Der Tänzer

Diesen Artikel drucken 9. Januar 2011

Einen Schritt macht er, einen weiteren – er taumelt, stolpert, streckt das andere Bein vor, findet wieder Halt und macht wieder einen Schritt, der nur sicher wirkt, bis er wieder zu fallen scheint: Aus einiger Entfernung könnte man glauben, er tanze, wenn auch etwas ungelenk, und in der Tat hat es etwas von einem hässlichen Tanz. Nur, wenn man genau hinsieht, kann man es sehen; nichts läge ihm ferner als das Tanzen: Was ihn unruhig wandern und immer wieder stolpern lässt, das sind die Löcher im Parkett.

Er sieht sie nie genau an, diese Löcher, und das erklärt auch, warum ihm ihr Mangel an Tiefe nie auffällt, obwohl sie doch jedem Außenstehenden sofort als etwas Aufgemaltes, ja gar von ihm Hingezeichnetes auffallen würden; Er ist so sehr mit seinem seltsamen Schwindel befasst, dass es ihm entgehen muss. Aber natürlich weiß er, wer verantwortlich ist: Das wechselt zwar, aber stets berichtet er – schwärmt beinahe – von den Zionisten, dem Bankertum und der Pharma-Industrie, den alten Geheimbünden und neuen Eliten, kurz,  von der ganzen großen Verschwörung, in deren Zentrum er seinen Weg zwischen den ausgehobenen Gruben sucht und nicht findet. Da wären etwa etwa die Biochips, mit denen die Regierung ihre Gedankenkontrollexperimente in die Tat umsetzen will; da sind auch die Jetstreams, mit denen sie den Himmel vergiften; die große Lüge über die Erwärmung der Erde; die Nachbarn von gegenüber, die für die arbeiten, ohne dass er weiß, wissen will oder wissen kann, wer die nun genau sind, aber das ist auch egal, es sind die, die, die es immer sind, nur stets in anderer Form, es sind die Reptiloiden, die den ganzen Planeten unterwandern, es sind Geheimagenten und Killerkommandos, es ist George W. Bush und es sind die Zusatzstoffe im Müsli, alle wollen sie ihm ans Leder, alle reißen Löcher in den Boden, gerade da, wo er eben noch sicher stehen konnte, gerade dort, wo er gehen wollte. Kaum ist er einem Anschlag entgangen, lauert unter seinen Füßen schon der nächste, der nächste Angriff auf seine Autonomie, auf das freie Denken an sich, die Menschheit als ganzes, von irgendwoher, Attacken aus der Nichts in das Nichts für nichts als die Interessen der wenigen Herrschenden, Planenden. Cui bono, wem nützt es, seine Lieblingsfrage, der einzige Garant, die einzige Konstante in dieser Welt der unsichtbaren Mächte, Freund in der ständig drohenden Dämmerung.

Leicht hätte man ihn fällen können, ihm den verzweifelten Lebenswillen rauben können, der ihm die Kraft für den seltsamen Tanz gab, hätte man ihn nur gefragt, was er denn wolle (und wem das nütze), ob er nicht wolle, was sie wollen – oder umgekehrt – (und wem das nütze) und ob er wolle, was er will, oder will, was er wolle (und wem das nütze), alles Fragen, die ihn in endlosen Pirouetten nicht mehr auf dem Parkett, sondern im Kreise um sich selbst gehalten hätten. Schließlich bliebe nichts als die endlose Drehung der Teile um sich selbst, einer Kommunikation unfähig, und das stille Eingeständnis:

Die Glieder haben sich gegen den Kopf verschworen; der Kopf gegen den Magen; der Magen gegen die Gedärme, und so fort, bis jeder gegen jeden spielt und keiner von keinem etwas weiß außer, dass ihm nicht zu trauen ist. Stealth-Panzer überrollen das Lymphsystem; Schläfer lauern im Thalamus. Die Großmächte schlagen ihre Schlacht um den Cortex nur noch zum Schein, ihre Vereinbarungen richten sich längst auf anderes: Während der Zionismus in meinem Kopf siedend-heiß zündet, kündet das Thermit in meinen Adern von einem neuen, größeren Staat.

