Der Flüchtige

Diesen Artikel drucken 17. August 2010

7:15 Arbeitsbeginn

Mit dem Gedanken daran wachte er auf

8:00-10:50 Projektplanungsgespräch (Indochina)

Nicht, dass er die Zeit hätte, auch nur einen einzigen schweren Gedanken lange zu halten

11:00-12:00 Videokonferenz (Mr. Wan)

Aber für einige Sekunden befiel er ihn dennoch, wenn er erwachte und sich an den ewig gleichen Traum erinnerte:

12:15-14:00 Außentermin VDA (Rüsselsheim) (Zusage steht, wenn A auf die Konditionen der RA eingeht)

Die Schlange kroch aus ihrem Nest, und ihr teflonglatter Körper berührte kaum den Boden

14:00-15:00 Vorstandssitzung

Das Wasser türmte sich hoch und holte noch einmal tiefen, donnernden Atem, bevor es in den Fall überging

15:00- ? Gespräch mit Herrn Dr. Höpfer

Der Boden öffnete sich zischend, während der Berg ins Rutschen geriet

16:15-17:20 Präsentation der neuen Produktlinie (Rüninger Dampf machen!)

Und vor allem war da er selbst

17:30-18:15 PK Schadensfälle (=> Watters unbedingt vorher informieren!)

Er, der der Schlange entfloh –

18:00-19:00 RA abklären (=> wird geschoben, Vogel erledigt es)

Er, der selbst die größten Wellen meisterte –

18:30-19:30 Essen mit Herrn Maich, Projektfinanzierung (!!!)

Er, der dem Berg entkam

20:00-21:00 Gespräch mit Rüninger (=> Doku muss auf den neuesten Stand!)

Und sie in jeder Nacht erneut bezwang

22:00- ? (23:40?) Telefonkonferenz (GUS)

Bezwingen musste

7:15 Arbeitsbeginn

Die Angst war schon lange einer seltsamen Anziehung gewichen

7:30 Rüninger!

Der Bestie noch näher zu kommen und doch immer ein Stück vor ihrem Maul

8:00-10:45 Treffen mit Aufsichtsrat (Jahresabschluss!!)

Dahinzurasen

11:20- ? (13:00?) Post endlich erledigen (Präsentkorb => Mr. Wan!)

Die Angst war ihm fremd geworden

13:30-16:00 Marketingabteilung (Verkaufszahlen?)

Gehörte sie doch nicht mehr ihm, sondern den Dämonen

16:00-18:00 Mitarbeiterversammlung (Ansprache!!)

Die sich fürchteten

18:30-20:00 Treffen mit Rüninger, Vogel (Vertragsabschluss Indochina!!)

Zu langsam zu sein.

