Die Krankheit

Diesen Artikel drucken 7. Februar 2010

Der Bus der Linie 8 hielt um 15:03 Uhr am Klinikum. Zweimal schon hatte er auf die Notiz in seinem Mantel sehen müssen, um sich wieder daran zu erinnern: beständig hielt er eine Karte des Arztes zwischen den Fingern, um die Zimmernummer nicht zu vergessen. Er fragte sich, ob es an der Aufregung lag oder ob es Teil der Krankheit war.
In der Klinik angekommen brachte man ihn zu einem Wartezimmer. Nach wenigen Minuten kam eine Schwester mit undurchdringlicher Miene und führte ihn in einen Besprechungsraum: Der Arzt hatte schon begonnen zu reden, bevor er den Raum betreten hatte.

„Ich muss ihnen leider mitteilen, dass die Krankheit noch nicht sehr gut erforscht ist; Es gibt nur wenige Hundert dokumentierte Fälle auf der Welt, und bisher gibt es nur eine verlässliche Untersuchung zu dem Thema. Ich muss gestehen, ich hatte selbst noch nie davon gehört, und wenn es da nicht einen sehr engagierten Assistenzarzt gegeben hätte, der die Arbeit zufällig gelesen hatte, dann wüssten wir vermutlich nichts mit ihren Symptomen anzufangen. Ein amerikanischer Arzt – Bridge – hat vor zwei Jahren Patienten untersucht, die zunächst unter den meisten der von ihnen beschriebenen Symptomen litten. Ich kann es ihnen nur sagen, wie es ist; Bridges Patienten sind alle tot. Sie starben innerhalb weniger Jahre nach Ausbruch der Krankheit, und man kann seine Arbeit leider auch kaum mehr nennen als eine Systematisierung der Symptome in ihrer zeitlichen Abfolge, also ein Phasenmodell. Es gibt keine weitere Forschung auf dem Gebiet, weder laufend noch abgeschlossen. Die Pathogenese liegt völlig im Dunkeln, und keins der Präparate, die üblicherweise bei solchen Befunden verabreicht werden, hatte irgendeinen Einfluss auf Bridges‘ Patienten. Wir können und werden natürlich auch bei ihnen eine Reihe von Medikamenten und Therapien versuchen, aber momentan sieht es, so schwer das auszusprechen ist, sehr, sehr düster aus. Ich kann ihnen auch kaum Hoffnungen auf eine Fehldiagnose machen. Die Blutmarker, die man dem Bridge-Syndrom zuordnet, sind eindeutig und in großer Zahl nachweisbar.“

Er entschuldigte sich bei dem Arzt, der nur stumm nickte, verließ das Besprechungszimmer und ging einige Schritte hinüber in einen der Waschräume. Einige Sekunden dauerte es, bis er begriff, wie man die Armaturen bediente, dann floss das Wasser in ein silbriges Waschbecken. Er tauchte seine Hände hinein und wusch sie ausgiebig; erst säuberte er die linke Hand sorgfältig, dann die rechte. Als er fertig war, fand er nichts, um sie zu trocknen. Schließlich rieb er sie an seiner Hose und dem Pullover. Als er sich zur Tür drehen wollte, sah er den gelben Schein hinter dem Milchglas: Die Sonne schien endlich wieder. Es würde warm werden. Er lächelte still und fast ausdruckslos in sich hinein, dann ging er.

„Das Phasenmodell ist relativ präzise. Es basiert auf einigen Dutzend Verläufen der Krankheit, und die leider äußerst starke Ähnlichkeit zwischen diesen Abläufen motiviert Bridges Einteilung in vier Phasen; ich denke, über die sollten wir jetzt doch sprechen, auch wenn das sehr unangenehm sein wird.
In Phase Eins befinden sie sich, so wie wir das einschätzen, gerade jetzt: Sie ist vor allem gekennzeichnet durch eine Reihe von verhältnismäßig leichten Symptomen, die noch relativ unspezifisch für das Bridge-Syndrom sind, so etwa Konzentrationsstörungen – von diesen haben sie ja auch berichtet- aber auch kleinere Störungen der Kurzzeitgedächtnisses sowie eine gewisse Mattigkeit. In den meisten Fällen wird das Bridge-Syndrom zu diesem Zeitpunkt noch nicht diagnostiziert, viele Patienten suchen nicht einmal einen Arzt auf. Wenn sie es doch tun, so kommt meist gar keine Diagnose zu Stande, bevor nicht Phase Zwei beginnt, oder aber es werden andere neurologische Erkrankungen angenommen, wie etwa Demenz oder Alzheimer. Insofern könnte es möglicherweise von großer Bedeutung für ihre Therapie sein, dass wir das Bridge-Syndrom bei ihnen schon so früh erkannt haben.“

Er bedankte sich für die Offenheit des Arztes, der in mit seltsam stummen Augen ansah und während des Gesprächs immer wieder seinen Blick gemieden hatte, und verabschiedete sich. Zunächst hatte er die Ausführungen des Arztes für unpassend kalt gehalten, aber er verstand, dass auch dieser von der Situation betroffen war. Noch auf dem Weg aus dem Raum wählte er die Nummer seine Frau und erklärte ihr, was man ihm gesagt hatte; dann weinten beide, bis er schließlich wortlos auflegte.

Im Lift traf er wieder auf den Arzt mit den stummen Augen, der ihn knapp grüßte.
„In Phase Zwei werden die Störungen des Kurzzeitgedächtnisses schnell drastischer. Der Einfluss der Störungen auf das Alltagsleben der Patienten wird schnell sehr groß. Einigen gelingt es zwar, den Alltag bis zum Eintritt von Phase Drei selbst zu bestreiten, aber Bridges‘ Ergebnissen nach beschleunigt dies den Verlauf der Krankheit. Insofern sollten wir darüber nachdenken, sie aufzunehmen. Es gibt einige sehr charakteristische Symptome, die sich in Phase Zwei einstellen. So nehmen empathische Regungen der Patienten ab; ihr Interesse am Schicksal anderer nimmt ebenso ab wie das an ihrem eigenen. Das mag der Grund dafür sein, dass das Bridge-Syndrom erst in den letzten Jahren als Krankheitsbild isoliert wurde. In vielen Fällen hat man diese Symptome einfach für eine Form von Akzeptanz gehalten, ganz im Sinne der gängigen psychologischen Trauermodelle. Bridge konnte durch neurologische Untersuchungen aber beweisen, dass es sich um eine tatsächliche Aktivitätsabnahme in einigen Hirnbereichen handelt, die sich psychologisch nicht erklären lässt. Ebenso wird eine steigende Reiz- und Schmerzunempfindlichkeit beobachtet: Viele Patienten berichteten davon, dass sich bekannte Gegenstände oder Eindrücke plötzlich anders anfühlten, oder dass sie einige Dinge kaum wiedererkennen, ohne dass dies auf einen Erinnerungsverlust zurückzuführen ist. Es ist völlig unklar, wie dies im Zusammenhang mit den anderen Symptomen steht oder ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt.“

