-Haft erträglich seien. Er beantwortete die Fragen, während der Richter auf seine Notizen starrte. Die Protokollantin tippte monoton jedes Wort.

Auf dem Weg zurück in die Zelle versuchte er von seinem Anwalt zu erfahren, was nun geschehen würde; er sei nie politisch gewesen, und überhaupt könne es sich nur um ein Missverständnis handeln. Der Mann, ein junger Kerl mit durchgelaufenen Schuhen, reagierte nervös, fast ängstlich. Er murmelte nur, dass der Gerechtigkeit schon Genüge getan werden würde und dass sich das ganze sicher bald aufklären würde, wenn er nur kooperativ bliebe. Auf die Frage, ob er nun genauer sagen könne, was ihm überhaupt zur Last gelegt werde, blieb er zunächst stumm. Schwitzend sah er zu den Vollzugsbeamten, die unbeteiligt neben ihnen saßen. Es sei eine Farce, flüsterte er dann und konnte nicht aufhören, dabei zu zwinkern.

Todesurteil

Am nächsten Verhandlungstag saß ein anderer Anwalt neben ihm im Gerichtssaal, ein älterer, der viel resoluter auftrat und seine Fragen nur beantwortete, indem er aus einer schwarzen Mappe vorlas. Schließlich sah er ein, dass auch sein Verteidiger ihm nicht sagen wollte, warum er u.a. des Verrats angeklagt war und was nun geschehen würde, und sprach kaum noch mit ihm. Der Anwalt schien damit zufrieden.

Am 10. Verhandlungstag begann man, Beweise vorzubringen. Die Staatsanwaltschaft legte in endloser Folge Gegenstände und Papiere vor; am 12. Tag verbrachten sie den ganzen Vormittag mit der Zahnbürste des Angeklagten (niemand sprach seinen Namen aus, er war und blieb „der Angeklagte“), am 13. war es ein Brief, den er angeblich geschrieben hatte und in dem viele Worte auftauchten, die er hier zum ersten Mal hörte; wie es das Gesetz verlangte, wurde er an jedem Tag befragt, ob er sich zu den Beweisen äußern wolle. Die Protokollantin war die einzige, die von seinen Angaben Notiz nahm. Am 14. Tag legte der Staatsanwalt eine alte Arbeitsmontur vor, am 15. war es ein Buch, das er angeblich besessen hatte, und so ging es weiter, Gegenstände, von denen er nicht verstand, was sie mit den Vorwürfen zu tun hatten., wechselten sich mit ganz offenkundig gefälschten Beweisen seiner Täterschaft ab. Dabei schien niemand ernsthaft behaupten zu wollen, es sei bewiesen, dass er diesen oder jenen Gegenstand besessen, dieses oder jenes Flugblatt verfasst hatte; als er einmal den Staatsanwalt direkt darauf ansprach, blickten alle im Saal auf, und der Richter erklärte ihm, es könne nicht als sicher gelten, dass dies seine Habseligkeiten seien, es sei aber doch recht wahrscheinlich, da die Polizei diese Dinge in seiner Wohnung gefunden habe. Als er daraufhin andeutete, dass die Ermittlungsbehörden selbst vielleicht diese Beweise platziert hätten, fuhr ihn der Richter scharf an, er solle seine Zunge hüten. Daraufhin blieb er bis zum 30. Verhandlungstag stumm; die Tage schienen sich zu wiederholen, man behandelte eine Mischung aus Dingen, die ihm gehörten, aber nichts mit der Sache zu tun hatten, wie einen Staubsauger (16.) und eine alte Schreibmaschine (25.), die seit Jahren nicht mehr funktionierte, in die man aber offenbar ein ganz neues Band eingelegt hatte, und anderen Gegenständen oder Schriften, die ganz offensichtlich nicht ihm zuzuordnen war, so etwa eine Maschinenpistole (17.) oder zwei Briefe (24.), in unterschiedlichen Handschriften verfassst, an einen Mann namens Dimitri , von dem er noch nie etwas gehört hatte.

Nachdem er am 30. Verhandlungstag in einem Anflug von Heroismus gebrüllt hatte, diese ganze Veranstaltung sei ein unrechtmäßiges Verfahren und alle Beteiligten eingeweiht, legte man ihm am 31. vor Beginn der Verhandlung einen Knebel an, und so blieb es für nächsten sechs Tage. Es waren große, starke Männer mit Handschuhen, die dies erledigten; ein Art stilles Abkommen führte dazu, dass er sich den Knebel fast selbst anlegte, während die Männer nur daneben standen und aufmerksam zusahen. Im Gegenzug wurden sie nicht grob.