20:30- ? Telefonkonferenz Indochina

Die weiße Stadt

Diesen Artikel drucken 27. April 2010

Im Morgengrauen erreichte ich die Mitte des Plateaus.
Ich weiß nicht, wie lange ich dorthin unterwegs war; auch weiß ich nicht, wie ich überhaupt dorthin gelangt war, in diese endlose Wüste aus Fels und Staub. Ich erinnere mich nur, dass der Weg über das Plateau eine Ewigkeit zu dauern schien, und als ich ganz zu mir kam, da stand ich auf der höchsten Spitze des Bergrückens und starrte in die aufsteigende Sonne.
Die Kleidung, die ich trug, muss viel zu dünn gewesen sein für eine kalte Nacht in der Wüste, denn sie bestand nur aus einem einteiligen Arbeitsoverall. Ein Schild auf der Brusttasche war der einzige Hinweise auf meine Herkunft oder Identität: 2/4/47 stand darauf. Mit trockenem Mund las ich es wieder und wieder, suchte nach Erinnerung oder wenigstens Vertrautheit in der Zahl, doch trotz dieser großen Verwirrtheit in mir begriff ich zumindest, dass mir die kräftiger werdende Sonne einen schnellen Tod versprach, wenn ich nicht Schutz vor ihr fand. Ich sah mich lange um, blickte in jede Richtung der Ödnis, und schließlich entdeckte ich am Horizont eine schmale Linie, die sich quer durch die Ebene zu ziehen schien. Zunächst hielt ich sie für eine Fata Morgana, eine letzte, fatale Täuschung, und für einige Momente blieb ich unschlüssig; da ich jedoch ansonsten nichts entdeckte, was in irgendeiner Weise auffällig oder viel versprechend war, sondern in jeder Richtung nur den endlos abfallenden Fels sah, schlug ich dennoch diesen Weg ein, hin zu dem glitzernden Band.
Die Weiße Stadt Schnell wurde das Sonnenlicht so hell, dass ich das Band nur mit zusammengekniffenen Augen sehen konnte; ebenso kam die Hitze und ließ mich den Overall öffnen. An der Außenseite war ein Gürtel befestigt, so dass ich die Ärmel daran befestigen und den Overall bis zur Hüfte abstreifen konnte. Ein kleines, bedrucktes Emblem fiel mir in die Hände, als ich die Ärmel festzurrte: Es war aus weißem Stoff, und die offenen Nähte am oberen Ende verrieten, dass es zum Overall gehörte. Darauf abgebildet war die Silhouette einiger Kirch- oder Bürotürme, jedenfalls die vergröberten Konturen einer Stadt, deren Flächen – von schwarzen Linien getrennt – aus dem blütenweißen Stoff bestanden, und der seltsame Schriftzug „remove worker before washing“.
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit ich für den Weg zu den Schienen benötigte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die fast kerzengerade am Horizont aufgestiegen war, müssen es etwa drei Stunden gewesen sein, vielleicht auch nur zwei: in der Hitze und ohne Wasser kam es mir um ein Vielfaches länger vor. Ich erinnere mich, wie ich mich lange, noch längere Zeit dahinschleppte, dabei von Zeit zu Zeit beinahe stolperte und nur mit größter Mühe über kleinen Erhebungen und Steine hinwegkam, die auf meinem abschüssigen Weg lagen. Mein Kopf wurde vom ewig gleichen Anblick der Felswüste und der Anstrengung ganz taub, und eine genaue Erinnerung fehlt mir wohl. Ich sah einige Dinge, von denen ich daher nicht weiß, ob sie wirklich da waren, oder ob ich sie erfand: Einmal sah ich einen großen, weißen Büroturm, auf den ich zuschritt, das war sicher eine Illusion. Ein anderes Mal aber sah ich ein Tier; es war weit weg, als ich es erspähte, und so klein, dass ich nicht genau sagen kann, ob es eine Art Katze oder ein Wolf war, oder sogar ein großer Hund. Es muss mich gesehen oder gewittert haben; starr blickte es mich für einen Augenblick an, dann lief es davon. Einen Moment später war es wieder verschwunden. Ich weiß nicht, ob auch dieses Tier eine Einbildung war. Damals dachte ich jedoch, dass diese Richtung nicht die schlechteste sein konnte, wenn ich sogar in dieser trostlosen Landschaft ein so großes Tier traf.
Als ich die Schienen schließlich erreichte, legte ich die Hand schützend über meine Augen, um genauer zu erkennen, was ich gefunden hatte; es waren tatsächlich Bahnschienen, und der blanke Stahl ließ mich glauben, dass hier oft Züge entlang kamen. Viel aufgeregter wurde ich jedoch, als ich das leise Rauschen hörte, welches aus einem neben den Schienen verlaufenden Rohr kam. Es hatte die Farbe des Sandes, und in geringer Entfernung sah ich einen silbriges Ventil glänzen, welches aus dem Rohr hervorstand: ich kniete mich davor, drehte hektisch daran, und tatsächlich schoss eine Flüssigkeit heraus, fast so klar wie Wasser; ich legte mich halb unter das Ventil und trank, bis der Strom versiegte. Schon etwas weniger durstig, aber noch lange nicht befriedigt riss ich an dem kleinen Rädchen, welches das Wasser zum Fließen gebracht hatte. Das Rauschen war noch da, hatte auch nicht abgenommen, und dennoch kam kein Wasser mehr aus dem Auslass. Schließlich versuchte ich das Ventil ganz abzureißen, trat und schlug dagegen, ich legte mich sogar ganz unter das Rohr und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, um es aus der Führung zu brechen – ohne Erfolg. Ich entdeckte einen kleinen Schriftzug unter dem Ventil; in weißer Schrift blinkte dort warnend
„Arbeit schafft Wohlstand“
Ich gab mich geschlagen, klopfte den Staub von meinem Anzug und nahm meinen Weg entlang der Schienen auf; wenn es hier ein Ventil gab, dann gab es vielleicht überall entlang der Schienen Ventile. Die einzuschlagende Richtung war für mich leicht zu ermitteln; alle paar Meter wies ein Pfeil auf der Wasserleitung die Fließrichtung. Die Sonne war inzwischen schon lange völlig unerträglich, und während ich den Schienen folgte, riss ich die Ärmel meines Overalls in Streifen und fertigte eine Art improvisierten Turban daraus, der mich mehr schlecht als recht vor der Sonne schützte. Ich zählte ab, wie viele der Pfeile ich passierte, und nach 150 Pfeilen traf ich wieder auf ein Ventil: kein Schriftzug war darunter zu sehen. Ich trank, dieses Mal aber öffnete ich den Hahn vorsichtig, um nichts zu beschädigen. Aber auch an diesem Ventil floss das Wasser nur kurz, und als ich wieder aufstand, sah ich aus den Augenwinkeln das weiße Blinken, dass ich zuvor schon gesehen hatte. Ich verstand das System und ging weiter an den Schienen entlang.
Als ich das sechste oder siebte Ventil hinter mir gelassen hatte, wurden mir zwei Dinge klar: Zum einen handelte es sich bei der Flüssigkeit in der Leitung auf keinen Fall um Wasser. Ich fühlte, wie leer mein Magen war, und abgesehen davon, dass ich schon mehr als sechs Stunden unterwegs sein musste, konnte ich mich nicht daran erinnern, ob ich jemals etwas gegessen hatte. Selbst wenn ich mein letztes Mahl vor sechs Stunden gehabt hätte, so hätte mein Hunger schon lange zurückkehren müssen aber das geschah nicht: Die einzige plausible Erklärung war die Flüssigkeit, die ich alle 150 Pfeile aufnahm.
Die zweite Erkenntnis betraf ebenso die Flüssigkeit, die stets hörbar durch die Leitungen gurgelte, und war weniger positiv: Ich beobachtete, wie mein Durst von Ventil zu Ventil größer wurde, während vermutlich immer die gleiche Menge heraussprudelte. Zunächst hatte ich es für ein normales Phänomen gehalten, bei dieser Hitze und meinem allgemeinen Zustand, dann jedoch bemerkte ich den salzigen Geschmack in meinem Mund.
Nach zehn Ventilen kam mir zum ersten Mal ein Zug entgegen: Ich hörte ihn schon aus großer Entfernung heranrauschen, und zunächst blieb ich auf den Schienen stehen, um zu sehen, ob er anhalten würde. Als der weiße Punkt am Horizont jedoch sehr schnell größer wurde, besann ich mich eines Besseren und verließ das Gleisbett: Ich weiß nicht, wie schnell der Zug war, aber mir kam er unglaublich schnell vor. Die ganz weiß getünchten Wagen rasten an mir vorbei, ohne abzubremsen. Ich sah keine Passagiere und auch keinen Zugführer. Die Fenster, wenn es denn Fenster waren, waren verspiegelt und ich sah nur meine heruntergekommene Gestalt darin. Als der Zug sich entfernt hatte, entschied ich mich, dennoch in dieser Richtung weiterzugehen, weniger deshalb, weil ich dort weitere Züge vermutete, als vielmehr wegen der Ventile, die in dieser Richtung eine kurze Erleichterung versprachen. Der Salzgeschmack in meinem Mund war inzwischen unerträglich, und ich schleppte mich nur noch von Ventil zu Ventil. Ich weiß nicht, wie viele es am Ende waren.
Irgendwann hörte ich jedoch ein fernes Donner, und als ich die Augen zusammenkniff, sah ich etwas Schwarzes auf den Gleisen. Das Geräusch wurde lauter, und ich begriff, dass es sich um einen wesentlich langsameren Zug handeln musste. Kaum merklich, aber stetig kroch er auf mich zu. Ich ging ihm entgegen, bis zu einem weiteren Ventil, von dem ich trank, ohne den schwarzen Triebwagen, den ich inzwischen erkennen konnte, aus den Augen zu lassen. Dann setzte ich mich neben die Gleise und wartete.
Nach einer Weile erkannte ich immer mehr Details. Die Front des Triebwagens war schwarz, und hinter den durchsichtigen, aber vergitterten Fenstern konnte ich Personen erkennen, offenbar den Zugführer. Der Wagen schien mir sehr alt zu sein, und an einigen Kanten blitzte unter der vom Wüstensand abgeriebenen Farbe der blanke Stahl. Die Front des Zuges war zugespitzt, wie bei einer Art Rammbock, und aus der Nähe wurde das Lärmen der Motoren unerträglich laut. Als der Zug nur noch wenige hundert Meter entfernt war, beschlich mich plötzlich eine seltsam vertraute Angst: Ich dachte darüber nach, in die Wüste zu laufen und auf den nächsten Zug zu warten. Andererseits aber wusste ich, dass der Durst noch schlimmer werden würde, wenn dieser Zug mich nicht mitnahm. Und außerdem, wohin sollte ich laufen? Die Wüste schien in jede Richtung weit und flach zu sein, das Plateau musste ich schon lange hinter mir gelassen habe. Man würde mich über Kilometer hinweg sehen könne, selbst wenn ich mich flach auf den Boden werfen würde. Schließlich verwarf ich meine Bedenken und blieb sitzen, bis der Zug einige Meter vor mir knirschend hielt: Dann stand ich auf und ging mit langsamen Schritten auf das Ungetüm zu.
Eine Tür öffnete sich an der Seite des Führerhauses: Zwei Soldaten stiegen aus. Sie trugen Gewehre, die aber locker vor ihnen baumelten, und weiße Uniformen, die an einigen Stellen fleckig waren. Ich schluckte meine aufkeimende Panik herunter und lächelte die beiden gequält an, während sie mir entgegen gingen. „Hallo…“ rief ich herüber. „Identifizieren sie sich bitte.“ antwortete einer der Soldaten. „Ich bin schon lange in der Wüste, ich weiß nicht…“ „Identifizieren sie sich!“ unterbrach mich der Soldat herrisch. „2/4/47“ antwortete ich, bevor ich darüber nachdenken konnte, „2/4/47“. „Zwei… ein Arbeiter.“ raunten sich die Soldaten zu. Sie griffen nach ihren Waffen. „Steigen Sie ein, Zwei.“ brüllte mich einer der beiden an. Sie deuteten mir, zu ihnen aufzuschließen. Ich gehorchte; sie brachten mich nicht ins Führerhaus, aus dem die beiden geklettert waren, sondern weiter nach hinten, zu den angehängten Waggons, die ich bisher nicht gesehen hatte. Sie sahen noch älter aus als der Triebwagen: Es handelte sich offenbar um Personenwaggons, auch wenn man sie umgebaut hatte. Die Fenster waren überall durch dichte Stahlgitter ersetzt worden, und an einigen Stellen waren noch Reste der ursprünglich weißen Außenlackierung zu sehen: Durch die Gitter blickten mich einige Menschen an, die offenbar auch Overalls trugen; die meisten wirkten äußerst desinteressiert. An einem der Waggons war eine Tür angebracht; einer der Soldaten schloss sie auf, während der andere mich in Schach hielt. Sie deuteten mir, hineinzusteigen, und als ich nicht schnell genug reagierte, gab mir einer der beiden einen Schlag ins Genick. Unsanft landete ich auf dem Boden des stickigen Waggons, und hinter mir hörte ich die beiden lachen. Die Tür schloss sich wieder, und einige Sekunden später setzte sich der Zug in Bewegung.Die Weiße Stadt (2)
Ich stand auf und rieb mir das schmerzende Genick. Meine Anwesenheit schien keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Die meisten Fahrgäste schienen nach dem Zwischenhalt wieder zu dösen. Ich versuchte einige zu wecken, stieß sie sanft, später ruppig an, doch sie reagierten nicht auf meine Ansprache: Schließlich setzte ich mich auf einen freien Platz und dachte wieder an meinen unstillbaren Durst. Ich entdeckte einen kleinen, vergitterten Bildschirm an der vorderen Wand des Waggons. Er zeigte – offenbar in einer Endlosschleife – Schriftzüge: „Wir in Europa“ war darunter, aber auch „Wir können es besser“. Ich erkannte auch den Satz, den ich an den Ventilen immer wieder gefunden hatte. Als sich meine Augen besser an das Dämmerlicht im Waggon gewöhnt hatten, sah ich den kleinen, verstaubten Hahn im hinteren Teil des Wagens. Darüber prangte ein kleines Eingabefeld, dem ich zunächst keine große Beachtung schenkte. Ich verließ meinen Platz und sah mir den Hahn näher an: Er war anders als die Ventile in der Wüste. Inzwischen konnte ich förmlich spüren, wie sich Salzkristalle in meinem Mund sammelten, und so zögerte ich nicht, den Schraubverschluss zu drehen.
Der Stromstoß warf mich erneut zu Boden. Vielleicht war ich auch einige Minuten bewusstlos, jedenfalls fand ich mich auf dem Boden wieder: Mein Kopf schmerzte, und die Hand zitterte unablässig. Ich stemmte mich wieder hoch, schonte dabei die kribbelnde Hand und sah, dass das Eingabefeld über dem Hahn leuchtete. Eine Zeile blinkte über dem winzigen Tastenfeld:
7 + 8 =
Einige Momente musste ich mich sammeln, dann verstand ich. Mit der linken Hand, die nicht zitterte, tippte ich 15.
„Bildung ist ein Bürgerrecht.“
funkelte mir das Display entgegen, dann schoss eine Flüssigkeit aus dem Hahn, und ich trank begierig. Es schmeckte anders: ich glaube, es war kein Salz darin, dafür schmeckte das Wasser seltsam künstlich. Nach einigen Sekunden versiegte der Strom wieder, und ich sah auf dem Bildschirm
4 x 5 =
Einige Male tippte ich die jeweilige Lösung, um weiter trinken zu können, schließlich wurde ich sehr, sehr müde. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich schon seit weit mehr als 10 Stunden unterwegs war, und der Gedanke an die harte Polsterung der Sitze wurde immer verführerischer. Dass etwas im Wasser dafür verantwortlich gewesen sein muss, erkannte ich eher beiläufig und ohne, dass ich lange darüber nachdachte. Ich schleppte mich nur noch zu einem der freien Sitze, ließ mich fallen und schlief auf der Stelle ein.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlief oder wie lange wir unterwegs waren. Zweimal wurde ich in der Nacht wach, und im Dunkeln tastete ich mich zu dem Wasserhahn vor, um nach dem Lösen einer Aufgabe wieder trinken zu dürfen; dann schlief ich wieder. Am Tag (wahrscheinlich war es der nächste Tag, vielleicht aber auch der übernächste) hielten wir einmal an. Ich registrierte kaum, wie die Soldaten draußen eine Frau zwangen, in den Waggon zu steigen. Als der Zug rollte, schlief ich wieder. Ich träumte ein wenig, aber wenn ich es mir recht überlege, kann ich nicht sagen, was genau ich träumte: Es hatte mit dieser weißen Stadt zu tun, denke ich, aber mehr als die ferne Silhouette ihrer Türme kann ich mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen.