Der Arzt begleitete ihn bis in sein Zimmer, wo ein Pfleger schon wartete: er wurde gewaschen, man zog ihm ein Krankenhemd an. Schließlich wurde er in ein Bett gelegt, von wo aus er aus dem Fenster sah, bis seine Frau ins Zimmer kam,
„Ich liebe dich.“ sagte sie und lächelte ihn an. Die Sonne stand hell am Himmel, und sie hatten einige Zeit, bis sie weiter mussten: sie küssten sich innig.

„Du hast nicht angeklopft“ sagte er dann nüchtern. Sie küsste ihn auf die Wange; ihre Augen waren gerötet und von einem dunklen Kranz umgeben. Er schob sich aus dem Bett und stützte sich dabei, so gut es ging, auf die Krücken. Sie wollte aufstehen, um ihm zu helfen, aber er deutete ihr, sitzen zu bleiben. Einige Schritte bewältigte er mit tauben Beinen, dann knarrte eine der Krücken seltsam blechern. Er schlug auf den Boden, ohne eine Ton von sich zu geben, und blieb auf der Schulter liegen: über sich er konnte die dampfende Kaffeetasse auf dem Tisch sehen. Seine Frau schrie auf, und eine Tür wurde geöffnet. Man hob ihn zurück ins Bett.
Die Rosen rochen nicht mehr; Er trank einen Schluck kalten Tee, den ihm seine Frau anreichte. „Was wäre denn anders, was wäre besser, wenn wir uns nicht kennengelernt hätten?“fragte sie so, als ob sie eine Gegenfrage stellen würde, ihre Stimme klang tränenerstickt; „Bald wird es so sein als ob.“ antwortete er kühl. Sie weinte. Er drehte sich zur anderen Seite des Bettes und starrte in den grauen Himmel. Als sie schließlich ging, kam der Arzt und fragte nach seinem Befinden. Er antwortete nicht, und der Arzt redete einige Minuten auf ihn ein.

„Mit Phase Drei beginnen die völlig unverstandenen Symptome des Bridge-Syndroms. Während der Verlust der Kurzzeitgedächtnisses nicht weiter fortschreitet, bilden sich schwere Störungen der Erinnerungskoordination aus, wie Bridge es nennt. Anfangs sind es kleine Episoden, die der Patient sozusagen verschiebt, also die zeitliche Reihenfolge verändert. Ein Patient von Bridge etwa glaubte, erst nach dem Mittagessen gefrühstückt zu haben, und beschwerte sich daraufhin beim Klinikpersonal. Diese Art der Vermengung von Erinnerungsepisoden nimmt stetig zu. Anfangs scheint ein psychologischer Mechanismus noch zu bewirken, dass die Patienten anstatt der eigentlichen Geschehnisse eine andere, zusammenhängende Geschichte erzählen, aber dieser Effekt verliert sich mehr und mehr, je stärker die Fehlordnung wird. Um ein Bild zu gebrauchen, erzählen die Patienten am Anfang der Phase Drei noch stimmige Geschichten, auch wenn sie falsch sind: Es ist ihnen auch wichtig, dass sie stimmig sind und als wahr akzeptiert werden. Im späteren Verlauf dagegen nimmt diese Neigung ab. Erinnerungen werden kaum noch verknüpft, Ereignisse folgen völlig unzusammenhängend aufeinander, Orte, Zeiten und Personen werden unablässig ausgetauscht. “

Er setzte sich einen Kaffee auf und sah in etwas, dass er für einen Spiegel hielt; heute war ein guter Tag zum Wandern. Dann nahm er einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und stopfte sie in den Rucksack. Draußen wartete sie bereits: Die Rose schien sie sehr zu freuen. Er hatte geplant, sie ihr erst auf dem Gipfel zu geben, es aber dann verworfen. Sie umarmte ihn lang, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg in die Klinik.

„Die Patienten scheinen dies nicht mehr bemerken oder korrigieren zu wollen. Damit zusammenhängend entwickelt sich ein weiteres Symptom, welches wir nicht einmal im Ansatz begreifen: die Patienten verlieren sich, um es wenig technisch auszudrücken. Es scheint so, als würden sie sich immer mehr zurückziehen. Neben den schwächer werdenden Reizreaktionen bilden sie auch eine Parese aus. Sie bewegen sich kaum; auf Ansprache reagieren sie nur selten, und wenn, dann nur einsilbig und teilweise geistig klar, teilweise deutlich verwirrt. Im Übergang zu Phase Vier reden sie manchmal, auch ohne jede Veranlassung, plötzlich los und erzählen von sich selbst oder ihrem Leben, stets aber jedoch in der dritten Person, so als ob sie über jemanden anders berichten würden. Auch hier zeigen sich die charakteristischen Episodenverschiebungen. In einigen Fällen wurde festgestellt, dass die Patienten zwar noch auf Fragen antworten konnten, so wussten sie etwa noch, in welchem Krankenhaus sie waren, aber Fragen nach ihrer Person schienen sie überhaupt nicht mehr zu verstehen, sie reagierten verwirrt bis gereizt.“

Er hatte dem Arzt zugehört, dabei aber ein Pärchen beobachtet, welches sich scheinbar unablässig vor dem Fenster des Besprechungsraums küsste. Sie schienen ihn nicht zu bemerken: ein anderer Mann, der schon eine Weile neben ihm saß, schien eine Frage zu haben.
„Wie wird es enden? Was wird mit mir geschehen?“ Einen Moment lang dachte er an das Schicksal des Mannes, der so aufgelöst klang, dann dachte er an das Pärchen vor dem Fenster.