Als die Aufnahme der Beweise geschlossen wurde und die Vernehmung der Zeugen begann, ließ der Richter ihm den Knebel abnehmen, selbstverständlich unter der Bedingung, dass er sich nun zu benehmen habe, ansonsten würde er nicht zögern, die Maßnahme, wie er sie nannte, wieder anzuordnen.

Der Angeklagte hielt den Mund, wenigstens für eine Weile. Die ersten drei Zeugen (36.-54.), unter ihnen auch jener Dimitri, an den er angeblich Briefe verschickt hatte, waren ihm gänzlich unbekannt. Ihre Aussagen widersprachen sich nicht, und dennoch konnte er sich kein richtiges Bild von der Geschichte machen, die sie zu erzählen versuchten; alles blieb nebulös und unbestimmt, immer wieder fielen Namen, teilweise von Personen, aber auch von Gruppierungen, die er nicht kannte und deren Zusammenhang oder Zusammenwirken niemand erklären wollte. Nachdem er einige Tage nur zuhörte, bis ihm klar wurde, dass man auch nicht erwartete oder auch nur wollte, dass sich ein beständiges Bild ergab, beschloss er, seine Verteidigung auf andere Weise zu führen. So begann er, mit ruhigen und gezielten Fragen nach dem Verhältnis der Zeugen zu ihm Widersprüche zu suchen. Meist sah er den Zeugen bereits beim Stellen seiner Fragen an, dass sie nervös wurden. Dimitri etwa fuhr sich unentwegt durch die Haare, eine andere Zeugin, deren Name geheim blieb, zitterte so sehr, dass sogar er es deutlich sehen konnte, obwohl er doch fast zehn Meter weit weg saß.

Doch seine Fragen brachten kein Ergebnis. Einmal sagte eine Zeugin auf seine Nachfrage aus, er sei als Schlosser angestellt gewesen (42.), was natürlich nicht stimmte (er hatte nicht einmal diesen Beruf gelernt), aber es geschah nichts weiter, als dass der Richter die Protokollantin, die schon zum dritten Mal ausgetauscht worden war, anwies, diesen Teil der Aussage zu ignorieren und aufzuschreiben, die Zeugin habe nicht geantwortet und sei deshalb mit einer Ordnungsstrafe von fünfzehn Tagessätzen zu belangen. In der Folge waren es immer häufiger Staatsanwalt und Richter, die seine Fragen an die Zeugen beantworteten, wenn diese nervös wurden. Schließlich herrschte ihn der Richter an, dass seine Fragen irreführend seien; außerdem wäre es längst als sehr wahrscheinlich anzusehen, dass er all diese Menschen kannte. Als er weiterhin die gleichen Fragen stellte und einmal sogar den Staatsanwalt darauf hinwies, die Frage gelte nicht ihm, ordnete der Richter wieder sechs Tage Knebel an (49.).

So begann die Vernehmung der weiteren Zeugen, es waren mindestens 15, am 53. Verhandlungstag ohne seine Mitwirkung. Er kannte gut die Hälfte der folgenden Zeugen, die teilweise von seinem Verteidiger als Entlastungszeugen geführt wurden, Die meisten waren ihm nur flüchtig bekannt, so erkannte er den Besitzer des Kiosks in seiner Wohngegend und zwei ehemalige Arbeitskollegen, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Alle wirkten sehr eingeschüchtert, und die, die er kannte, wagten nicht ihn anzusehen und lasen von kleinen Zetteln ab, was sie zu sagen hatten. Im wesentlichen, soviel verstand er, waren sie nur geladen, um die Aussagen der ersten drei Zeugen zu stützen. Dabei waren die Aussagen selbst so platt und unbestimmt, dass keiner Zeugen allein die nur in Schemen zu erkennende Theorie der Staatsanwaltschaft bestätigte; nur einer der Zeugen, ein ehemals recht guter Freund, sagte tatsächlich Substanzielles aus, und seine Aussage war deutlich besser fingiert als die der anderen. Er vermutete, dass es sein Verteidiger war, der sich diese Einlage ausgedacht hatte: zunächst entlastete der Zeuge ihn. Offenbar war er gar nicht instruiert worden, und so bestritt er beinah alles, was während der Verhandlung bisher ausgesagt und dargelegt worden war. Erst am dritten und letzten Tag seiner Vernehmung kam der Zeuge sichtlich verstört und mit Striemen im Gesicht zur Verhandlung. Die Verteidigung ließ die Aussagen noch einmal zusammenfassen, bis schließlich der Staatsanwalt anmerkte, noch eine Frage zu haben und dem Zeugen einen offenbar gefälschten Brief vorlegte, welcher diesen ebenfalls mit Dimitri in Verbindung brachte. Wie gewünscht „brach der Zeuge zusammen“, wie der Richter es formulierte, und widerrief seine Aussagen. Sein Verteidiger entschuldigte sich lächelnd, aber „zerknirscht“ bei den Anwesenden, auch bei dem Angeklagten, zu dessen Entlastung er den Zeugen ja aufgerufen habe. Die nächsten zwei Verhandlungswochen verbrachte der Angeklagte in Hand- und Fußfesseln sowie geknebelt wegen „fortgesetzter Störung des korrekten Ablaufs des Verfahrens und Angriffs auf seinen Rechtsvertreter“. Als ihm die Fessel und Knebel wieder abgenommen worden waren, stand mit dem 73. Verhandlungstag bereits das Plädoyer des Staatsanwalts an. Er war recht gespannt, weil er zumindest hoffte, jetzt zu erkennen, welche Beweise und Taten man ihm konkret anlasten wollte, wurde aber bald enttäuscht, weil auch die Zusammenfassung der Staatsanwaltschaft so verworren blieb, dass am Ende nur drei Dinge klar wurden; er, der Angeklagte, sei schuldig (wessen?) und dies sei durch das Verfahren eindeutig belegt worden (wodurch?).