Schließlich weckte mich ein Soldat unsanft. Er sprühte mir irgendwas Kühles ins Gesicht, und als mich rührte, herrschte er mich an, wach zu bleiben, damit das Mittel schneller wirke. Meine Müdigkeit verflohg und ich sah nach draußen: Wir waren an einem Bahnhof angekommen. Er war überdacht, und ich konnte nirgendwo Schilder sehen, wusste also nicht, wo wir waren. Auf dem Gleis neben uns stand ein weiterer Zug, ebenfalls ein altes Modell mit vergitterten Fensteröffnungen: Er war leer. Zur anderen Seiten konnte ich zehn oder vielleicht sogar zwanzig Bahnhgleise sehen, und weit entfernt erkannte ich Menschen, die in einen der weißen Schnellzüge einstiegen. Ich beobachtete auch den Soldaten, der allen Arbeitern etwas aus einer kleinen Dose ins Gesicht sprühte und ihnen dann deutete, wach zu bleiben. Der andere Soldat stand währenddessen wachsam und mit gezogener Waffe in der Tür. Ich sprach den Mann an, der neben mir saß: „Was wollen die von uns?“. Ich bekam einen Tritt. „Niemand redet!“ brüllte der Soldat und zog einen Schlagstock aus seinem Gürtel. Ich duckte mich und verbarg den Kopf unter meinen Händen. Der Mann ging wieder an seine Arbeit und steckte den Knüppel weg. Ich stellte keine Fragen mehr.
Als der Soldat alle Passagiere aufgeweckt hatte, fuhren wir wieder los: Die Soldaten blieben im Waggon, ich rührte mich nicht. Bald hinter dem Bahnhof begann ein Tunnel. Wir fuhren vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Ich hatte das Gefühl, es würde immer weiter nach unten gehen, aber das mag täuschen; Als wir jedenfalls wieder an einem Bahnsteig hielten, waren wir offenbar tief unter der Erde, denn der nackte Fels hing über den Gleisen herab. Die beiden Soldaten stiegen aus und sprachen draußen mit anderen. Ich verstand ihr Gespräch nicht, obwohl ich sicher bin, dass sie das weitere Vorgehen besprachen. Einer der Männer kam zurück zum Waggon und deutete uns, auszusteigen, und zwar einzeln, und uns in einer Reihe aufzustellen.
Unter lautem Gebrüll der Soldaten beeilten wir uns, aus dem Waggon zu klettern. Vermutlich hatten wir alle Kopfschmerzen: Ich jedenfalls hatte schlimme Kopfschmerzen, was das Aufstehen nicht leichter machte. Auch meine Beine fühlten sich taub an, aber ich schleppte mich durch den Waggon, während wir nach und nach ausstiegen.
Als ich fast an der Tür war, sah ich die Bewegung des jungen Mannes gerade noch rechtzeitig, bevor er den Schraubenzieher wieder im Dunkel der Kabine verschwinden ließ: Für einen Moment jedoch sah ich ihn aufblitzen, und vermutlich rettete mir dieser Umstand mein Leben an diesem Bahnsteig in der Tiefe. Wahrscheinlich zeigte er ihn mir nicht absichtlich, es war mehr ein Zufall: Keiner der anderen hat ihn gesehen, denke ich. Ich hatte nur wenige Sekunden Zeit, darauf zu reagieren, und ich sah mich so ruhig, wie es mir möglich war, noch einmal um, blickte durch die Vergitterung der Fenster und versuchte, einen Fluchtweg festzulegen.
Als der Mann vor mir aus dem Zug gesprungen war, ging alles plötzlich sehr schnell, wie ich es mir erhofft hatte. Ich sah nicht, was genau geschah, aber soweit ich es einschätzen kann, stürmte der Mann auf den Soldaten los, der dem Zug am nächsten stand. Er muss ihn verwundet haben, denn ich hörte einen überraschten Schrei, aber sicher bin ich mir nicht, denn ich sah nicht hin. Die Trittstufe des Waggons sprang ich, schon halb im Lauf, hinab, dann ließ mich unter den Zug fallen und robbte, so schnell ich nur konnte, auf die andere Seite. Hinter mir hörte ich Rufe, das Klappern von Schuhen, dann Schüsse, immer mehr Schüsse, Schreie, wieder Schüsse. Vermutlich waren die anderen Arbeiter losgelaufen, als sie begriffen hatten, was vor sich ging. Ich sah niemanden von ihnen mehr auf meiner Flucht. Vermutlich haben die Soldaten die anderen erwischt, entweder getötet oder jedenfalls eingefangen. Ich ließ den Tumult hinter mir, als ich die Dunkelheit der Tunnel einbog.
Der Tunnel war einer von dreien gewesen, die ich entdeckt hatte, als ich mich noch im Waggon stehend umsah. Ich hatte aus keinem besonderen Grund für diesen entschieden, es war einfach der Fluchtweg, der mir am kürzesten erschienen war. Sein Verlauf war kurvig und spärlich beleuchtet, dennoch zwang ich mich, auf den ersten vielleicht hundert Metern nicht langsamer, sondern eher schneller zu laufen. Erst, als ich die Schüsse hinter mir nicht mehr hören konnte, bewegte ich mich etwas langsamer, lief aber weiterhin. Als ich an eine Abzweigung kam, wählte ich den dunkleren Pfad: nach einigen Hundert Metern verzweigte der Tunnel sich wieder, und ich wählte wieder den dunkleren Weg durch den Untergrund. Schließlich kam ich an der nächsten Kreuzung keuchend zum Stehen. Ich ging halb in die Hocke und rang nach Atem. Die Luft kam mir stickig vor, warm und dabei so, als ob zu wenig Sauerstoff darin sei; erst nach mehreren Minuten konnte ich langsam weitergehen, ein Stechen in der Seite machte mir das Rennen unmöglich. Dieses Mal nahm ich einen helleren Pfad, denn in dem schmalen Gang, in den ich geflohen war, schienen nur noch einige kleine, bläulich-weiße Lampen, die wie eine Art Notbeleuchtung wirkten. Überall um mich herum war nur noch nackter Fels, und die von Zeit zu Zeit auftauchenden Stützen aus Holz verrieten mir, dass ich in einer Art Mine war. Als sich meine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte ich tatsächlich die Spuren von Arbeit an den Wänden: In einigen entdeckte ich tiefe Löcher mit Scharten wie von Spitzhacken, vielleicht auch von schwererem Gerät. Ich ging voran, kam immer wieder an Abzweigungen und wählte irgendeinen Weg: Verlaufen hatte ich mich ohnehin, nun war es auch egal, in welche Richtung ich ging. Als ich das Hämmern von Werkzeug hörte, wand ich aber in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Hier unten waren andere Arbeiter, dachte ich mir: vielleicht würden sie mir helfen können.
Mein Weg durch die Tunnel war lang, wenigstens kam er mir lang vor. Ich folgte dem Klopfen, und wenn ich an eine Kreuzung kam, blieb ich stehen um zu lauschen. Dann ging ich in die Richtung, in der ich das Hämmern vermutete. Nach einer Weile wurde die Beleuchtung wieder besser, wahrscheinlich war der Bereich, den ich zunächst betreten hatte, ein verlassener oder erschöpfter Bereich der Mine gewesen.
Schließlich kam ich an eine große Kreuzung: Die recht schmale Öffnung im Fels öffnete sich weit nach oben hin und traf weit oben die weißen Kacheln eines großen und breiten Versorgungstunnels, der den felsigen Bereich, durch den ich gekommen war, fast im rechten Winkel schnitt. Der weiße Tunnel schien für meine Augen blendend hell, und doch sah ich auf der anderen Seite der Kacheln wieder einen der kleineren Tunnel, der fast in völlige Dunkelheit getaucht schien. Einen Moment blieb ich stehen und lauschte: Das Hämmern war jetzt ganz nahe, und ich bildete mir zumindest ein, auf der anderen Seite des Versorgungstunnels schemenhafte Gestalten zu erkennen. Dann hörte ich auch das Poltern von Stiefeln und die näherkommenden Rufe von Soldaten, und lief so schnell ich konnte.
Möglicherweise wäre ich weiter gekommen, wenn ich mich umgedreht hätte und in die Dunkelheit der verlassenen Abschnitte zurückgelaufen wäre, aber daran hatte ich keinen Gedanken: Ich rannte quer über den gekachelten Korridor und verschwand in den Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich den gebrüllten Befehl hinter mir hörte, hatte mich der Tunnel schon verschluckt.
Ich keuchte wie ein Tier, während ich das Tempo haltend versuchte, den Weg vor mir und vor allem die Unebenheiten des Untergrundes rechtzeitig zu erspähen. Um einige Biegungen kam ich nur knapp, indem ich meinen Oberkörper abrupt nach links oder rechts warf, und zweimal schlug ich fast hin, als sich im Boden vor mir plötzlich ein kleines Loch auftat. Ich passierte eine ganze Reihe von Arbeitern, die offenbar nur mit einfachsten Geräten gegen den Fels schlugen: sie schienen mir dürr zu sein, und irgendetwas Irritierendes war da an ihnen, aber mehr nahm ich auf meiner Flucht nicht wahr, zu schnell lief ich im Dämmerlicht an ihnen vorbei. Anfangs hörte ich noch die Rufe meiner Verfolger, aber das Tunnelsystem verzweigte sich auch auf dieser Seite sehr häufig, und nachdem ich fünf- oder sechsmal abgebogen war, hörte ich keine Stiefel mehr: Ich lief noch einige Hundert Meter weit, bis meine Lungen wie Feuer brannten, bog um eine Ecke, und prallte in vollem Lauf auf einen der Arbeiter.
Wir gingen beide zu Boden, fielen beinahe aufeinander , und ich schlug mit dem Kopf auf das Gestein. Ich wäre sicher eine ganze Zeit lang liegen geblieben, wenn ich nicht voller Adrenalin gewesen wäre, doch auch der Arbeiter schien sich sofort aufzurappeln, und noch während ich eine gestammelte Entschuldigung herausbringen wollte, verfehlte die breite Seite einer Spitzhacke mein Gesicht um Haaresbreite. Mehr reflexhaft drehte ich mich, immer noch halb liegend, herum und trat mit aller Kraft in die Richtung, in der ich den Stiel der Waffe vermutete: Ich hörte, wie die Hacke davon geschleudert wurde. „Ich will nichts…“, setzte ich keuchend zu einer Erklärung an, doch der Arbeiter hatte bereits nach einem Stein gegriffen und traf mich kräftig am Oberschenkel (im Nachhinein denke ich nicht, dass es ein gezielter Hieb war – mit Leichtigkeit hätte er auch meinen Kopf treffen können). Ich schrie auf vor Schmerz: Der Arbeiter nutzte den Moment und robbte zu seiner Hacke, ich hörte, wie die Klinge über den Boden schrammte und warf mich brüllend nach vorn, landete auf ihm und schlug so fest zu, wie ich nur konnte. Schließlich bekam ich seinen Hals zu fassen und ließ ihn fast wieder los, als ich bemerkte, wie dünn er war – und wie seltsam sich seine Haut anfühlte.
Er nutzte mein Zögern, griff nach etwas und traf mich am Kopf, doch zu meinem Glück war es nur seine flache Hand, die mich traf. Ich biss ihm in die Hand, schmeckte verbranntes Fleisch: Er heulte auf, das erste Mal, dass er einen Ton von sich gab, ich schloss beide Hände um seinen Hals und drückte zu. Er holte mit Armen und Beinen aus, doch sein Widerstand erlahmte schnell, begleitet von einem jämmerlichen Röcheln. Jetzt, da ich halb auf ihm hockte, sah ich, was mich an den Arbeitern im Gang so irritiert hatte. Der Körper des Arbeiters war so unnatürlich dünn, dass er fast wie Puppe wirkte. Dabei war sie nicht dünn im eigentlichen Sinne. Es war mehr so, als hätte man alles Unwesentliche weggelassen, Fett, Bindegewebe; Der Körper wirkte drahtig und auf seltsame Weise muskulös, obwohl er doch unglaublich dürr war. Was mich aber am meisten erschreckte, hatte ich zunächst für eine Täuschung meiner Augen gehalten, wie sie im Dämmerlicht entstehen kann, und ich hätte meinen Griff fast wieder gelockert, als ich es begriff; Der Körper des Mannes, dessen Hals ich umklammert hielt, war über und über verbrannt. Ich konnte keine Stelle entdecken, die nicht verbrannt war, und dabei war er bis auf eine kurze Arbeitshose fast nackt. An einigen Stellen schien sich das äußere Gewebe abzulösen, und ich spuckte aus, als ich mich an den Geschmack in meinem Mund erinnerte. Als sich seine Augen zu verdrehen begannen, lockerte ich meinen Griff  etwas und versuchte nicht darüber zu nachzudenken, wie man ihm so etwas angetan haben konnte. Der Arbeiter reagierte mit einem erleichterten Stöhnen. „Pass auf: Ich will dir nichts tun. Ich werde dich jetzt loslassen, und wir werden nicht mehr kämpfen. Verstehst du?“ sagte ich zu ihm immer noch keuchend. Ich versuchte, in seinen Augen eine Antwort zu lesen, aber ich sah nichts. Vielleicht war mein Griff noch zu stark, dachte ich und lockerte ihn noch etwas. „Verstehst du?“ fragte ich ihn noch einmal. Er antwortete nur mit einem röchelnden Zischen, dass ich zuerst nicht deuten konnte. Dann wiederholte er seine Antwort jedoch, und ich verstand: Wir in Europa, winselte er. Und: Arbeit schafft Wohlstand. Ich blicke entsetzt in seine leeren, ausdruckslosen Augen und vergaß den Griff, in dem ich ihn gehalten hatte Der Arbeiter griff augenblicklich zu einem größeren Stein, den ich nicht gesehen hatte, und traf mich unterhalb der Schläfe. Ich fiel zur Seite und sah einige Sekunden nichts mehr, konnte einem weiteren Hieb aber dennoch ausweichen. Dann sah ich ihn nach der Spitzhacke greifen, die ich fast schon wieder vergessen hatte, trat nach ihm, rollte herum, bekam meinerseits die Hacke zu fassen und schlug zu.
Als er sich nicht mehr rührte, kniete ich neben ihm und sah auf seinen verunstalteten Körper. Der Kampf mit mir hatte große, fast bräunliche Wunden auf seiner Haut hinterlassen. Etwas Schmieriges klebte an meinen Händen. Fassungslos starrte ich auf das Wesen, dass ich getötet hatte, töten musste. Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte den Kopf und sah den Gewehrkolben noch, dann wurde alles schwarz.
Ich kam zu mir, weil jemand mich jemand auf die Beine stieß. Der Kopf dröhnte, wie ich noch nie erlebt hatte, und als ich mein Gesicht befühlte, wurde mir klar, dass meine Nase gebrochen sein musste. Ich stand am Ende einer Schlange von Menschen, die alle einen Arbeitsoverall trugen. Wir schienen immer noch in den Tunneln zu sein: Dieser war so eng, dass ein Erwachsener nur einzeln hindurchgehen konnte. Der Soldat hinter stieß mir das Gewehr in den Rücken, damit ich aufschloss: Von Zeit zu Zeit bewegte sich die Reihe der Menschen ein Stück nach vorne, und als ich wieder sicher genug stand, um auf die Zehenspitzen zu gehen, blickte ich über die Menschen vor mir hinweg um zu sehen, wohin der enge Schlauch führte. Ich sah einen schweren Stahlschott wie den einer Druckkammer. Er besaß kein Sichtfenster, nur die vertraute Silhouette der Weißen Stadt sah ich darauf eingraviert. Die Tür öffnete sich: einer der Arbeiter, der erste in der Schlange wohl, ging an den Soldaten vorbei, die links und rechts in Aussparungen bereitstanden, und betrat den Raum hinter der Tür, der stockdunkel zu sein schien. Dann hörte ich einen gedämpften Schrei und ein Tosen und Dröhnen wie von einem Luftstrahl. Als ich begriff, sank ich zusammen, brach fast zusammen: der Soldat hinter mir erinnerte mich mit einem leichten Stoß an meinen Platz. Ich rückte auf. Es mussten noch vier oder fünf Leute vor mir gewesen sein, so viel hatte ich erkennen können. Auch über der Tür standen zwei Soldaten mit ihren Waffen im Anschlag auf einer Art Plattform, das erkannte ich erst jetzt. Sie waren im Halbdunkel schwer auszumachen, aber ich sah sie. Der Soldat stieß mich heftiger, ich ging wieder zwei Schritt nach vorne. Nur noch drei oder vier, dachte ich. Ich wartete, bis ich das Geräusch des Dampfstrahls hörte, dann drehte mich um und holte aus, doch ich traf den Soldaten nicht einmal, er hatte meine Bewegung bereits im Ansatz erkannt. Ich ging zu Boden, aber er hatte gerade so fest zugeschlagen, dass ich nicht ganz bewusstlos wurde. Unter einigen Tritten und Rufen brachte er mich auf die Füße, ich schleppte mich wieder zwei Schritte vor, beugte mich zur Seite und sah die Tür schon nah, nur noch zwei vor mir. Meine Knie knickten ein, ein weiterer Tritt, jemand zog mich an den Schultern nach oben, ich stand wieder, ich sah die Tür hinter der Frau vor mir, das weiße Emblem darauf, das Zeichen der Weißen Stadt, die Frau trat vor, die Tür schloss sich. Ich steuerte verzweifelt auf den Soldaten zu, der links neben der Tür stand, er schlug mich nicht einmal, sondern stieß mich sanft zurück, dann ein weiterer Tritt von hinten, und ich stand in der Kammer. Die Tür schloss sich hinter mir. Ich hörte Dampf rauschen.