„Phase Vier endet mit dem Tod; die neurologischen Befunde, die bisher erbracht wurden, zeigen eine fortgesetzte Zerstörung wesentlicher Hirnbereiche, die bisher immer zum Tod führte. Wie ich gerade schon sagte, ich kann ihnen auch kaum Hoffnungen machen. Der Verlauf nach Bridge besagt, dass die Reaktionen auf äußere Einflüsse immer weiter abnehmen, gleichzeitig scheinen die anderen Symptome in ihrer Ausprägung erhalten zu bleiben, soweit man das sagen kann. Es mündet schließlich in eine Art Wachkoma, in dem die Patienten für wenige Monate verbleiben, bis sie schließlich sterben. Es scheint so zu sein, als ob sich das Gehirn in Abwesenheit äußerer Reize teilweise regeneriert, was die Zerstörung des Hirngewebes verlangsamt.“

Er saß in einem Bus der Linie 8 und starrte aus dem Fenster: in der Hand hielt er eine Visitenkarte mit einer Adresse darauf, die er unablässig zwischen den Fingern drehte. Neben ihm unterhielten sich andere Fahrgäste.

„Aber was bedeutet das? Wie wird es am Ende sein?“

„Das können wir nicht wissen, eben weil noch nie ein Patient aus diesem Zustand erwacht ist. Man kann nur Vermutungen anstellen; Bridge hat festgestellt, dass die komatösen Patienten für lange Zeit noch rege Hirnaktivität aufweisen, auch wenn sie der in Phase Drei gemessenen gleichkommt. Man kann nur spekulieren; sicher ist, dass sie keine Schmerzen mehr haben. Die Beschäftigung der späten Phase Drei-Patienten mit Erinnerungen deutet daraufhin, dass auch im Wachkoma immer wieder Erinnerungen hin- und hergeschoben, neu verknüpft und anders erlebt werden. Was davon bewusst erlebt wird, ist eine andere Frage; die Patienten ziehen sich, wie ich schon erwähnte, von sich selbst als Subjekt immer stärker zurück. Sie sprechen von sichn ur noch, als würden sie über Dritte sprechen; manchmal erzählen sie ganze Episoden oder Verknüpfungen aus diesen, als wären es Kurzgeschichten, die einem fiktiven Protagonisten geschehen sind. Vielleicht ist es so, Bridge vermutet es jedenfalls; vielleicht bleibt von den Patienten noch ein Rest, so etwas wie ein Beobachter oder ein Leser, der auf das verworren und unverständlich gewordene Leben und Erleben eines Dritten starrt.“

edit: Das ist wohl die Folge, wenn man so spät noch schreibt: zehn Fehler habe ich gerade korrigiert, der eine oder andere könnte aber noch da sein.

Wie wir Feinde wurden

Diesen Artikel drucken 16. Februar 2009

Wir kannten uns schon lange, hatten viel miteinander erlebt, und deshalb betrübte es mich sehr, als ich es erkannte. Es begann wie jede große Veränderung mit einem einzigen Wort, oder auch einem Satz. Wir waren auch früher manchmal unterschiedlicher Meinung gewesen, so ist das nun mal, wenn man sich lange kennt.
So war es auch, als es begann: Ich schenkte dieser Meinungsverschiedenheit keine große Bedeutung, erklärte mich und meine Gedanken, ließ es dabei bewenden. Dabei hätte es mir klar sein müssen, als ich sah, wie er sich kurz von mir abwandte, bevor er das Thema wechselte. Ich glaube, der Riss war schon in diesem Moment da; er konnte mich nicht ansehen, er konnte es einfach nicht ertragen, in das Gesicht zu blicken, das ihm widersprochen hatte. Das verstand ich nicht sofort, erst später habe ich mich daran erinnert. Damals habe ich es nur verwundert registriert; ich bemerkte auch, wie er immer stiller wurde, aber konnte mir darauf ebenfalls keinen Reim machen. Doch schließlich schwieg er mich immer an: wenn ich fragte, was denn sei, reagierte er störrisch und sah an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Er antwortete nur, er sei müde oder krank oder betrunken. Einige Zeit später fiel mir auf, wie sehr sich unsere Freunde veränderten, was ihr Verhalten mir gegenüber anging. Immer hatte ich das Gefühl, sie wüssten etwas, das mir entgangen war. So, als ob jemand ihnen peinliche oder geheime Dinge über mich erzählt hätte, Dinge, die ich niemandem erzählen würde – von ihm einmal abgesehen. Es dauerte noch eine Weile, bis der Verdacht in mir wirklich keimte, schließlich hatte er schon so viel für mich getan, ohne Dank zu verlangen. Nicht ohne Grund hatte ich diese Dinge nur ihm erzählt.
Als ich jedoch endlich seine Veränderung, sein zurückgezogenes und grantiges Auftreten mir gegenüber dazu nahm, war der Argwohn in mir geweckt. Also stellte ich ihn zur Rede; ich fragte ihn, ob er wüsste, was mit unseren Freunden sei, warum sie mich so seltsam behandelten. Er schüttelte nur den Kopf und sah wieder an mir vorbei. Ich glaubte ihm nicht und fragte ihn noch einmal. Er knurrte; wirklich, er knurrte wie ein Hund. Ich verlangte von ihm, mir Antwort zu geben, mit mir zu sprechen, wenigstens das sei er mir schuldig, doch er gab mir keine. Nur sein Knurren wurde lauter. Ich konnte sehen, wie er die Augen verdrehte. Einen Schritt ging ich auf ihn zu, rief ihn an, er solle sich  bekennen. Er knurrte nur weiter, ich sah, wie seine krallenartigen Finger sich verkrampfen, er fletschte die Zähne wie ein Tier: so hatte ich ihn nie zuvor erlebt. Und immer noch starrte er an mir vorbei. Schließlich konnte ich nicht anders: Meine Hände fanden seinen Kopf, und einen Moment lang rangen wir miteinander. Dann ergab er sich, wie er sich meiner Gewalt bisher immer ergeben hatte, und ließ mich seinen Kopf drehen, so dass er mir in die Augen sehen musste. In seinem Ausdruck sah ich die seltsamste Empfindung, die ich mir denken kann, und ich weiß nicht, ob ich jemals richtig beschreiben werde. Es war Wut, aber nicht seine. Es war ein Gefühl, das eigentlich ich haben sollte. Doch nicht so, als ob mir dieses Gefühl fehlen würde; ganz im Gegenteil, der Wut fehlte ihr Träger, und so war sie auf ihn übergegangen, quälte ihn, machte ihn fast tollwütig vor Schmerz. Ich war erschrocken, mitleidig. Er hatte mir so lange Zeit so gut gedient, und jetzt war etwas geschehen, etwas, das wir beide nicht verstanden. Das dachte ich, als ich seinen Blick sah. Es dauerte nur Sekunden, nur einen Moment gestattete er mir, einen letzten Blick auf seine Augen zu werfen, dann riss er sich los und biss mir in der Hand; das hatte er noch nie getan. Jaulend lief er davon, während ich mir die schmerzende Hand hielt.
Seitdem habe ich nicht mehr ihm gesprochen. Er hält sich irgendwo im Verborgenen auf, ich weiß nicht, wo: er war immer gut darin, sich zu verstecken. Ich weiß bis heute nicht, warum es geschah, und allein die Frage danach, was überhaupt geschehen war, ließ mich lange grübeln.