Weiterhin sei er mit dem Tode zu bestrafen.

Dies hatte man ihm schon früh in Aussicht gestellt, und so war er nicht überrascht, als der Staatsanwalt diese Strafe forderte; nachdem er es mit Kooperation versucht hatte, mit Argumentation, dann mit Subversion und schließlich sogar mit roher Gewalt (dafür hatte er die Knebelstrafe bekommen), war er des Prozesses so müde, dass ihn nur noch der Ausgang interessierte; er stellte keine Fragen mehr, und wenn man ihn etwas fragte, dann wiederholte er nur noch, er sei unschuldig, woraufhin die Protokollantin jedes Mal notierte, er verweigere die Aussage.

Dennoch dauerte es drei Tage, bis der Staatsanwalt sein Plädoyer beendet hatte, und weitere fünf, bis auch sein Verteidiger Position bezogen hatte; dieser argumentierte, er sei zwar schuldig, dennoch solle der Staat Milde walten lassen; er forderte eine lebenslange Haftstrafe für seinen Mandanten. Es folgten einige Tage, in denen sich das Gericht mit teilweise lächerlichen Details beschäftigte; man prüfte einen Antrag auf Verlegung in ein anderes Gefängnis, da dort seine Zuckerkrankheit besser zu behandeln sei (dem Antrag wurde letztlich stattgegeben; er hatte gar kein Diabetes, auch wenn drei Ärzte das Gegenteil aussagten) und einen weiteren, der mit Wahl seines Verteidigers zu tun hatte und schließlich abgelehnt wurde. Als man ihm sagte, das Urteil sei bis zum 90. Verhandlungstag zu erwarten, war er darüber sogar erleichtert; egal wie es ausging, es würde ausgehen.

Am 87. Verhandlungstag schließlich war es an ihm, sich zum letzten Mal vor der Urteilsfindung zu äußern. Er sei unschuldig, bekräftigte er nur; das schien dem Gericht nicht zu reichen.

Der Staatsanwalt starrte ihn an; ebenso der Richter, sogar die Protokollantin sah zu ihm auf. Niemand im Gericht sagte etwas; keiner regte sich. Eine halbe Stunde ging das so, dann fragte er resigniert nach, was man noch von ihm hören wolle: er sei keines Verbrechens schuldig, und mehr könne er nicht sagen. Eine weitere halbe Stunde verging, bis schließlich sein Verteidiger, mit dem er seit langer Zeit kein Wort mehr gewechselt hatte, laut fragte, ob er sich von diesem Gericht ungerecht behandelt fühle.

Einen Moment lang witterte er eine neue Falle, dann aber antwortete er: Ja, wenn man ihn so frage, dann sei dieses ganze Verfahren eine einzige Farce, ein riesiges Lügengebäude, in dem Richter, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Polizei gleichermaßen beteiligt seien.

Er erwartete eine weitere Ordnungsstrafe, womöglich sogar schon das Urteil oder einfach nur Gelächter darüber, dass er so Offensichtliches, so offensichtlich Nutzloses sagte, aber es blieb still im Saal.

Schließlich bekannte der Staatsanwalt, dass er möglicherweise tatsächlich befangen sei, jedenfalls nicht für diesen Prozess geeignet, und deshalb sein Amt vorübergehend niederlege, bis die Sache geklärt sei. Der Verteidiger erklärte, so wie die Dinge lägen, müsse er wohl tatsächlich einen Befangenheitsanstrag gegen den Richter und sich selbst stellen; zu spät erkannte der Angeklagte, worum es eigentlich ging. Der Richter gab nachdenklich zu, möglicherweise ungeeignet zu sein, und ließ das Verfahren vertagen.