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen schlimmen, anhaltenden Schmerz. Aber es war nicht der Schmerz, den ich erwartet hatte: Er betraf nicht den ganzen Körper, sondern konzentrierte sich gänzlich auf meinen Nacken. Noch dazu war er zwar intensiv, aber nicht so sehr, wie ich es befürchtet hatte. Ich hob den Kopf, und fand mich an meinem Schreibtisch wieder. Mein Kaffeebecher dampfte noch, und die Unterlagen, auf denen mein Kopf geruht hatte, waren noch genauso sortiert, wie ich sie hingelegt hatte. Das große Büro, dass ich schon seit einer Weile bezogen hatte, wirkte wie immer: Durch die großen Scheiben konnte ich die Welt draußen erkennen. Ich lehnte mich zurück in den tiefen Lehnsessel, und für einen Moment lang verfolgte mich der Gedanke, dass meine Flucht durch die Tunnel, die Arbeit in den Minen, nun schon lange hinter mir lag, dass ich die Minen schon lange verlassen hatte und nun hier arbeitete, doch dann wurde ich ganz wach und erkannte, dass es nur ein Traum gewesen war: die Wüste, der Zug, die Tunnel, alles. Wie zur Vergewisserung sah ich auf meine gepflegten Unterarme: sie waren nicht verbrannt, natürlich waren sie das nicht.
Dennoch beschäftigte mich mein Traum, schien er mir doch so real gewesen zu sein. Kurz betrachtete ich meine Unterlagen, die Tabellen und Zahlenkolonnen, die ich heute noch hatte bearbeiten wollen, dann jedoch nahm ich meinen Kaffee und setzte mich an den kleinen Konferenztisch, der nur einige Meter entfernt stand. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb auf, was ich geträumt hatte. Jede Einzelheit versuchte ich aufzuzeichnen, und als ich das Blatt vollgeschrieben hatte, nahm ich immer weitere. Schließlich hatte ich alles notiert, was mir einfiel, und ich betrachtete meine Aufzeichnung. Mir wurde klar, dass etwas fehlte.
Ich brauchte eine Weile, um mich an das zu erinnern, was ich vergessen hatte. Ich trank den Kaffee aus, genoss den sanften, bitteren Geschmack nach dem langen Weg durch die Wüste in meinem Kopf, und dachte darüber nach. Schließlich stand ich auf und ging zu dem breiten Panoramafenster. Während ich die strahlend-hellen Türme der Weißen Stadt betrachtete, deren Silhouette mir so vertraut war, strich ich abwesend über meine verbrannten Unterarme, diese Narben aus alten Zeiten, an die ich mich kaum noch erinnere.
Dann ging ich zurück zu dem wieder dampfenden Kaffeebecher und schrieb:
Jedes Leben in der Weißen Stand hat einen realen und einen fiktiven Teil; einen, der geschieht, während der Bürger nicht anwesend ist, und einen anderen, der nicht geschieht. Ich strich den Satz und begann neu;
Jeder Bürger der Weißen Stadt führt zwei Leben; dies ist nur die eine Hälfte meines Lebens in der weißen Stadt. Ich überlegte einen Moment, dann fand ich die richtigen Worte und die Geschichte, die ich erzählen musste:
Mein anderes Leben, das zweite der beiden, die man mir gegeben hat, beginnt so;