Erst, als ich ihn einmal lange im Spiegel betrachtete, ihn wieder und wieder sah, begriff ich es wirklich. Wir waren Feinde geworden. Wir würden immer Feinde sein.

Alles, Wort, Welt

Diesen Artikel drucken 22. Oktober 2008

Von der alten Stadt Ur heißt es, sie hätte die erste Bibliothek der Menschen beheimatet. Der Überlieferung nach enthielt sie das gesamte Wissen der damaligen Welt. Natürlich ist Wissen ein relativer Begriff, und nicht alles, was man damals als Wissen bezeichnete, würde auch heute noch als solches angesehen werden, schließlich waren die Menschen damals mehr von Mystik und dem Magischen gefesselt als heute.
Und so gab es in dieser Bibliothek, so die Legende, auch ein Buch, dessen Inhalt von niemandem, selbst nicht von den Herrschern von Ur, gelesen werden durfte; Sein Titel soll in moderner Umschrift Ank’Pashâ gelautet haben, aber auch das ist nicht sicher. Mancher, der später lebte, spricht auch nur von dem ’namenlosen Buch‘. Der Begriff Ank’Pashâ ist schwer in eine moderne Sprache zu übersetzen, und auch das mag ein Grund dafür sein, dass spätere Chronisten diesen Titel ignorierten. Der erste Teil, Ank, meint nach heutiger Lesart wohl Schrift oder Buch, überhaupt jede Art von schriftlicher Aufzeichnung; aufgrund der Kostbarkeit der Materialien machte es zu damaligen Zeiten auch keinen Sinn, dies weiter zu differenzieren. Der zweite Teil, Pashâ, ist schwerer zu übersetzen. Im Groben bedeutet er wohl Welt, Alles oder auch Wort; all das bedeutet dieser eine Begriff. Die Menschen, die in dieser alten Sprache schrieben, setzten für gewöhnlich spezielle Glyphen, um die gerade gemeinte Bedeutung auszuzeichnen, doch bei dem Eigennamen des Buches taten sie es nicht. Das mag zunächst verwirrend erscheinen, da der Titel so wohl kaum irgendeinen Inhalt klar anzudeuten scheint. Und doch ist er in der Tat weise gewählt.
Der Legende nach war das Buch Ank’Pashâ nicht mit vorzeitlicher Tinte geschrieben worden, auch nicht mit einer anderen Flüssigkeit wie Blut oder aufgelöstem Russ. Auch bestanden seine Seiten weder aus Tierhäuten noch aus Papyrus, überhaupt aus nichts Weltlichem.
Die Übersetzung bereitet auch hier wieder Schwierigkeiten, aber dem Mythos folgend könnte man modern sagen, dass die Lettern des Buches mit reinem Sinn auf Seiten aus Geist oder Seele geschrieben worden sein; wer es verfasst haben soll, ist unklar. Manche Autoren behaupten, ein Gott habe es geschrieben und dafür ein Stück seiner Haut und einen Tropfen seines Blutes verwendet. Andere sagen, der erste, der reine Mensch habe es niedergeschrieben als Geschenk an seine niederen Kinder. In jedem Fall sprach man dem Buch daher magische Fähigkeiten zu; was man darin las, das sollte augenblicklich Wirklichkeit werden.
Doch es standen keine profanen Zaubersprüche darin, im Gegenteil. Die Menschen von damals hatten, so jung die Zivilisation auch gewesen sein mochte, mehr Erfahrung mit Gauklern und Schwindlern als viele nach ihnen und hielten solcherlei Spuk für ebenso nebensächlich wie wir; Feuerbeschwörungen, Dämonenvertreibungen, das Wiedererwecken der Toten – all das hatte keinen Platz in dem Buch. Auch war das Buch nicht als Anleitung oder Rezept zu verstehen; es interagierte, wechselwirkte mit dem Leser, ohne ein echtes Eigenleben zu führen – vielleicht ist es besser, stattdessen zu sagen, es habe das Eigenleben eines Spiegels geführt, sofern man diesem ein solches zuspricht. So wird berichtet, dass ein jeder Leser etwas anderes darin fand. Dass es trotz oder gerade wegen des Verbots von Zeit zu Zeit gelesen wurde, erscheint auch den heutigen Menschen logisch. Im Laufe der Zeit sammelte sich eine recht große Anzahl an Berichten über diese geheimen Lesungen, und auch wenn der Großteil davon verloren gegangen ist, so lässt jedoch die Zahl der Verweise auf sie in späteren Schriften erahnen, dass die Gelehrten von damals eine regelrechte Hierarchie der berichteten ‚Begegnungen‘ mit dem Buch entwickelt hatten.
In dem Buch, so heißt es, standen eben keine profanen Zaubersprüchlein, sondern nur die wirklich mächtigen Sätze; die Worte, die auch für uns wie für jeden Menschen Bedeutung haben.