Drei Monate später begann das neue Verfahren; alle Beteiligten waren, bis auf ihn, ausgetauscht worden. Am 2. Verhandlungstag, der für den Angeklagten schon der 89. war, wurde die Anklageschrift vorgelesen, die man nur unwesentlich verändert hatte.

Am 117. Verhandlungstag gab der Angeklagte sein Geständnis zu Protokoll. Das Urteil sollte zwei Tage später verkündet werden, und Expertisen, die den Ausschluss des Geständnisses und – damit verbunden – eine Neuaufnahme des Verfahrens nahelegten, waren schon angefertigt worden. Die entsprechenden Zeugen, Ärzte und Psychologen, hatte man bereits eingeschüchtert oder bestochen, um die emotionale Instabilität des Angeklagten und die massiven Einschüchterungen durch anonyme Mitglieder des Justizvollzugs zu belegen. Das Verfahren würde in die dritte Runde gehen. Aber dazu kam es nicht mehr.

Erntezeit

Diesen Artikel drucken 23. August 2009

Leise, bedächtig und langsam schritt er den schmalen Feldweg hinab. Sein Kopf hing locker, angemessen tief zwischen Schultern, die eigentlich die Anspannung starrer Haltung und kerzengeraden Gangs vermissten. Hinter ihm schlug eine Magd ein Fenster mit trüben Gläsern zu. Der Lehrer trat unbeholfen nach einem Stein, der in dem Graben am Wegesrand verschwindet.
Er sah über das Feld hinweg nach Norden und betrachtete die aus dieser Entfernung so winzigen Gewittertürme am Horizont. Die Stadt, die auch in dieser Richtung liegen musste (so glaubte er) , war noch viel weiter entfernt, unerreichbar für ihn.
Ein alter Kleinbauer, der letzte verbliebene, kam ihm entgegen, schwer atmend und mit vom Lehm verschluckten Stiefeln. Der Lehrer nickte zum Gruß, und für einen Moment lang spannten sich seine Schultern ganz ohne sein Zutun. Der Alte sah ihn nur stumpf an, nicht feindselig, aber auch kaum freundschaftlich, und als hätte er die winzige Veränderung in der Haltung des viele Jahre Jüngeren, aber um fast eben so viele Jahre Beleseneren wahrgenommen, entwich seiner Kehle ein unbestimmter, knurriger Laut des Widerwillens, während er wortlos weiterging.
Der Lehrer glich seine Haltung wieder dem allgemeinen Konsens an, ging noch einige Schritte weiter und blieb dann vor den ersten Kornreihen stehen, die sich endlos in alle Richtungen ausbreiteten und dabei dichter und dichter zu stehen schienen, bis von den einzelnen Reihen nicht mehr als das reinste Grau-Gelb blieb. Es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet, sicher stand bald die Ernte an, es würde die dritte sein, die er erlebte. Seine fleckige Hand, die er schon lange nicht mehr richtig wusch, griff nach einigen Halmen. Er betrachtete sie eingehend. Feingliedrige Finger hielten eine Ähre, befühlten sie. Die Sorten waren über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg die geblieben, die man hier seit jeher angebaut hatte. Der Großbauer und die vielen Männer, die für ihn arbeiteten (nicht wenige von ihnen hatten selbst Land in der Gegend besessen) wussten von ihren Vätern und Großvätern und Urgroßvätern, wie sie den größten Ertrag aus diesen Ähren holten. Sie kannten nicht einmal die Namen der angebauten Sorten, freilich wussten sie nicht einmal, dass sie hier Triticum aestivum anbauten. Aber sie wussten, wann man die Samen in die Erde bringen musste; wie sie Ungeziefer fernhielten, wann der Dung der Tiere den besten Dienst erwies. Und auch, wann das Korn vom Feld geholt werden musste. Natürlich wussten sie nichts von den neuerlichen Fortschritten in der Landwirtschaft, sie wollten davon auch nichts wissen. Nicht, dass er ihnen davon erzählt hätte, dies wäre nur sofort als überhebliches, eitles Gewäsch ausgelegt worden. Nein, ganz ohne sein Zutun hatte der Großbauer ihm nach einem sonntäglichen Kirchenbesuch nahelegt, ihn mit dem ‚Kram‘ zu verschonen, der unter den Studierten so hoch gehandelt werde. Der Lehrer hatte sich damit abgefunden, auch damit, dass man ihn, den Studierten, natürlich nicht ins Vertrauen zog. So hatte der Alte, wie alle ihn hier nannten, ihm etwa nur gesagt, in den nächsten Tagen müsse er nicht unterrichten, nicht aber, weshalb. Da es jedoch die dritte Woche des Augusts war, nahm es der Lehrer als sicher an, dass er wegen der Ernte freigestellt worden war.