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen stechenden, endlosen Schmerz, der meinen ganzen Körper erfasst hielt und nicht locker ließ. Es dauerte Stunden, vielleicht auch Tage, bis ich das Bewusstsein gänzlich wieder erlangte. Als ich schließlich die Augen öffnete, lag ich offenbar auf dem Rücken und starrte auf etwas, dass ich zuerst nicht als einen Spiegel erkannte. Doch es war mein eigenes, verunstaltetes Bild, das dort von der Decke auf mich herabstarrte. Das hatten sie aus mir also gemacht; jeder Zentimeter meiner Haut war von dem Dampfstrahl verbrüht, und an einigen Stellen löste sich immer noch Haut. Ich war mir sicher, dass mich nur die schwarze Flüssigkeit bei Bewusstsein hielt, die durch ein dünnes Rohr in meinen Unterarm floss, aber auch so war der Schmerz unerträglich. An den Hand- und Fußgelenken, an denen weiße, starre Bänder mich auf der Liege fixierten, brannte der Kunststoff der Fesseln: An meinem Rücken brannte der kalte Stahl, und selbst die Luft schien sich wie eine schwere, entzündete Flüssigkeit auf mich zu legen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich dort behandelten, festgeschnallt auf dieser Liege, gezwungen, den eigenen, entstellten Körper unablässig zu sehen. Immer wieder wurde ich bewusstlos, und dann träumte ich von den Türmen der Weißen Stadt, die ich nie gesehen habe. Einmal unterhielten sich zwei Menschen direkt neben mir, ohne dass ich sie sehen konnte. „Wie weit ist der?“ fragte der eine. „Der ist auch bald so weit. Er kommt manchmal noch zurück, aber in zwei Tage sollte er soweit sein, dass wir ihn arbeiten lassen können.“ Ich verstand nicht, was sie damit meinten, oder ich hoffte nur, es nicht zu verstehen. Immer häufiger wurde ich bewusstlos und träumte von der Weißen Stadt, sogar von einem seltsamen Leben dort: Ich weinte, als ich aus diesen Träumen aufwachte und wieder mein entstelltes Spiegelbild sehen musste.
Irgendwann kamen die Männer wieder. Ich konnte sie reden hören. „Gut… das hier ist… 2/4/47.“ „Der ist auch bereit, alle Werte sind normal. Schicken wir ihn los.“. Ich sah, wie die Flüssigkeit, die man seit Tagen in meine Arme spülte, langsam ihre Farbe wechselte. Aus dem Schwarz wurde langsam Grau: Aus dem Grau ein helleres, immer noch helleres Grau, und schließlich war sie fast weiß. Ich spürte, wie meine Erinnerungen träger wurden, wie sie verschwanden: Mein Weg durch die Wüste, die Fahrt mit dem Zug. Meine Flucht durch die Tunnel. Der große Spiegel über meinem zerstörten Körper. Alles verschwand.
Dann dachte ich zum ersten Mal
WIR IN EUROPA und dann
ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND. Einen Moment glaubte ich, es wäre vorbei, doch dann
BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT und ich begriff, dass ich bald nichts anderes mehr denken würde, nicht mehr als

Ich trank einen weiteren Kaffee und sah zu, wie die Sonne unterging: Ihr Rot übertrug sich nicht auf die Türme der Weißen Stadt, sie blieben so weiß wie Schnee.

WIR KÖNNEN ES BESSER

Ich ging die Tabellen durch: Die Arbeit war fast erledigt, ich konnte mir Zeit lassen und den Ausblick genießen.

WIR IN EUROPA

Ich streckte mich, nur für einige Minuten, auf dem bequemen Ledersofa aus.

ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND

Ich wusste den Blick über die Weiße Stadt zu schätzen, nicht viele Angestellte in meinem Alter hatten ein Büro in solcher Lage.

BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT

Todesurteil

Diesen Artikel drucken 7. September 2009

Am 2. Verhandlungstag wurde die Anklageschrift verlesen. Sie war verrworren, und der Stimme des Staatsanwalts war neben der autoritären Grundhaltung eines Mannes im Staatsdienst so etwas wie eine gewisse Unbedarftheit zu entnehmen, so als ob man ihm selbst diese Schrift erst kurz vor Verhandlungsbeginn zugestellt hätte.

Jedenfalls erfuhr er, 42, ledig, arbeitslos, erst an diesem Tag, was ihm vorgeworfen wurde. Das heißt, eigentlich erfuhr er es nur ungefähr – ein halbes Dutzend Tatbestände schienen, jedenfalls auf den ersten Blick, in Frage zu kommen. Natürlich forderte man ihn auf, sich zu äußern. Es fiel ihm nichts ein; er beteuerte natürlich seine Unschuld, aber das schien niemand anders zu erwarten. Der Richter hörte sich seine Geschichte an, und stellte nur zwei Fragen; er fragte, ob er sich schuldig bekennen wolle, und ob die Zustände in der U-Haft erträglich seien. Er beantwortete die Fragen, während der Richter auf seine Notizen starrte. Die Protokollantin tippte monoton jedes Wort.

Auf dem Weg zurück in die Zelle versuchte er von seinem Anwalt zu erfahren, was nun geschehen würde; er sei nie politisch gewesen, und überhaupt könne es sich nur um ein Missverständnis handeln. Der Mann, ein junger Kerl mit durchgelaufenen Schuhen, reagierte nervös, fast ängstlich. Er murmelte nur, dass der Gerechtigkeit schon Genüge getan werden würde und dass sich das ganze sicher bald aufklären würde, wenn er nur kooperativ bliebe. Auf die Frage, ob er nun genauer sagen könne, was ihm überhaupt zur Last gelegt werde, blieb er zunächst stumm. Schwitzend sah er zu den Vollzugsbeamten, die unbeteiligt neben ihnen saßen. Es sei eine Farce, flüsterte er dann und konnte nicht aufhören, dabei zu zwinkern.

Todesurteil

Am nächsten Verhandlungstag saß ein anderer Anwalt neben ihm im Gerichtssaal, ein älterer, der viel resoluter auftrat und seine Fragen nur beantwortete, indem er aus einer schwarzen Mappe vorlas. Schließlich sah er ein, dass auch sein Verteidiger ihm nicht sagen wollte, warum er u.a. des Verrats angeklagt war und was nun geschehen würde, und sprach kaum noch mit ihm. Der Anwalt schien damit zufrieden.

Am 10. Verhandlungstag begann man, Beweise vorzubringen. Die Staatsanwaltschaft legte in endloser Folge Gegenstände und Papiere vor; am 12. Tag verbrachten sie den ganzen Vormittag mit der Zahnbürste des Angeklagten (niemand sprach seinen Namen aus, er war und blieb „der Angeklagte“), am 13. war es ein Brief, den er angeblich geschrieben hatte und in dem viele Worte auftauchten, die er hier zum ersten Mal hörte; wie es das Gesetz verlangte, wurde er an jedem Tag befragt, ob er sich zu den Beweisen äußern wolle. Die Protokollantin war die einzige, die von seinen Angaben Notiz nahm. Am 14. Tag legte der Staatsanwalt eine alte Arbeitsmontur vor, am 15. war es ein Buch, das er angeblich besessen hatte, und so ging es weiter, Gegenstände, von denen er nicht verstand, was sie mit den Vorwürfen zu tun hatten., wechselten sich mit ganz offenkundig gefälschten Beweisen seiner Täterschaft ab. Dabei schien niemand ernsthaft behaupten zu wollen, es sei bewiesen, dass er diesen oder jenen Gegenstand besessen, dieses oder jenes Flugblatt verfasst hatte; als er einmal den Staatsanwalt direkt darauf ansprach, blickten alle im Saal auf, und der Richter erklärte ihm, es könne nicht als sicher gelten, dass dies seine Habseligkeiten seien, es sei aber doch recht wahrscheinlich, da die Polizei diese Dinge in seiner Wohnung gefunden habe. Als er daraufhin andeutete, dass die Ermittlungsbehörden selbst vielleicht diese Beweise platziert hätten, fuhr ihn der Richter scharf an, er solle seine Zunge hüten. Daraufhin blieb er bis zum 30. Verhandlungstag stumm; die Tage schienen sich zu wiederholen, man behandelte eine Mischung aus Dingen, die ihm gehörten, aber nichts mit der Sache zu tun hatten, wie einen Staubsauger (16.) und eine alte Schreibmaschine (25.), die seit Jahren nicht mehr funktionierte, in die man aber offenbar ein ganz neues Band eingelegt hatte, und anderen Gegenständen oder Schriften, die ganz offensichtlich nicht ihm zuzuordnen war, so etwa eine Maschinenpistole (17.) oder zwei Briefe (24.), in unterschiedlichen Handschriften verfassst, an einen Mann namens Dimitri , von dem er noch nie etwas gehört hatte.

Nachdem er am 30. Verhandlungstag in einem Anflug von Heroismus gebrüllt hatte, diese ganze Veranstaltung sei ein unrechtmäßiges Verfahren und alle Beteiligten eingeweiht, legte man ihm am 31. vor Beginn der Verhandlung einen Knebel an, und so blieb es für nächsten sechs Tage. Es waren große, starke Männer mit Handschuhen, die dies erledigten; ein Art stilles Abkommen führte dazu, dass er sich den Knebel fast selbst anlegte, während die Männer nur daneben standen und aufmerksam zusahen. Im Gegenzug wurden sie nicht grob.