Überliefert ist etwa die Geschichte von Kanaa, dem Hirten. Er war ein einfacher Mann und aufgrund seines Standes nicht besonders hoch angesehen. Dennoch verliebte er sich in Ani, die Tochter eines gut betuchten und privilegierten Bürgers, die ihm schnell ähnliche Gefühle entgegenbrachte.
Als der Vater die heimliche Beziehung zwischen Ani und Kanaa entdeckte, sperrte er Ani ein und ließ Kanaa aus der Stadt verschleppen. Nach seinem Willen sollte Kanaa seiner Tochter nie wieder zu nahe kommen.
Kanaa aber fühlte sich Ani so sehr verbunden, dass er einige Nächte darauf seinen Bewachern entkam und in die Stadt eindrang. Er befreite Ani aus ihrem Hausarrest und erschlug ihren Vater auf der Flucht. Schließlich wurden die beiden von der Stadtwache verfolgt und retteten sich in die Bibliothek. Die beiden wussten keinen Ausweg mehr und so taten sie das einzige, was ihnen noch möglich schien – sie drangen in die verbotenen Bereiche der Bibliothek ein und lasen im Buch Ank’Pashâ.
Es wurde schon erwähnt, dass diesem Buch eine Eigenschaften eines Spiegels zugesprochen wurde. Als die Stadtwache die beiden Liebenden mit dem aufgeschlagenen Buch stellten, da war auf den Seiten des Buches nur ein Satz zu lesen: Nichts wird uns trennen.
Die hinzugerufenen Gelehrten waren es, die diesen Satz überlieferten. Auf ihr Geheiß wurde das Buch wieder geschlossen und an seinen ursprünglichen Platz gestellt.
Doch weder wurde Kanaa für den Mord belangt, noch wurden die beiden für das Lesen von Ank’Pashâ verurteilt; auf beides hätte der Tod gestanden. Man war so beängstigt von der Botschaft des Buches, dass man von diesen Strafen absah; stattdessen verbannte man sie nur aus Ur und nahm ihnen den Schwur ab, nie wieder dergleichen zu tun. Es ist nicht überliefert, wie es ihnen im weiteren erging; eine Quelle berichtet nur, sie hätten ihren Schwur gehalten und seien auch nie wieder zurückgekehrt.

In einer anderen Überlieferung wird die Geschichte von Miraain, der Schönen, erzählt. Sie war nach aktuellem Wissensstand die Tochter eines Hochpriesters von Ur und damit Mitglied der angesehensten Schicht in der Stadt. Neben ihrem Reichtum, der sich auch in vielen anderen Schriften idiomatisch widerspiegelt, war sie für ihre sprichwörtliche Schönheit bekannt. Schon im Alter von zwölf Jahren soll sie von solcher Anmut gewesen sein, dass sich ein Hofdiener ihretwegen das Leben nahmen. In späteren Jahren soll sie nur noch von Frauen betreut und bedient worden sein, da sich kaum noch ein Mann in ihre Nähe wagte; dennoch blieb ihre Schönheit doch immer eng mit dem Tod verknüpft. So verliebten sich etwa zwei Cousins in sie, gerieten über sie in Streit und starben bei einer Auseinandersetzung. Der Legende nach hinterließ diese morbide Verknüpfung tiefe Spuren in der jungen Miraain; so soll von immer größeren Selbstzweifeln geplagt worden sein. Gleichzeitig berichten gerade die späten Quellen von ihrer Arroganz und ihrer Herrschsucht, die selbst vor ihren beiden älteren Schwestern keinen Halt machte. So soll sie etwa für den Tod eines Schwagers gesorgt haben, nachdem dieser sich bei einem Bankett geweigert hatte, Miraain zu bedienen.
Nach dem Tod ihres Vaters übernahm sie faktisch seine Rolle und wurde damit zur zweitmächtigsten Frau von Ur. Ihre Position war dabei nicht ausschließlich durch ihre Herkunft festgelegt; auch half ihr ihre Wirkung auf andere Menschen und ihr Geschick für Hof und Intrige. Manche Autoren bezeichneten sie daher – natürlich erst lang nach ihrem Tod – auch als die ‚Hexe von Ur‘. In jedem Fall blieb Miraain trotz ihrer Macht unzufrieden. Einen Großteil des Reichtums ihres Vaters verwendete sie für Bäder, Kosmetik und ähnliche Dinge, die sie über Hunderte von Kilometer hinweg nach Ur bringen ließ. Denn bei all dem, was sie offenbar erreicht hatte, war Miraain von ihrer eigenen Anmut nie überzeugt, trotz ihrer mythischen Wirkung auf andere.
In den letzten Jahren ihres Lebens in Ur, Miraain muss zu dieser Zeit zwischen 25 und 27 Jahren alt gewesen sein, verdichtete sich das, was wir heute wohl Neurose nennen würden, zu einem fast wahnhaften Drang nach Selbstbestätigung. Miraain heiratete in weniger als drei Jahren sechs Mal; alle ihre Männer, angesehene Handelsleute meist, starben bald nach der Hochzeit. Manche brachten sich um, andere ließ sie ermorden. Als das Kapital ihres Vaters zur Neige ging, nutzte sie all ihr Geschick und all ihre Kontakte, um sich Güter und Gold zu verschaffen. Ihre Schreckensherrschaft über Ur begann schließlich mit einem Mordkomplett an der legitim eingesetzten Fürstenfamilie und währte mehr als zwei Jahre, in denen sie sich immer mehr in die Vorstellung zurückzog, von allen bedroht und verachtet zu werden: Dabei war den Quellen nach ganz Ur immer noch so fasziniert und entzückt von ihr, dass ihre Taten unbeachtet blieben. Doch Miraain reichte das nicht; in ihrer krampfhaften Suche nach der eigenen Schönheit vernichtete sie fast die gesamten Ressourcen der Stadt. Sie erhöhte Steuern, führte neue Abgaben ein, ließ sogar die Gasthäuser schließen. Natürlich machte sich daraufhin Unzufriedenheit breit, aber die Bevölkerung lastete diese Maßnahmen nicht ihr, sondern der Exekutive an.
Schließlich berichtet die Überlieferung davon, dass sich Miraain in einer Winternacht Zugang zum Buch Ank’Pashâ verschaffte. Es ist der einzige dokumentierte Fall, in dem das Buch quasi ‚legitim‘ gelesen wurde; zwar war es auch ihr eigentlich verboten, darin zu lesen, allerdings überredete Miraain kurzerhand die Wachen, sie zu dem Buch zu führen. Auch Miraain soll nur einen einzigen Satz vorgefunden haben, und dieser erscheint vielleicht wenig überraschend: Grob übersetzt lautet er etwa Ich bin hässlich, wobei der Begriff, den wir hier mit ‚hässlich‘ übersetzt haben, auch verdorben (etwa bei Speisen) oder falsch bedeuten kann.
Der Legende soll der Bann, den ihre Schönheit auf die ganze Stadt gewirkt hatte, allein durch die Worte im Ank’Pashâ gebrochen sein. Nachdem ihre Eskorte gelesen hatte, was die schreckensstarre Miraain eigentlich schon gewusst hatte, nahmen sie sie fest. Sie wurde entmachtet und aus der Stadt vertrieben; wenige Wochen später fanden fahrende Händler ihren Leichnam in der Wüste südlich von Ur.