Auf dem Weg zurück zu dem großen Hof, auf dem er seine Tage und Nächte verbrachte, sah er wieder zu den Gewitterwolken, die sich weit entfernt bildeten. Die Chancen, dass sie hierher zogen, waren gering, ein stetiger Wind gen Nordosten machte es unwahrscheinlich.
Er grüßte zwei junge Mägde, die mit ungelenk schaukelnden Hüften und fleischigen Oberarmen den Feldweg hinunterliefen, wie der alte Bauer in schweren, lehmbehafteten Arbeitsstiefeln, mit einer kaum sichtbaren, schüchternen Bewegung, bemühte sich dabei, die Schultern gesenkt zu lassen. Die beiden kicherten dümmlich, erwiderten aber seinen Gruß.  Hinter ihm hörte er sie bald ein Gespräch führen, das offenbar ihm galt; er wusste nicht, ob sie es aus Bösartigkeit taten oder aus Dummheit. Er nahm nicht an, dass der Alte irgendjemandem von dem Grund für seine Flucht aufs Land erzählt hatte; das hätte man ihn spüren lassen. Als der Großbauer ihn zu sich bestellt hatte an jenem Abend, dann zunächst ebenso großspurig wie naiv über einige Weine gesprochen hatte, deren französische Namen ihm nicht von der Zunge gingen, um dann nach dem Hinunterschütten derselben zur Sache zu kommen, da hatte er versprochen, alles für sich zu behalten, wenn er sich nur anständig verhalte. Er wisse, hatte er gesagt, eine Schweinekeule zwischen den Zähnen, wie schwer es für „einen wie ihn“ sei, hier Fuß zu fassen. Selbstredend hatte der Alte ihm diesen Dienst nicht umsonst erwiesen, es steckte keine Loyalität oder Freundlichkeit dahinter, wie überhaupt nichts, war der Alte tat, von Loyalität oder Freundlichkeit geleitet war. Vermutlich war es eher aus Sorgen um sein Ansehen so geschehen; mit viel Aufwand versuchte der Alte, seine Verbindung zur Kirche zu stärken. Der Pfarrer, ein alter, knurriger Mann mit starren, mehr überlieferten denn studierten Vorstellungen von Religion und Anstand, ging ein und aus in seinem Haus, und die Nachricht, dass in eben diesem  Haus ein Mann unterrichtete, der wegen der unrechtmäßigen Beziehung zu einem Mädchen seine Stellung und seinen Ruf in der Stadt verloren hatte, ja gar aus der Stadt davongejagt worden war, würde sogar auf den alten Pfarrer einen unliebsamen Schatten werfen.
Er wisse ja auch, wie die Mädchen sein können, hatte der Großbauer nach dem Mahl mit immer noch gefräßigen Augen gesagt. Das eine oder andere Mal sei auch er einem hinterher gewesen, und manchmal gebe das eine schlimme Folge, aber damit müsse man jetzt leben und weiterschauen. Fett tropfte dabei von seinen Lippen. Jedenfalls müsse es ja niemand wissen, er wisse es ja nun und der Lehrer selbstredend auch, das sei genug.
Das war vor einem halben Jahr gewesen, und scheinbar hatte der Großbauer sein Wort gehalten, jedenfalls trat ihm niemand in anderer Weise entgegen als zuvor.
Erntezeit
Vielleicht hatte der Alte ihm auch zu Gute gehalten, dass er ihn nicht belogen hatte. Ein Bekannter hatte ihm diese Stelle vermittelt, zum halben des gewöhnlichen Lohns hatte der Lehrer seine Dienste angeboten; der Alte hatte ihn gefragt, warum „einer wie er“ (diese Floskel wählte er immer wieder, mit wachsender Abscheu darin) aufs Dorf wolle und er hatte darauf nur geantwortet, dass man ihn bitte nicht zwingen möge, diese Frage zu beantworten.
Viel wahrscheinlicher aber war es, dass es dem Alten schlicht egal war; es gehörte viel zu dazu, an den ganzen Acker der fruchtbaren Gegend zu gelangen, und unter diesem Vielen war nur wenig Gutes oder Edles.