Als die Aufnahme der Beweise geschlossen wurde und die Vernehmung der Zeugen begann, ließ der Richter ihm den Knebel abnehmen, selbstverständlich unter der Bedingung, dass er sich nun zu benehmen habe, ansonsten würde er nicht zögern, die Maßnahme, wie er sie nannte, wieder anzuordnen.

Der Angeklagte hielt den Mund, wenigstens für eine Weile. Die ersten drei Zeugen (36.-54.), unter ihnen auch jener Dimitri, an den er angeblich Briefe verschickt hatte, waren ihm gänzlich unbekannt. Ihre Aussagen widersprachen sich nicht, und dennoch konnte er sich kein richtiges Bild von der Geschichte machen, die sie zu erzählen versuchten; alles blieb nebulös und unbestimmt, immer wieder fielen Namen, teilweise von Personen, aber auch von Gruppierungen, die er nicht kannte und deren Zusammenhang oder Zusammenwirken niemand erklären wollte. Nachdem er einige Tage nur zuhörte, bis ihm klar wurde, dass man auch nicht erwartete oder auch nur wollte, dass sich ein beständiges Bild ergab, beschloss er, seine Verteidigung auf andere Weise zu führen. So begann er, mit ruhigen und gezielten Fragen nach dem Verhältnis der Zeugen zu ihm Widersprüche zu suchen. Meist sah er den Zeugen bereits beim Stellen seiner Fragen an, dass sie nervös wurden. Dimitri etwa fuhr sich unentwegt durch die Haare, eine andere Zeugin, deren Name geheim blieb, zitterte so sehr, dass sogar er es deutlich sehen konnte, obwohl er doch fast zehn Meter weit weg saß.

Doch seine Fragen brachten kein Ergebnis. Einmal sagte eine Zeugin auf seine Nachfrage aus, er sei als Schlosser angestellt gewesen (42.), was natürlich nicht stimmte (er hatte nicht einmal diesen Beruf gelernt), aber es geschah nichts weiter, als dass der Richter die Protokollantin, die schon zum dritten Mal ausgetauscht worden war, anwies, diesen Teil der Aussage zu ignorieren und aufzuschreiben, die Zeugin habe nicht geantwortet und sei deshalb mit einer Ordnungsstrafe von fünfzehn Tagessätzen zu belangen. In der Folge waren es immer häufiger Staatsanwalt und Richter, die seine Fragen an die Zeugen beantworteten, wenn diese nervös wurden. Schließlich herrschte ihn der Richter an, dass seine Fragen irreführend seien; außerdem wäre es längst als sehr wahrscheinlich anzusehen, dass er all diese Menschen kannte. Als er weiterhin die gleichen Fragen stellte und einmal sogar den Staatsanwalt darauf hinwies, die Frage gelte nicht ihm, ordnete der Richter wieder sechs Tage Knebel an (49.).

So begann die Vernehmung der weiteren Zeugen, es waren mindestens 15, am 53. Verhandlungstag ohne seine Mitwirkung. Er kannte gut die Hälfte der folgenden Zeugen, die teilweise von seinem Verteidiger als Entlastungszeugen geführt wurden, Die meisten waren ihm nur flüchtig bekannt, so erkannte er den Besitzer des Kiosks in seiner Wohngegend und zwei ehemalige Arbeitskollegen, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Alle wirkten sehr eingeschüchtert, und die, die er kannte, wagten nicht ihn anzusehen und lasen von kleinen Zetteln ab, was sie zu sagen hatten. Im wesentlichen, soviel verstand er, waren sie nur geladen, um die Aussagen der ersten drei Zeugen zu stützen. Dabei waren die Aussagen selbst so platt und unbestimmt, dass keiner Zeugen allein die nur in Schemen zu erkennende Theorie der Staatsanwaltschaft bestätigte; nur einer der Zeugen, ein ehemals recht guter Freund, sagte tatsächlich Substanzielles aus, und seine Aussage war deutlich besser fingiert als die der anderen. Er vermutete, dass es sein Verteidiger war, der sich diese Einlage ausgedacht hatte: zunächst entlastete der Zeuge ihn. Offenbar war er gar nicht instruiert worden, und so bestritt er beinah alles, was während der Verhandlung bisher ausgesagt und dargelegt worden war. Erst am dritten und letzten Tag seiner Vernehmung kam der Zeuge sichtlich verstört und mit Striemen im Gesicht zur Verhandlung. Die Verteidigung ließ die Aussagen noch einmal zusammenfassen, bis schließlich der Staatsanwalt anmerkte, noch eine Frage zu haben und dem Zeugen einen offenbar gefälschten Brief vorlegte, welcher diesen ebenfalls mit Dimitri in Verbindung brachte. Wie gewünscht „brach der Zeuge zusammen“, wie der Richter es formulierte, und widerrief seine Aussagen. Sein Verteidiger entschuldigte sich lächelnd, aber „zerknirscht“ bei den Anwesenden, auch bei dem Angeklagten, zu dessen Entlastung er den Zeugen ja aufgerufen habe. Die nächsten zwei Verhandlungswochen verbrachte der Angeklagte in Hand- und Fußfesseln sowie geknebelt wegen „fortgesetzter Störung des korrekten Ablaufs des Verfahrens und Angriffs auf seinen Rechtsvertreter“. Als ihm die Fessel und Knebel wieder abgenommen worden waren, stand mit dem 73. Verhandlungstag bereits das Plädoyer des Staatsanwalts an. Er war recht gespannt, weil er zumindest hoffte, jetzt zu erkennen, welche Beweise und Taten man ihm konkret anlasten wollte, wurde aber bald enttäuscht, weil auch die Zusammenfassung der Staatsanwaltschaft so verworren blieb, dass am Ende nur drei Dinge klar wurden; er, der Angeklagte, sei schuldig (wessen?) und dies sei durch das Verfahren eindeutig belegt worden (wodurch?).

Weiterhin sei er mit dem Tode zu bestrafen.

Dies hatte man ihm schon früh in Aussicht gestellt, und so war er nicht überrascht, als der Staatsanwalt diese Strafe forderte; nachdem er es mit Kooperation versucht hatte, mit Argumentation, dann mit Subversion und schließlich sogar mit roher Gewalt (dafür hatte er die Knebelstrafe bekommen), war er des Prozesses so müde, dass ihn nur noch der Ausgang interessierte; er stellte keine Fragen mehr, und wenn man ihn etwas fragte, dann wiederholte er nur noch, er sei unschuldig, woraufhin die Protokollantin jedes Mal notierte, er verweigere die Aussage.

Dennoch dauerte es drei Tage, bis der Staatsanwalt sein Plädoyer beendet hatte, und weitere fünf, bis auch sein Verteidiger Position bezogen hatte; dieser argumentierte, er sei zwar schuldig, dennoch solle der Staat Milde walten lassen; er forderte eine lebenslange Haftstrafe für seinen Mandanten. Es folgten einige Tage, in denen sich das Gericht mit teilweise lächerlichen Details beschäftigte; man prüfte einen Antrag auf Verlegung in ein anderes Gefängnis, da dort seine Zuckerkrankheit besser zu behandeln sei (dem Antrag wurde letztlich stattgegeben; er hatte gar kein Diabetes, auch wenn drei Ärzte das Gegenteil aussagten) und einen weiteren, der mit Wahl seines Verteidigers zu tun hatte und schließlich abgelehnt wurde. Als man ihm sagte, das Urteil sei bis zum 90. Verhandlungstag zu erwarten, war er darüber sogar erleichtert; egal wie es ausging, es würde ausgehen.

Am 87. Verhandlungstag schließlich war es an ihm, sich zum letzten Mal vor der Urteilsfindung zu äußern. Er sei unschuldig, bekräftigte er nur; das schien dem Gericht nicht zu reichen.

Der Staatsanwalt starrte ihn an; ebenso der Richter, sogar die Protokollantin sah zu ihm auf. Niemand im Gericht sagte etwas; keiner regte sich. Eine halbe Stunde ging das so, dann fragte er resigniert nach, was man noch von ihm hören wolle: er sei keines Verbrechens schuldig, und mehr könne er nicht sagen. Eine weitere halbe Stunde verging, bis schließlich sein Verteidiger, mit dem er seit langer Zeit kein Wort mehr gewechselt hatte, laut fragte, ob er sich von diesem Gericht ungerecht behandelt fühle.

Einen Moment lang witterte er eine neue Falle, dann aber antwortete er: Ja, wenn man ihn so frage, dann sei dieses ganze Verfahren eine einzige Farce, ein riesiges Lügengebäude, in dem Richter, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Polizei gleichermaßen beteiligt seien.

Er erwartete eine weitere Ordnungsstrafe, womöglich sogar schon das Urteil oder einfach nur Gelächter darüber, dass er so Offensichtliches, so offensichtlich Nutzloses sagte, aber es blieb still im Saal.

Schließlich bekannte der Staatsanwalt, dass er möglicherweise tatsächlich befangen sei, jedenfalls nicht für diesen Prozess geeignet, und deshalb sein Amt vorübergehend niederlege, bis die Sache geklärt sei. Der Verteidiger erklärte, so wie die Dinge lägen, müsse er wohl tatsächlich einen Befangenheitsanstrag gegen den Richter und sich selbst stellen; zu spät erkannte der Angeklagte, worum es eigentlich ging. Der Richter gab nachdenklich zu, möglicherweise ungeeignet zu sein, und ließ das Verfahren vertagen.

Drei Monate später begann das neue Verfahren; alle Beteiligten waren, bis auf ihn, ausgetauscht worden. Am 2. Verhandlungstag, der für den Angeklagten schon der 89. war, wurde die Anklageschrift vorgelesen, die man nur unwesentlich verändert hatte.

Am 117. Verhandlungstag gab der Angeklagte sein Geständnis zu Protokoll. Das Urteil sollte zwei Tage später verkündet werden, und Expertisen, die den Ausschluss des Geständnisses und – damit verbunden – eine Neuaufnahme des Verfahrens nahelegten, waren schon angefertigt worden. Die entsprechenden Zeugen, Ärzte und Psychologen, hatte man bereits eingeschüchtert oder bestochen, um die emotionale Instabilität des Angeklagten und die massiven Einschüchterungen durch anonyme Mitglieder des Justizvollzugs zu belegen. Das Verfahren würde in die dritte Runde gehen. Aber dazu kam es nicht mehr.