In einigen Schriften, die erst vor wenigen Jahren im heutigen Irak entdeckt wurden, findet sich ein Bericht über eine besondere Passage aus dem Buch Ank’Pashâ; Es ist der Abschnitt ‚Kaleé Ank‘, übersetzt also etwa ‚die letzte(n) Seite(n)‘. Dieser Ausdruck ist nicht wörtlich, sondern eher metaphorisch zu verstehen. Dem Wesen des Buchs nach gab es darin weder erste noch letzte Seiten: Es interagierte mit dem Leser, und dieser las darin nur, was er lesen sollte, wenigstens der Legende nach. Zu damaligen Zeiten wurden Bücher genau wie Erzählungen und Geschichten im Allgemeinen als sehr wertvoll gesehen, sowohl in materieller als auch in ideeler Hinsicht; der wichtigste und geachtetste Teil einer Geschichte aber war, damals wie heute, ihr Ende, und so ist der Titel dieser Passage eher in dieser Hinsicht zu verstehen; als Ende der Geschichten. Die Überlieferung, die von Kaleé Ank berichtet, lässt viele Fragen offen; insbesondere müssen sich auch schon zeitgenössische Leser gefragt haben, wie die Verfasser denn an die Informationen über diese letzten Zeilen gelangt sein können.
In den Schriften heißt es, es habe einen Abschnitt im Buch Ank’Pashâ gegeben (nach anderer Übersetzung: eine „Spiegelung“), dessen Bedeutung die aller anderen bei weitem überwogen habe.

Nur unter ganz bestimmten Bedingungen sei dieser Abschnitt Menschen erschienen. Mehrmals aber sollen Verzweifelte auf der Suche nach ihm in die Bibliothek eingedrungen sein; keiner von ihnen soll es je geschafft habt, ihn laut zu Ende zu lesen, und in der Überlieferung kommt diesem Umstand entscheidende Bedeutung zu. So wird von dem jungen Ikoraa berichtet, der von späteren Schreibern nur noch mit seinem Beinamen ‚der Unglückliche‘ bezeichnet wird; Ikoraa soll der Sohn eines relativ wohlhabenden Händlers gewesen sein, der seine Ländereien in der Hochebene nördlich von Ur verkauft hatte und sein Glück als fahrender Händler gemacht hatte. Das war nichts für Ikoraa; er hielt das Geschäft seines Vaters für unehrenhaft und sehnte sich lange danach, wieder die Felder zu bestellen. Er wird dennoch als guter und folgsamer Sohn gelobt; nachdem er mit 14 Jahren seine Volljährigkeit erreicht hatte, lief er keineswegs davon, sondern half seinem altersgeschwächten Vater mit den Geschäften. Es vergingen 16 Jahre, bis sein Vater verstarb: Auf dem Sterbebett soll er Ikoraa die Erlaubnis gegeben haben, das Geschäft des fahrenden Händlers aufzugeben und die Felder, die er so liebte, zurückzukaufen. Ausgestattet mit dem relativen Reichtum des Vaters tat Ikoraa dies auch; es war üppiges, fruchtbares Land, auf dem jede Art von Frucht gut gedeihte, und Ikoraa kaufte wesentlich mehr Land, als sein Vater früher besessen hatte. Mit 15 war er, wie damals üblich, mit einer jungen Frau verheiratet worden. Die beiden waren ein harmonisches Paar und bekamen in dem Jahr, als der Vater starb, ihr drittes Kind. Ikoraa ließ für die Familie ein Haus auf dem neuen Grund errichten und begann, wie er es sich schon lange gewünscht hatte, wieder als Bauer zu arbeiten. Der Legende nach jedoch blieb die Idylle nur von kurzer Dauer; es war das Jahr vor den ‚Jak’Isaa‘, den ’schrecklichen Jahren‘, als Ikoraa sein Haus bezog. Die schrecklichen Jahre tauchen in vielerlei Berichten über die damalige Zeit auf und werden von Historikern heute meist als eine lange Dürreperiode interpretiert, denen kleinere politische, demografische und militärische Verwerfungen folgten. Dieser speziellen Überlieferung nach jedenfalls folgte dem Jahr von Ikoraas Ankunft auf dem väterlichen Boden das erste Jahr der Dürre, und darauf das zweite und noch zwei weitere. Im zweiten Jahr vernichtete ein von Vagabunden gelegtes Feuer die wenigen Feldpflanzen, die Ikoraas Familie noch anbauen konnte. Im Jahr darauf begannen sie zu hungern, weil das wenige, das ihnen vom Erbe geblieben war, aufgebraucht war. Im vierten Jahr starben die beiden jüngeren Kinder. Ikoraas Frau starb, so heißt es, bald danach nicht etwa am Hunger, sondern am Kummer. Zuletzt, gegen Ende der Dürrezeit, überfielen Banditen den Wohnsitz; natürlich fanden sie nichts mehr von wert, und erzürnt darüber zündeten sie das Haus an. Ikoraa, der keine soldatische Ausbildung hatte und nie in einen Kampf verwickelt worden war, lief außer sich vor Panik in die nächtliche Wüste hinaus. Erst im Morgengrauen kehrte er zu den Überresten des Hauses zurück und fand seinen ältesten Sohn – verbrannt in seinem Bett. Es ist nicht untypisch für derart alte Schriften, dass sie den Tod des Sohnes als Strafe der Götter für Ikoraas Feigheit deuten; in diesem speziellen Fall lässt sich einer Anmerkung des Verfassers aber entnehmen, dass man es offenbar zumindest für eine ungebührlich hohe Strafe hielt. Geschwächt von dem nächtlichen Lauf durch die Wüste und über alle Maßen verzweifelt über den Tod des Sohnes soll sich Ikoraa, die Götter verfluchend, auf den Boden geworfen haben, um zu sterben. Den Schriften nach soll Ikoraa dort vier Tage lang gelegen haben; vier Tage, in denen er in der Sonne lag und weder trank noch aß. Doch er starb nicht; zwar mehrten sich Hunger und Durst auf schmerzhafte Weise, aber er blieb am Leben. Spätestens an dieser Stelle des Berichts wird deutlich, dass der oder die Verfasser das Schicksal dieses Mannes, welches natürlich der Lenkung der Götter zugeschrieben wurde, mit ungewöhnlich viel Mitgefühl betrachteten; diese Haltung ändert sich auch im Weiteren nicht, auch nicht, als Ikoraa, krank vor Hass auf die Götter, die ihm dies angetan haben sollen, nach Ur reist. Da sein Vater mit vielen, oft gebildeten Menschen verkehrte, wusste er für einen Landmenschen recht viel von Ur und auch vom Ank’Pashâ. Dennoch suchte er wohl nicht bewusst nach den ‚letzten Seiten‘, sondern eher nach einer Waffe oder auch nur nach einem Ausweg aus seiner hoffnungslosen Situation. Auch er drang in die Bibliothek ein und fand das Buch; warum dies immer wieder gelungen sein soll, scheint heute unplausibel, damaligen Gelehrten aber scheint es nicht irritiert zu haben. Womöglich war das Gleichgewicht aus Neugier und Sicherheitsbedürfnis in diesen Zeiten ein anderes, oder man wagte es einfach nicht, ein so mächtiges Schriftstück ganz und gar wegzuschließen. Als Ikoraa das Buch aufschlug, erschienen ihm die Kaleé Ank; wir verzichten an dieser Stelle auf eine Zusammenfassung und geben direkt die Schrift wieder, die von Ikoraas Reise berichtet (kanonische Übersetzung);