Er erreichte den Hof, sah auf die Taschenuhr, die er immer bei sich trug, und erinnerte sich an seinen leeren Magen. Er ging um eine große Scheune herum, begegnete dabei einigen Arbeitern, die ihn nicht weiter beachteten, und erreichte eine große, grobe Holzhütte. Über die Türe hatte der Alte ein Schild mit der lächerlichen Aufschrift „Mensa“ gehängt, eins der ersten Ergebnisse seines Unterrichts. Zunächst war er zwar angestellt worden, um die Kinder des Großbauern zu unterrichten, aber schnell stellte sich heraus, dass dies nur ein Vorwand gewesen war; Keiner auf dem Hof konnte richtig lesen oder schreiben, vielen fiel auch das Rechnen schwer. Vermutlich hatte keiner von ihnen je die Schulbank gedrückt, aber zumindest der Alte bestand darauf, nur viel vergessen zu haben; dabei hielt er den Stift wie ein Esel. Der Lehrer lobte ihn häufig für seine winzigen Fortschritte in Rechtschreibung und Grammatik.
Er grüßte die alte Frau, die mit knorrigen, gichtbefallenen Händen einen Teller auf seinen Tisch stellte.  Dieser Tisch war ihm bald nach seiner Ankunft zugewiesen worden. Im Gegensatz zu den anderen war es keine lange Holztafel wie die, an denen die Arbeiter speisten, sondern ein kleines Tischchen ein wenig abseits, an dem er stets allein saß. Kam er zum Essen, so wischte die alte Küchenfrau ihn mit langen, gründlichen Bewegungen ab, als täte sie es zum ersten Mal; alle seine Bitten, diesen Umstand doch nicht nur seinetwegen zu machen, waren vergebens geblieben.
Die Küchenfrau war eine der wenige Personen auf dem Hof, die er nicht wenigstens manchmal unterrichtete; offenbar hatte der Alte es für verschwendete Zeit befunden. Der Lehrer vermutete, der Alte hatte den Unterricht für alle auf dem Hof auf Ansinnen des Pfarrers verfügt; das war schnell geschehen, nachdem er seine Arbeit begonnen hatte, und seitdem lehrte er die viele Arbeiter und Mägde die deutsche Sprache, aber von Zeit zu Zeit auch anderes, so etwa Naturwissenschaft oder ein wenig Geschichte.
All das war, so wusste er, vergebene Mühe. Die meisten waren wirklich dumm, sie behielten nicht, was er mit ihnen übte, und manchmal schien es, dass sie nicht einmal zuhören konnten; so sehr er sich auch bemüht hatte, die Erfolge waren verschwindend. Die wenigen, die er für gescheit hielt, waren nach der harten Arbeit meist nicht willens und auch nicht in der Lage, ihm zu folgen. Und überhaupt schien es ihm, als hätten sich viele der Männer und Frauen mit ihrem Leben abgefunden: Sie sahen die Notwendigkeit nicht, schreiben oder lesen zu können.
Immerhin duldeten sie seine Autorität während des Unterrichts. In einer Weise, die ihm beinahe unheimlich war, befolgten sie gehorsam jede seiner Anweisungen, häufig, ohne sie überhaupt zu verstehen. Vielleicht war es aus diesem Grund ein hoffnungsloses Unterfangen. Hatte er einer Gruppe beigebracht, dass Z zu schreiben, hatten die ersten das A schon wieder halb vergessen; manches, wie die Philosophie etwa, schien an ihren viehischen Augen schlicht vorüberzugehen. Mit wenig Überraschung hatte er bald entdeckt, mit welcher Faszination die Menschen hier Geschichten entgegentraten, mit welcher kindlichen Ernsthaftigkeit sie jede noch so schlechte erzählte oder komponierte Geschichte bedachten. Zunächst hatte er dies aus didaktischen Gründen genutzt; das Versprechen, er werde wieder von Odysseus erzählen, hatte seine Schüler motivieren sollen. Letztlich, so musste er feststellen, änderte das nichts an dem Ausbleiben jedes Lernerfolges. Doch die Geschichten erzählte er weiter, zunächst oft heidnische Mythen, später ersann er auch selbst einige, oder er bediente sich in der Bibel, um diesen seltsam stummen Menschen wenigstens etwas Anteilnahme abzuringen. Schließlich gestaltete er seinen ganzen Unterricht häufig wie eine Erzählung, bei der Lernstoff und Dichtung verschwammen. Die Erzählung musste nicht gut sein; die Bauern waren wie Kinder, gierig verschlangen sie seine Worte, ohne auch nur irgendetwas Sinnvolles dabei zu lernen.
Er schob seinen Teller vorsichtig zur Seite. Wortlos nahm ihn die alte Frau vom Tisch. Er sah sich um, dann zog er ein kleines Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin. Es war den Bauern anstößig, wenn er hier, vor ihren Augen, las, da sie selbst es ja nicht konnten, und so hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, früher zu essen, um danach in sein Büchlein schauen zu können.