Wie wir Feinde wurden

Diesen Artikel drucken 16. Februar 2009

Wir kannten uns schon lange, hatten viel miteinander erlebt, und deshalb betrübte es mich sehr, als ich es erkannte. Es begann wie jede große Veränderung mit einem einzigen Wort, oder auch einem Satz. Wir waren auch früher manchmal unterschiedlicher Meinung gewesen, so ist das nun mal, wenn man sich lange kennt.
So war es auch, als es begann: Ich schenkte dieser Meinungsverschiedenheit keine große Bedeutung, erklärte mich und meine Gedanken, ließ es dabei bewenden. Dabei hätte es mir klar sein müssen, als ich sah, wie er sich kurz von mir abwandte, bevor er das Thema wechselte. Ich glaube, der Riss war schon in diesem Moment da; er konnte mich nicht ansehen, er konnte es einfach nicht ertragen, in das Gesicht zu blicken, das ihm widersprochen hatte. Das verstand ich nicht sofort, erst später habe ich mich daran erinnert. Damals habe ich es nur verwundert registriert; ich bemerkte auch, wie er immer stiller wurde, aber konnte mir darauf ebenfalls keinen Reim machen. Doch schließlich schwieg er mich immer an: wenn ich fragte, was denn sei, reagierte er störrisch und sah an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Er antwortete nur, er sei müde oder krank oder betrunken. Einige Zeit später fiel mir auf, wie sehr sich unsere Freunde veränderten, was ihr Verhalten mir gegenüber anging. Immer hatte ich das Gefühl, sie wüssten etwas, das mir entgangen war. So, als ob jemand ihnen peinliche oder geheime Dinge über mich erzählt hätte, Dinge, die ich niemandem erzählen würde – von ihm einmal abgesehen. Es dauerte noch eine Weile, bis der Verdacht in mir wirklich keimte, schließlich hatte er schon so viel für mich getan, ohne Dank zu verlangen. Nicht ohne Grund hatte ich diese Dinge nur ihm erzählt.
Als ich jedoch endlich seine Veränderung, sein zurückgezogenes und grantiges Auftreten mir gegenüber dazu nahm, war der Argwohn in mir geweckt. Also stellte ich ihn zur Rede; ich fragte ihn, ob er wüsste, was mit unseren Freunden sei, warum sie mich so seltsam behandelten. Er schüttelte nur den Kopf und sah wieder an mir vorbei. Ich glaubte ihm nicht und fragte ihn noch einmal. Er knurrte; wirklich, er knurrte wie ein Hund. Ich verlangte von ihm, mir Antwort zu geben, mit mir zu sprechen, wenigstens das sei er mir schuldig, doch er gab mir keine. Nur sein Knurren wurde lauter. Ich konnte sehen, wie er die Augen verdrehte. Einen Schritt ging ich auf ihn zu, rief ihn an, er solle sich  bekennen. Er knurrte nur weiter, ich sah, wie seine krallenartigen Finger sich verkrampfen, er fletschte die Zähne wie ein Tier: so hatte ich ihn nie zuvor erlebt. Und immer noch starrte er an mir vorbei. Schließlich konnte ich nicht anders: Meine Hände fanden seinen Kopf, und einen Moment lang rangen wir miteinander. Dann ergab er sich, wie er sich meiner Gewalt bisher immer ergeben hatte, und ließ mich seinen Kopf drehen, so dass er mir in die Augen sehen musste. In seinem Ausdruck sah ich die seltsamste Empfindung, die ich mir denken kann, und ich weiß nicht, ob ich jemals richtig beschreiben werde. Es war Wut, aber nicht seine. Es war ein Gefühl, das eigentlich ich haben sollte. Doch nicht so, als ob mir dieses Gefühl fehlen würde; ganz im Gegenteil, der Wut fehlte ihr Träger, und so war sie auf ihn übergegangen, quälte ihn, machte ihn fast tollwütig vor Schmerz. Ich war erschrocken, mitleidig. Er hatte mir so lange Zeit so gut gedient, und jetzt war etwas geschehen, etwas, das wir beide nicht verstanden. Das dachte ich, als ich seinen Blick sah. Es dauerte nur Sekunden, nur einen Moment gestattete er mir, einen letzten Blick auf seine Augen zu werfen, dann riss er sich los und biss mir in der Hand; das hatte er noch nie getan. Jaulend lief er davon, während ich mir die schmerzende Hand hielt.
Seitdem habe ich nicht mehr ihm gesprochen. Er hält sich irgendwo im Verborgenen auf, ich weiß nicht, wo: er war immer gut darin, sich zu verstecken. Ich weiß bis heute nicht, warum es geschah, und allein die Frage danach, was überhaupt geschehen war, ließ mich lange grübeln.

Erst, als ich ihn einmal lange im Spiegel betrachtete, ihn wieder und wieder sah, begriff ich es wirklich. Wir waren Feinde geworden. Wir würden immer Feinde sein.

Paladin

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2009

PaladinSein Mut kennt kaum Grenzen; sein Einsatz ist unbegrenzt. Nur irdische Fesseln, nur der Tod seines Körpers kann ihn aufhalten. Sein Willen, seine Seele gehört einzig und allein der einen, der guten Sache. Er ist taub für Bestechung, Leid nimmt er stoisch hin. Er erträgt alles; er fühlt keinen Schmerz.
Wo immer es auch in seinem Einflussbereich ein Unrecht gibt, wirft er seine Kraft in die Waagschale und befördert das Gute, das Gerechte, das Unschuldige. Geachtet wird er von denen, die Recht tun und unter seinem Schutz stehen. Gefürchtet ist er unter denen, die in den Schatten kauern, deren Köpfe voller Hass und böser Absichten sind. Er steht allein; er fühlt keine Angst.
Irgendwo, vielleicht am anderen Ende der Welt, vielleicht nur einen Blick entfernt, gibt es noch andere wie ihn, das weiß er. Nicht alle kämpfen auf diesem, seinem Schlachtfeld; einige sind vielleicht Soldaten, andere Buchhalter, sie gleichen sich dennoch. Die Berufe mögen unterschiedliche sein, die Oberflächen, aber im Kern sind sie gleich. Und dennoch, eines Tages wird er fallen, und er wird allein sein; er fühlt keinen Gram.
Selbst, wenn er scheitern sollte, wenn sein Körper schließlich nachgeben wird, fürchtet er nicht um seine Mission: andere werden kommen und seinen Platz einnehmen.
Der Paladin unterwirft sich mit all seinen Eigenarten und Fähigkeiten dem einen Prinzip, das Gute zu verteidigen, unwiderruflich und absolut. Der Paladin ist blind für seine Schmerzen, für seine eigenen Bedürfnisse und selbstlos in jeder Konsequenz. Der Paladin ist mitleidlos und rücksichtslos, wenn er gegen das Böse kämpft, selbst wenn er töten muss. Der Paladin fühlt sich als Teil einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft aus vielen, die einen bilden; Der Paladin ist Faschist.

Das Tagebuch – Insekt (3)

Diesen Artikel drucken 8. Dezember 2007

Dritter Eintrag:

Mein letzter Bericht ist noch nicht lange her, zumindest in meinem Empfinden; ich habe es aufgegeben, an diesem Ort ein echtes Maß für Zeit zu suchen .
Ich habe schon vieles gesehen in dieser Wohnung und sehe ständig mehr. Im Moment lese ich – d.h. liest das Wesen, das ich für mein Alter Ego halte – ein Buch, einige Meter entfernt. Er sitzt ganz ruhig da und liest, obwohl ich keine Buchstaben auf den Seiten sehe, nicht einmal einen Titel. Es ist ein dickes, großformatiges Buch, vielleicht ein Lehrbuch. Ich denke, ich habe studiert; sicher bin ich mir nicht, aber ich vermute es. Ich schätze mein Alter auf 20 bis 30; wenn ich mir die Einrichtung der Wohnung dazu ansehe, bin ich wahrscheinlich wirklich Student.
Natürlich sehe ich mir nicht stundenlang beim Lesen zu. Noch vor kurzem fand eine Geburtstagsfeier statt; einer der Gäste hätte sich beinahe auf mich gesetzt, hockte sich dann jedoch wortlos auf den Boden neben der Couch; auch hier bemerkt mich niemand, es ist so, als wäre ich nicht da. Und doch ist es hier anders als in dem Kinderzimmer. Es ist so, als befände sich die Wohnung und die Menschen in ihr in einer Art Fluss – ja, alles fließt. Es gibt eine gewisse Unschärfe in allem, was ich sehe, als wäre da ein durchscheinender Vorhang vor meinen Augen. Die einzelnen Szenen besitzen zwar einen Ort, einen ausgedehnten Moment, aber darüber hinaus ist nichts fest. Alles bewegt sich. Nein, das trifft es wohl nicht ganz; ich denke, mir wird etwas Bestimmtes gezeigt, ohne dass ich erkennen könnte, was es ist. Vielleicht ist es natürlich auch nur Zufall – aber nein, das glaube ich nicht. Manchmal haben die Ereignisse einen speziellen Ablauf, eine bestimmte… Art. Es ist schwer zu erklären; es ist ein wenig so, als kämen die Dinge, die hier geschehen, von einem uralten Band. Manchmal stockt es, bleibt kurz stehen, als wolle es etwas verdeutlichen; manchmal läuft es sogar einige Sekunden vor und zurück. Andere Szenen dagegen erscheinen mir gestaucht, als würde das Band sich schneller abwickeln, so wie die Geburtstagsfeier, die plötzlich schon wieder vorbei war.