Wer aber diese Zeilen liest, diese wenigen, der ist am Ende aller Wege,
und nicht einmal die Sonne glüht wie sein Zorn,
und nicht einmal das Meer löscht seine Pein.

Fallen wird die Welt vom Klang seiner Worte,

Nutzlos Speere, Schilde, Mauern,
Nutzlos selbst der Götter Schutz,

Fallen wird die Welt vom Klang seiner Worte.

[…]

Mächtiger als alle Sätze aber ist dieser;
Es gibt keine Hoffnung,
denn wer ihn verinnerlicht (auch: gelesen/gesprochen) hat,
dem ist alles möglich, weil nichts mehr Bedeutung hat.

Es ist unklar, inwiefern die Überlieferung den Text, der als Kaleé Ank bezeichnet wird, an dieser Stelle wiedergibt; nach heutiger Lesart bestand dieser eigentlich nur aus einem Satz. Es ist wahrscheinlich, dass die Verfasser des Berichts von Ikoraas Reise den obigen Abschnitt als Ausschmückung und Erläuterung angefügt haben, auch wenn sie ihn nicht klar von dem getrennt haben, was Ikoraa tatsächlich gelesen haben soll. Eindeutig scheint dagegen zu sein, dass die damaligen Menschen oder zumindest der Kreis um die Verfasser des Berichts von der Vorstellung beherrscht waren, dass das Lesen des entsprechenden Abschnitts im Ank’Pashâ das Ende der Welt einläuten würde; in einigen, scheinbar ’nachgereichten‘ Fragmenten der Schrift ist vom ‚Brennen der Welten‘ Tore‘ und vom ‚Ende aller Grenzen‘ die Rede, ebenso wie vom ‚Vergehen der Götter‘.
Auch wenn die Überlieferung im weiteren leider nur noch fragmentarisch ist und sich widerspricht, teils wohl, weil mehrere Autoren ihre Version der Ereignisse parallel aufgeschrieben haben, kann man davon ausgehen, dass Ikoraa die Kaleé Ank nicht zu Ende las. Die Wachen, die das Buch beschützen sollten, stellten ihn und töteten ihn, bevor er die letzten Worten laut sprechen konnten; unklar ist nur, ob er sich selbst in die Speere stürzte oder nicht.

Der Verbleib des historischen Buches Ank’Pasha ist bis heute ungeklärt. Archäologen führen zur Zeit Ausgrabungen in der Nähe von Bagdad durch, bei denen sie u.a. das Buch oder Hinweise darauf finden wollen. In den bisher gefundenen Aufzeichnungen findet sich nur ein Vermerk dazu. Das Dokument stammt aus der Zeit nach dem Fall von Ur, also aus jenen Jahren, in denen ein Reitervolk aus dem Westen Ur eroberte und die Kultur ihrer Bewohner genauso zerstörte wie ihre wirtschaftliche Grundlage. Es war vor allem ein großer Mentalitätsunterschied, der zu diesen Verwüstungen beitrug, ein Unterschied, der sich vor allem in der simplen und kaum kultivierten Sprache der Eroberer niederschlug.
Die Schrift spricht an einer Stelle von ‚dem Buch‘, was nach Meinung vieler Historiker ein klarer Verweis auf Ank’Pasha ist. In der kanonischen Übersetzung lautet der Text:

Die Männer aus dem Westen kamen an die Bibliothek; ihre Rösser waren groß und schwarz, und ihnen folgte das Feuer. Was ist so wichtig an diesem Haus? fragten sie den Hüter der Bücher und er erklärte es ihnen. Als sie von dem Buch hörten, verlangten sie es zu sehen. Doch fanden sie in dem Buch nur leere Seiten, und ihr Spott und ihr Hohn waren laut.
Seht ihr diesen faulen Zauber, riefen sie unter Gelächter, ein Buch, ein leeres Buch.
Sie blendeten den Hüter der Bücher, auf dass er nie wieder lesen würde. Dann nahmen sie das Buch und schickten einen der ihren damit hinaus, es zu verbrennen.

Opazität

Diesen Artikel drucken 19. September 2008

Entstanden in der Zeit der zunehmenden Vermengung von Sozial- und Medienwissenschaften, ist dieser Begriff zur entscheidenden Kenngröße für die Beschreibung komplexer Wissens- und Theoriezusammenhänge geworden. Ursprünglich von Luhmann in einer späten Arbeit vorgeschlagen, wurde er vor allem von den beiden promovierten Historikern und Soziologen E. Peters und D. Taeuscher formal skizziert und schließlich in der Doktorarbeit von Samuel Linke zufriedenstellend definiert, was endlich auch quantitative Urteile erlaubte.
Während Luhmann vor allem seine Konzeption einer systemtheoretischen Soziologie und den damit eng verbundenen Begriff der Komplexität durch die Idee einer Messgröße „Opazität“ zu stützen versuchte, waren spätere Versuche, darunter auch die Ausarbeitungen von Peters und Taeuscher, schon eher an dem Bild orientiert, das heutige Wissenschaftler von dem Begriff haben.
Dreh- und Angelpunkt des theoretischen Diskurses ist dabei die Einsicht, dass komplexe Gesellschaften dazu neigen, hochdimensionale und äußerst schwer zu durchschauende Theorie- und Wissenstrukturen zu entwickeln. Gerade bei Peters war das Aufgreifen des Luhmannschen‘ Begriffs dabei durch die Untersuchung der soziologischen Randbedingungen für das Auftreten von so genannten ‚Verschwörungstheorien‘ bedingt. So schreibt Peters in seiner Arbeit „Gesellschaft im Kreuzfeuer: Über Ideologien in komplexen Gesellschaften‘ (S. 32):