Ein großer Teil des Jahres war bereits verstrichen. Nicht allzuviel war geschehen, und so hatte er auch nicht viel in sein Büchlein geschrieben. Sein Blick fiel auf eine Überschrift, und er begann zu lesen.
Januar – Im Januar war es bitterkalt geworden, und fast jeder auf dem Hof hatte nachts gefroren. Der Großbauer hatte ihm eine große, schwere Decke aus Tierfellen gegeben, und so war er der einzige gewesen, der nicht gänzlich verfroren zum Unterricht kam. Auf dem Hof war nicht viel zu tun, und so saßen die Arbeiter viel herum und tranken noch mehr. Er hatte einmal versucht, sich zu ihnen zu setzen, aber ihre Gespräche waren ebenso einfältig wie ihr Gemüt gewesen, und so hatte er es aufgegeben. Im Unterricht hatte er erneut mit der Grammatik begonnen und von Ali Baba und den 40 Räubern erzählt. Andere morgenländische Geschichten waren gefolgt, soweit er sich an sie erinnerte, aber er hatte festgestellt, dass sie nur mäßiges Interesse bei den Schülern weckten, wohl, weil sie ihnen zu fremd waren.
Februar – eines Abends hatte das dicke Glas des winzigen Fensters gefehlt, das seine kleine Kammer besass. Der Alte hatte nicht herausgefunden, wer es gestohlen hatte, und es hatte bis in den März gedauert, bis sich jemand der fehlenden Scheibe annahm. Auf den Feldern lag Schnee, und der Lehrer hatte wieder einmal bemerkt, dass er einzige zu sein schien, der diesen Anblick schön fand oder überhaupt wahrnahm.
In der zweiten Woche hatten sie ein Kind zu Grabe getragen. Auf dem kleinen Friedhof stand er abseits; das Kind war wohl schon länger erkrankt gewesen. Er hatte davon nichts gewusst. Im Unterricht waren sie kaum weitergekommen, auch wegen des Todesfalls. Aber er hatte den Bauern von Troja erzählt und den Krieg in seiner Schrecklichkeit ausgemalt, so gut er konnte.
März – Die Saat stand an, und den größten Teil des Monats hatte er in seiner Kammer verbracht, sofern die Temperaturen es zuließen. Nach Ende der Saatzeit hatte er etwas Naturwissenschaft mit ihnen besprochen. Mit einem Katzenfell hatte er ihnen die statische Elektrizität aufgezeigt, und ihnen anschließend vom Entstehen der Blitze und ihrer verherrenden Wirkung erzählt. Sie waren sehr gespannt gewesen, und so hatte er seine Darstellung lang ausgeschmückt, ihnen von Häusern erzählt, die, vom Blitz getroffen, so schnell niedergebrannt waren, dass niemand sich mehr daraus retten konnte, und von Menschen, die auf offenem Feld regelrecht gespalten worden waren.
April – für den April hatte er nun einen Satz notiert: Das Korn wächst.
Mai – Die Natur war freundlich geworden, und der angenehmen Temperaturen wegen hatte er erwogen, den Unterricht nach draußen zu verlegen. Der Großbauer hatte es abgelehnt, weil „die Schüler nun mal in die Schule gehörten“. Er war mit der Grammatik nur leidlich vorangekommen, hatte aber von den alten Göttern der Germanen erzählt, und so auch von Thor, der gewaltige Blitze auf die Erde niederschleudern konnte, um seine Feinde und Frevler allesamt zu verbrennen. Da sie Gefallen an diesen Geschichten fanden und mit fast panischem Ernst lauschten, erzählte er ihnen auch noch andere Geschichten über Blitz und Donner, etwa von furchtbaren Gestalten und Figuren, die ihre Füße und Arme mit den Blitzen gen Erde streckten, um dort umherzuwandern und ihrer grenzenlose Zerstörungswut freien Lauf zu lassen.
Juni – Bei schönem Wetter war er oft spazieren gegangen. An einem Abend war er auf dem Weg in seiner Kammer mit einem betrunkenen Knecht aneinandergeraten, der sich am nächsten Tag (auf Einwirken des Alten) wortkarg bei ihm entschuldigte. Im Unterricht hatte er die Geschichte des Landes durchnehmen wollen, aber schließlich hatte er von Platons Atlantis erzählt und seinen nächtlichen Untergang durch einen Sturm in allen Einzelheiten, die er sich denken konnte, beschrieben. Ängstlich hatten ihm die stummen Bauern zugehört.
Eine Magd war des Hofes verwiesen worden, er wusste nicht, warum. Aus einer Unterhaltung hatte er aber erfahren, dass sie möglicherweise ein Verhältnis mit dem Alten eingegangen war.
