Die Logik des Wolfes (2) Diesen Artikel drucken

Sie hatte am Morgen angerufen, mit einer ruhigen Stimme gesprochen, ein Treffen erbeten. Er war irritiert gewesen, aber er wollte, er musste wissen, was vorging, und der Klang ihrer Stimme hatte ihn dem Treffen zustimmen lassen, und er war zu ihr gekommen, und schon noch bevor sie Platz nahm war es aus ihr herausgesprudelt, es waren etwas überhastete verwirrende Satzfetzen gewesen, aber er hatte schnell verstanden, worum es ging, und sie hatte ihm von dem Jungen erzählt, von dem Brief, von ihrer Entscheidung, von dem Entzugsprogramm, von dem neuen Arzt, den sich nun einmal in der Woche aufsuchte, und von ihrem Umzug, auf Land wollte sie gehen, dort an der frischen Luft und nur für sich arbeiten, sogar etwas Triumph schwang in ihren Worten mit.
Und nun saßen sie hier, er in einem tiefen, schwarzen Sessel, sie auf einem Stuhl nur eine Armlänge entfernt, und immer noch erzählte sie, sie sprach von der Hoffnung, von dem Programm, an dem sie teilnehme wolle, von dem Entzug, sie wirkte klar und nüchtern, und dennoch stießen die Worte immer noch in einem ungebremsten Schwall über ihre Lippen, er fühlte sich an ein Kind erinnert, dass von einer der vielen kindlichen Traditionen schwärmte.
Und er hörte immer noch zu, scheinbar.
Seine Augen wandten sich von der Bücherwand, an der sie gehaftet hatten, wieder zurück zu ihren Augen, und für einen Moment gestattete er sich einen Blick auf das vage Funkeln echter Hoffnung, das langsame Aufflammen von etwas, dass er nicht kennen oder kontrollieren konnte.
Der Schlag kam von unten, wie ein Blitz, wie der kleine Funken zwischen zwei Schaltgattern eines Mikroprozessors, schnell und präzise, mit exakt der richtigen Abstimmung von Kraft und Richtung, ein einzelner Vektor, keine Ecken, keine Kanten, kein Zögern, nur ein schneller, harter Schnitt durch die Luft, so beiläufig und doch kraftvoll, dass das Leuchten in ihren Augen noch blieb, siebeneinhalb Sekunden lang, als hätte es für einen kurzen Moment den Tod vergessen.
Die Entscheidung selbst, so dachte er, war schnell gefallen, sie war obligatorisch, a priori, gewesen. Er konnte nicht zulassen, dass sie ging, dass sie seiner Kontrolle entglitt, dafür, so sagte er sich, auch wenn er das Pochen eines Zweifels hinter dieser Begründung spürte, wusste sie einfach zu viel über ihn, wer wusste, ob sie eines Tages mit den Männern in den grauen Anzügen vor seiner Tür stand, nein, hatte er bekräftigt, er konnte es nicht zulassen.
Und doch hatte er noch eintausendzweihundert lange Züge des Pendels hinter ihm dort gesessen und nichts getan, hatte nur über das Wie nachgedacht, die Herangehensweise überdacht, und er hatte dabei stumm dagesessen und sie reden lassen, einfach nur reden lassen, während er analysierte und seinen Blick über die endlosen Bücherreihen vor ihm wandern ließ.
Und schließlich war seine Augen an einem der Buchrücken haften geblieben, und er hatte sich erinnert, erinnert an eine Nacht vor vielen Nächten, in der sie hier gesessen hatte und im Rausch eines der Bücher gelesen hatte, und er hatte sich auch an die vielen wirren und düsteren Worte erinnert, die in dieser Nacht aus ihrem Mund geflossen waren wie ein reißender Strom, der sich seinen Weg durch einen tiefen Talkessel bahnte. Sie hatte von Wölfen gesprochen, von großen dunklen Männer, von der Angst, eingesperrt zu sein, und er hatte über Gewalt nachgedacht, über die seltsame Beziehung zwischen Räumen und Gewalt. Er hatte sich einen geistigen Exkurs von seiner methodischen Frage erlaubt, den Zusammenhang zwischen der räumlichen Wahrnehmung und dem Anwenden von Gewalt neu überdacht, seine eigenen Erfahrungen reflektiert.
Es stimmte, so hatte er befunden, während der Rezipient von Gewalt – er weigerte sich, in irgendeinem Zusammenhang von Opfern zu sprechen, denn es gab keine Opfer – eine Krümmung wahrnahm, ein Sich-Schließen des Täters um den Rezipienten, einen metaphorischen Kreis der Hölle, so verhielt es sich mit dem Täter umgekehrt, für ihn wurde der Raum größer, die Distanz wuchs, das Entkommen des Rezipienten – besser, die Option des Entkommens – entwickelte eine fast schon räumliche Dimension, dehnte die Abstände zwischen den beiden Subjekten.
Und dann hatte er sich ihrer Angst vor dem Eingesperrtsein besonnen und schließlich diesen Weg, dieses Wie gewählt, denn diese Methode schien die Verdrehung, diese Verkrümmung des Raumes abzumildern, zu verhindern durch Präzision und Geschwindigkeit, und in der Tat war er zufrieden, sein Arm, so hatte sein sensorisches Ich diesen winzigen Moment wahrgenommen, hatte den sich verzerrenden Raum zerschnitten, ähnlich einem Teppichmesser, dass einen Globus zerschnitt – es blieben winzige Krümmungen, winzige Spuren der Tat, kleine Dellen, topologische Unebenheiten, aber sie waren subtil, sie besaßen kein geordnetes Ziel mehr und zerfloßen in alle Richtungen.
Er hatte von diesem Schlag gelesen, vor langer Zeit schon, in einem alten Buch, dass in traditionellem Chinesisch verfasst worden war, und für einen Augenblick war er nicht sicher gewesen, ob er ihn korrekt ausgeführt hatte.
Ein gewisser Stolz mischte sich in die Leere seines Selbst. Er blickte in ein bleicher werdendes Gesicht, dessen Augen sich geschlossen hatten, schön und still, ein kälter werdendes Lächeln auf den Lippen, fast wie im Schlafe.
Es war perfekt gewesen, dachte er. Der Angriff war nicht von Emotionen geleitet worden, von Wut oder Trauer. Auch nicht von Rationalität, von Warum und Weil. Die Quelle dieses Schlags war er selbst gewesen.
Es war perfekt gewesen, dachte er noch einmal voller Bewunderung, dann floß eine einzige blutrote Träne aus ihrer Nase, in langsamen, kriechenden Bewegungen, und zerstörte sein Bild. Noch einmal pochte der Zweifel leise in seinem Hinterkopf, pochte auch in dem Arm, der jetzt schmerzte vom Brechen des dünnen Knochens.
Er schob es auf die seltsamen Umstände und stand auf, um sie wegzuschaffen.

„Die meisten Menschen sind Mörder. Sie töten einen Menschen. In sich selbst.“ – Stanislaw Jerzy Lec

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