„[…] Viele der genannten Charakteristika dieser auf den ersten Blick sinnentleerten Theoriegebäude, so etwa ihre Permeabilität für Fakten und Widerlegungs- bzw. Klärungsversuche, lassen sich darauf zurückführen, dass bestimmte Wissenskomplexe auch für gebildete Menschen nicht von den tatsächlich Aussagen über den Theoriebackground bis hin zu den tatsächlichen Fakten, also etwa empirischen Daten, transparent sind. Diese Art von Intransparenz oder auch Opazität sorgt dafür, dass eine Reihe von Theorien einen Plausibilitätsgewinn erlangt; nicht etwa, weil sie aus Sicht des einzelnen eher begründet erscheinen, sondern schlicht aufgrund von Geschmacksurteilen. Keine der verfügbaren Wissenskomplexe liefert Antworten, die vom einzelnen als transparent wahrgenommen werden, und aufgrund der mangelnden Unterscheidbarkeit hinsichtlich des Erkenntnisgewinns bleibt nur die Wahl zwischen Obrigkeitsgläubigkeit und eigenem, subjektiven Geschmacksurteil. […] Ein weiteres Indiz dafür liefert der Umstand, dass die behandelten Theorien vor allem als Begleiterscheinungen von hochkomplexen Ereignissen entstehen, wie etwa der exemplarische Terroranschlag des 11. Septembers: aufgrund der Vielschichtigkeit des Geschehenen und der quer über alle wissenschaftlichen Fachgebiete hinweg verbundenen Teilereignisse ist sogar einem Spezialisten nicht mehr der ganze Komplex transparent; die Opazität ist extrem hoch, es folgt ein starkes Auftreten der so bezeichneten „Verschwörungs“theorien.“

Opazität ist also ein Maß für die Verworrenheit und die fehlende Prüf- und Nachvollziehbarkeit von Wissen; die fortlaufende Spezialisierung und Ausweitung aller Arten von Wissenschaft führt zu immer größerer Opazität, weil selbst Experten etwa nicht alle Quellen kennen können, die ein Paper benennt. In einer späteren, etwas präziseren Definition des Begriffs schreibt Peters (S. 89):

„[…] Opazität ist eine Größe, die die relative Unüberschaubarkeit eines Wissenskomplexes angibt. Sie ist vor allem abhängig vom Spezialisierungsgrad der getroffenen Aussagen; so wird jeder naturwissenschaftlich Gebildete mit einiger Mühe eine Arbeit Newtons nachvollziehen und ihre Plausibilität prüfen können, während selbst ausgebildete Physiker eine Dissertation zur M-Theorie nur schwer prüfen können. Die zweite wichtige Größe ist die Kompaktheit des Gebiets; wie viele Fachgebiete und Disziplinen ragen in den Raum der Theorie hinein? Außerdem hängt die Opazität eines etwa in Textform vermittelten Wissenskomplexes auch von der Art der Verbreitung, der Zahl der zitierten und verwendeten Quellen und dem Status des Autors ab. Andere Einflussgrößen sind die Stringenz der Darstellung, ihre intersubjektive Nachvollziehbarkeit und der Grad an politischer oder religiöser Beladenheit. Letztere etwa kann als die Komponente identifiziert werden, die im Fall der so genannten „Intelligent Design“-Bewegung einen entscheidenden Einfluss hat. […]“

Eine hohe Opazität bedeutet paradoxerweise, dass die Plausibilität beliebiger anderer Theorien, die das gleiche Themengebiet behandeln, gleich groß ist, und zwar genau deshalb, weil die epistemische Plausibilität gegen Null geht; da opak ist, welche Theorie die Wirklichkeit besser beschreibt, wird die erkenntnisorientierte Plausibilität durch eine geschmacksorientierte verdrängt. Die genaue quantitative Methode zur Ermittlung eines Werts für die Opazität eines Textes wurde erst 1991 von Linke entwickelt. Die technischen Details sind hier nicht weiter von Belang. Von Linkes ursprünglicher Formel gibt es über 22 Abwandlungen, entwickelt etwa von Moss, Regeen oder Huber. Diese weichen jedoch nur hinsichtlich gewisser Gewichtungen ab, die hier nicht weiter behandelt werden.
Die oben exemplarisch gewählte Arbeit Newtons kommt mit Linkes Formel auf eine durchschnittliche Opazität von 51,3 (Verfahren; iterativ, N=1000, p=2), gut ausgearbeitete Theorien zu den Ereignissen des 11. Septembers 2001 auf etwa 110023,5 (Verfahren; iterativ, N=100, p=1,5). Die meisten ähnlichen Theorien, so etwa die Intelligent-Design-Komplexe, kommen auf ähnliche Werte.

Dieser Text besitzt eine Opazität von 311923,3 (Verfahren; iterativ, N=1000, p=0).

Botschaft

Diesen Artikel drucken 6. August 2008

Wie oft man diese wohl erlogen hat, gefälscht und erfunden, nur um ein wenig, noch ein wenig Hoffnung aus dem verkümmerten Leib des anderen zu quetschen? Wie oft mag sich Grausamkeit zwischen den Worten versteckt haben, ist es überhaupt zu zählen? Wie viele Male hat jemand oder etwas einen anderen mit dieser Botschaft gefügig machen wollen, ihn für seine Zwecke gewonnen und zerstört? Gibt es eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass jene Worte wahr sind, wenn man sie hört? Sind es 30 Prozent, sind es nur 20? Oder 40? Ist 10 gut geschätzt? Und wenn ja; darf man darüber verzweifeln?

Aber, aber. Still; Alles wird gut.

post scriptum: Für Texte wie diesen habe ich eine neue Kategorie eingefügt. Sie nennt sich „Verwirrendes“ und enthält ebensolches.