Juli – Der Juli brachte große Hitze mit sich, und sie alle hatten in der zum Unterrichtsraum erklärten Scheune furchtbar geschwitzt. Er hatte festgestellt, dass seine Schüler nicht das geringste gelernt hatten, und wieder neu mit der Grammatik begonnen. Außerhalb des Unterrichts hatte er meist im Freien gesessen und sich Notizen gemacht für eine Geschichte, die er später im Monat eindrücklich erzählt hatte. Sie war mit Anleihen an die Offenbarung und den Untergang Babylons gespickt, und ein besonderes Augenmerk legte er auf den Gewittersturm, der alle Sünder hinwegfegen würde, egal wie winzig ihr Vergehen auch sei. Seine Schüler waren wie gefesselt von der Geschichte, und er fand Vergnügen daran, sie so gut er konnte zu erzählen.
August – Im August hatte er noch nichts aufgeschrieben. Unter der Überschrift waren daher einige Zeilen Platz, doch darunter hatte er vor einem Jahr bereits notiert: Dritte Woche – Wind dreht. Die Zeile war unterstrichen.
Der Lehrer besah die Worte einige Sekunden. Schließlich schrieb er nichts mehr dazu, sondern schloss sein Büchlein, schob es wieder in seine Tasche und ging hinaus. Unter dem Schild an der Tür blieb er stehen, sah einen Moment in den Himmel. Dann ging er schnellen Schrittes zu dem Nebenhaus, in dem er mit vielen der Mägde und Knechte hauste, betrat seine Stube mit dem winzigen Fenster, setzte sich auf sein Bett und nahm eins der schweren Bücher vom Regal, um darin zu lesen. Es dauerte etwa eine Stunde, bis er draußen Rufe und das Klappen von Türen hörte. Er zog sich um, legte sich sich hinein, und las weiter. Als es draußen schnell dunkelte, entzündete er eine Kerze, obwohl er wusste, dass er Alte es eine Verschwendung gescholten hatte, zum Lesen eine Kerze anzuzünden.
Als die Rufe plötzlich aufhörten und das Treiben im Haus verstummte, legte der Lehrer sein Buch zurück an seinen Platz und löschte das Licht. Mit offenen Augen starrte er in die Dunkelheit.
Als die ersten Blitze zuckten, hörte er zwei Kinder schreien. Sie verstummten wieder. Als der Donner kam, und mit ihm der Wind und der Regen, da erhob sich über dem ansonsten stillen Haus das Klagen und Wehen. Im Stock über ihm lagen acht Mägde unter ihren Betten und weinten und flehten. Im Raum daneben wimmerten die Männer in ihren Betten; mit jedem Blitz, jedem Donnerschlag ging bald ein großes Aufschreien durch das Haus, und während das Aufblitzen des Gewitters immer häufiger kam und der Wind immer mehr zunahm, vermischten sich die Schreie und Gebete zu einem einzigen, dumpfen Rauschen, das bald lauter war als der Sturm selbst. Im Raum neben dem Lehrer gestanden sich zwei Eheleute beständig ihre Missetaten: weinend und einsam lagen sie sich in Armen, die Münder über und über voll mit Beteuerungen und Geständnissen.
In seiner kleinen, kargen Kammer lag der junge Lehrer aus der fernen Stadt ganz still in seinem Bett, und mit der Bedächtigkeit der ziehenden Wolken, aber ebensolcher Beharrlichkeit, zog eine Veränderung in sein bleiches Gesicht. Bis nach Mitternacht dauerte es, bis der Höhepunkt des schweren Gewitters kam, und selbst der nun heftige Sturm und Regen konnte das Wehen im Haus nicht übertönen, die unzähligen gerufenen Gebete, das Kreischen der Frauen, die geweinten, halb erstickten Bekenntnisse und Entsagungen, und gerade zu dieser Zeit trat die Veränderung schließlich ganz in das Gesicht des ruhenden Lehrers, vielleicht zog sie mit dem Gewitter, vielleicht auch von innen nach außen, oder von weit hinten in seinem Kopf bis ganz nach vorn auf seine Gesichtszüge. Mit jedem der vielen Blitze fiel ein schmaler Lichtstreifen in das kleine Zimmer, fiel auf gewölbte Lippen und lachende Augen. Sein Gesicht war vollgesogen, ganz gesättigt, fast aufgelöst von einem Lächeln, das scheinbar zart und voll auf ihm lag, und in dem doch jede Linie, jeder gespannte Muskel einer momumentalen Anstrengung bedurfte, gegen die jedes Schreien im Haus verschwand wie hinter einem schwarzen Vorhang. Ein Lächeln wie aus höchsten Höhen. Ein Lächeln wie aus den Tiefen des Abgrunds.