Ich weiß nicht, wann es begann – ich saß eine Weile dort, auf dem Sofa. Ich berichtete schon davon, oder? Ja, ich sehe es, davon habe ich schon geschrieben. Irgendwann hörte ich ein Türschloss leise klicken, dann ein weiteres. Ich wartete – doch es kam niemand. Vielleicht wäre auch nie jemand gekommen, hätte ich einfach nur weiter auf der Couch gesessen, wer weiß das schon; ich jedenfalls stand auf und untersuchte die Türen erneut.
Die Tür zum Bad öffnete sich mühelos. Ich bin mir sicher, sie war zuvor verschlossen gewesen, doch jetzt konnte ich eintreten. Wasserdampf schlug mir entgegen, und das Rauschen von Wasser. Jemand duschte, verborgen durch den Vorhang. Einen Moment lang, das kannst du dir sicherlich denken, zögerte ich. Dies ist sicher wieder ein Spiel – natürlich. Aber dennoch, man beobachtet niemanden beim Duschen, oder? Selbst, wenn er nur eine… ich weiß kein Wort dafür.
Nichtsdestotrotz musste ich, wollte ich erfahren, wer dort in meinem Badezimmer duscht; zumindest lag die Annahme nah, dass es meine Wohnung war. Einige der Poster im Wohnzimmer kommen mir vage bekannt vor, und außerdem habe ich unter der Couch ein Pappschachtel mit ein paar meiner alten Muscheln gefunden. Sie waren nicht so schön poliert wie die gekaufte auf dem Tisch, aber einige von ihnen sind zweifelsohne die selben wie jene aus der Kiste, die ich hierher mitnahm; seltsam, was nur fand ich so besonders an diesen Skeletten.
Wie auch immer, ich schob also den Duschvorhang zurück. Dahinter war – eine Frau. Sie bemerkte mich nicht, aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.
Vielleicht wirst du nicht verstehen, warum ich da blieb und sie beobachtete – unter normalen Umständen wäre es sicherlich absolut verwerflich, aber gewöhnlich sind die Umstände nun sicher nicht. Und so blieb ich; ich kann dir nicht sagen, wie lange. Das ganze dauerte vielleicht zwanzig Minuten, vielleicht vierzig, vielleicht sogar eine Stunde. Ich sagte schon – hier scheint alles im Fluss zu sein.
Die Frau war sicher hübsch, das kann ich sagen. Ich schätze sie auf Mitte 20, höchstens. Ihre Haut war noch makellos, und auch in ihrem Gesicht zeigten sich keine Falten. Ihre Haare waren schwarz, ganz schwarz, ihre Augen braun. Sie hatte eine wunderbare Figur, auch wenn die ganze Szene kaum etwas Sexuelles besaß – versteh mich nicht falsch, sie war attraktiv und nackt, aber eben auch so… weit entfernt. Ich hatte dieses Gefühl schon oft; dass alles so weit entfernt ist. Was ich sehe, das macht eine lange Reise bis zu meinen Augen, und auf dem Weg wird das Licht alt. Ich will nicht behaupten, diese Frau hätte mich nicht angesprochen – das würdest du vermutlich ohnehin nicht glauben. Aber es war etwas Gedämpftes, Leichtes. Etwas Vergangenes vielleicht.
Nun, ich habe sie nicht erkannt. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor; auch ihr Körper. Etwas äußerst Vertrautes war an ihr, ich konnte es fast greifen, aber – ich erkannte sie nicht. Da war auch keine Emotion, kein Gefühl, nichts. Inzwischen weiß ich, dass ich mit ihr zusammen gewesen sein muss, eine lange Zeit sogar, und das stimmt mich traurig. Sollte ich mich nicht daran erinnern? Ein wenig zumindest. Es hätte mehr bleiben müssen als diese zerstreute körperliche Vertrautheit, oder?
Ich blieb also dort neben dem zurückgezogenen Vorhang stehen. Eine ganze Zeit lang musterte ich sie nur, musterte sie ganz, um doch einen Menschen zu finden, den ich erkennen könnte, aber ich fand niemanden, nur diese halbfremde Frau in meinem Bad. Eigentlich fand ich sogar weniger als eine Fremde; je länger ich hinsah, desto verwaschener wurden ihre Züge, desto fratzenhafter ihre Proportionen. Mein Blick war so starr, dass ihre Arme und Beine fast zu Streichhölzern wurden; ihre Brüste zerfielen in zerquetschte Kugeln. Ihre weiche glatte Haut verdarb, wurde zu einem bräunlichen Panzer, der matt glänzte.
Das machte mir keine Angst; vielleicht erkannte ich sie darin, in dieser Karikatur. Etwas ließ mich an ein Insekt denken dabei; ein ungelenkes, dummes Insekt, dass die Beinchen und die Ärmchen hebt und sich mal hier, mal dort schrubbt, als würde das etwas besser machen.
Ich weiß nicht, was mich zu diesem Gedanken trieb; aber am ehesten erkenne ich dieses Wesen in dem Insekt wieder, dass ich mir vorstellte. Irgendwann jedenfalls stellte sie das Wasser ab und stieg aus der Badewanne; ich ging hinaus und hörte die Tür hinter mir wieder zuschnappen; ich denke, ich hatte gesehen, was ich sehen sollte.
Danach habe ich sie noch oft gesehen, diese Kreatur, meist bekleidet. Ich denke, wir wohnten hier zusammen; ich habe sie mit mir frühstücken sehen, ich weiß nicht, wie oft. Ich sah mich mit ihr Fernsehen, auch wenn ich die Filme nicht wirklich verfolgen konnte. Einige Male fand ich eine Idee, einen Anflug von Vertrautheit in den verwaschenen Streifen auf dem Bildschirm, mehr nicht. Für mich blieb der Schirm blind. Ich sah mich mit ihr schlafen; ich kann nichts Falsches mehr daran erkennen, es zu beobachten, seit ich dieses Insektenbild im Kopf habe.
Ich sah auch viele andere Szenen, aber die meisten davon schienen sich zu überschneiden; selbst das Sonnenlicht vor den trüben Scheiben wechselt seltsam unregelmäßig mit der Dunkelheit, so dass ich beides manchmal nicht genau trennen kann. Ich sprach schon vom Fließen, oder? – Ja, das tat ich.
Gern würde ich dir genauer sagen, was ich noch beobachtete. Aber auch in mir bleiben die einzelnen Ereignisse seltsam verbunden. Es fällt mir schwer, einzelne herauszugreifen, ohne alle fallen zu lassen. Ich weiß etwa, es gab da einen Streit zwischen meinem Alter Ego und ihr, vielleicht auch mehrere; aber viel mehr kann ich nicht sagen. Überhaupt bleiben mir Dialoge hier ebenso verborgen wie das Bild auf dem Fernsehschirm; ich höre die Personen reden, wie eben auch die Menschen auf der Party vor kurzer Zeit, aber ich verstehe nicht einmal Silben. Es ist so, als würde ich an einer dicken Wand lauschen. In manchen Gesprächen meine ich, einen fernen Inhalt zu erkennen; aber er bleibt nebulös und kaum greifbar.
Es gibt nur eine Szene, von der ich dir noch berichten sollte, solange hier Ruhe herrscht; sie ist mir genau im Gedächtnis geblieben, wohl auch, weil sie so lange anhielt; ja, anhalten ist das richtige Wort.
An einem Abend (ich glaube, es war ein Abend) saß er hier genau wie er es jetzt auch tut. Dann jedoch hörte er wohl ein Geräusch, dass ich nicht genau einordnen konnte, und stand auf. Zunächst dachte ich, dies sie nur ein weiterer Übergang, ein weiterer Wechsel in der Zeit. Doch dann sah ich eine scharfe, rote Sonne durch die Fenster scheinen, und mir wurde klar, dass etwas wichtiges geschehen würde.
Er ging also aus dem Zimmer. Ich blieb sitzen und hörte nach einigen Sekunden das leise Plätschern von Wasser; ich hätte wieder einfach dort bleiben können, abwarten können. Doch so lange ich auch gewartet hätte, es wäre wohl nichts geschehen. Also stand ich auf, um ihm folgen; ich fand ihn im Bad, er stand dort und betrachtete sie, während sie duschte.
Ich weiß nicht warum, aber ich konnte sie nicht mehr ansehen. Zumindest nicht so, wie ich es tat, als ich sie zum ersten Mal beobachtete. Sah ich zu ihr hin, am Duschvorhang vorbei, dann sah ich augenblicklich wieder diese Kreatur, dieses große Insekt.
Er dagegen, soviel kann ich sagen, er starrte regelrecht. Sein Blick war so fixiert, dass ich einen Augenblick fürchtete, es würde wieder so enden wie beim letzten Mal. Für einen Moment glaubte ich, gleich wieder diesen seltsamen Satz zu hören und zu fallen.
Aber so war es nicht – er musterte sie einfach nur durch mich hindurch. Ich wagte es, mich zwischen die beiden zu stellen, um ihm in die Augen sehen zu können; in seinem Blick fand ich nichts besonderes. Er war klar und konzentriert, aber mehr nicht. Da war keine Emotion – wenn doch, dann konnte ich sie nicht erkennen.
Ich hatte einen seltsamen Gedanken, während ich dort so stand: Wenn ich so lange mit ihr zusammen gewesen war, warum war sein Blick dann so leer? Ich konnte keine Zärtlichkeit darin erkennen, nicht mal Begehren, nichts. Er musterte sie wirklich nur, vielleicht ganz so, wie ich es getan hatte, als ich hier ankam.
Ich dachte darüber nach, ich weiß nicht wie lange; ich hörte nur das Wasser rauschen, lange Zeit. Irgendwann griff er an mir vorbei und zog ganz den Vorhang ganz zu. Dann ging er wieder ins Wohnzimmer.
Ich bin mir nicht sicher, warum er überhaupt dorthin gegangen war. Ich glaube nicht, dass sie ihn bemerkt hat; ich verließ das Bad nach ihm und schloss die Tür ebenso leise wie er getan hatte. Ich weiß nicht, was er gedacht hat, als er ihr ins Bad folgte, auch nicht, was er dachte, als er dort so stand und starrte. Vielleicht hat er etwas Ähnliches


Ich denke, die Ruhe ist vorbei. Er ist gerade aufgestanden und hat den Raum verlassen. Jetzt höre ich laute Stimmen aus der Küche; ich sollte ihm folgen. Bis bald.