Die weiße Stadt

Diesen Artikel drucken 27. April 2010

Im Morgengrauen erreichte ich die Mitte des Plateaus.
Ich weiß nicht, wie lange ich dorthin unterwegs war; auch weiß ich nicht, wie ich überhaupt dorthin gelangt war, in diese endlose Wüste aus Fels und Staub. Ich erinnere mich nur, dass der Weg über das Plateau eine Ewigkeit zu dauern schien, und als ich ganz zu mir kam, da stand ich auf der höchsten Spitze des Bergrückens und starrte in die aufsteigende Sonne.
Die Kleidung, die ich trug, muss viel zu dünn gewesen sein für eine kalte Nacht in der Wüste, denn sie bestand nur aus einem einteiligen Arbeitsoverall. Ein Schild auf der Brusttasche war der einzige Hinweise auf meine Herkunft oder Identität: 2/4/47 stand darauf. Mit trockenem Mund las ich es wieder und wieder, suchte nach Erinnerung oder wenigstens Vertrautheit in der Zahl, doch trotz dieser großen Verwirrtheit in mir begriff ich zumindest, dass mir die kräftiger werdende Sonne einen schnellen Tod versprach, wenn ich nicht Schutz vor ihr fand. Ich sah mich lange um, blickte in jede Richtung der Ödnis, und schließlich entdeckte ich am Horizont eine schmale Linie, die sich quer durch die Ebene zu ziehen schien. Zunächst hielt ich sie für eine Fata Morgana, eine letzte, fatale Täuschung, und für einige Momente blieb ich unschlüssig; da ich jedoch ansonsten nichts entdeckte, was in irgendeiner Weise auffällig oder viel versprechend war, sondern in jeder Richtung nur den endlos abfallenden Fels sah, schlug ich dennoch diesen Weg ein, hin zu dem glitzernden Band.
Die Weiße Stadt Schnell wurde das Sonnenlicht so hell, dass ich das Band nur mit zusammengekniffenen Augen sehen konnte; ebenso kam die Hitze und ließ mich den Overall öffnen. An der Außenseite war ein Gürtel befestigt, so dass ich die Ärmel daran befestigen und den Overall bis zur Hüfte abstreifen konnte. Ein kleines, bedrucktes Emblem fiel mir in die Hände, als ich die Ärmel festzurrte: Es war aus weißem Stoff, und die offenen Nähte am oberen Ende verrieten, dass es zum Overall gehörte. Darauf abgebildet war die Silhouette einiger Kirch- oder Bürotürme, jedenfalls die vergröberten Konturen einer Stadt, deren Flächen – von schwarzen Linien getrennt – aus dem blütenweißen Stoff bestanden, und der seltsame Schriftzug „remove worker before washing“.
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit ich für den Weg zu den Schienen benötigte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die fast kerzengerade am Horizont aufgestiegen war, müssen es etwa drei Stunden gewesen sein, vielleicht auch nur zwei: in der Hitze und ohne Wasser kam es mir um ein Vielfaches länger vor. Ich erinnere mich, wie ich mich lange, noch längere Zeit dahinschleppte, dabei von Zeit zu Zeit beinahe stolperte und nur mit größter Mühe über kleinen Erhebungen und Steine hinwegkam, die auf meinem abschüssigen Weg lagen. Mein Kopf wurde vom ewig gleichen Anblick der Felswüste und der Anstrengung ganz taub, und eine genaue Erinnerung fehlt mir wohl. Ich sah einige Dinge, von denen ich daher nicht weiß, ob sie wirklich da waren, oder ob ich sie erfand: Einmal sah ich einen großen, weißen Büroturm, auf den ich zuschritt, das war sicher eine Illusion. Ein anderes Mal aber sah ich ein Tier; es war weit weg, als ich es erspähte, und so klein, dass ich nicht genau sagen kann, ob es eine Art Katze oder ein Wolf war, oder sogar ein großer Hund. Es muss mich gesehen oder gewittert haben; starr blickte es mich für einen Augenblick an, dann lief es davon. Einen Moment später war es wieder verschwunden. Ich weiß nicht, ob auch dieses Tier eine Einbildung war. Damals dachte ich jedoch, dass diese Richtung nicht die schlechteste sein konnte, wenn ich sogar in dieser trostlosen Landschaft ein so großes Tier traf.
Als ich die Schienen schließlich erreichte, legte ich die Hand schützend über meine Augen, um genauer zu erkennen, was ich gefunden hatte; es waren tatsächlich Bahnschienen, und der blanke Stahl ließ mich glauben, dass hier oft Züge entlang kamen. Viel aufgeregter wurde ich jedoch, als ich das leise Rauschen hörte, welches aus einem neben den Schienen verlaufenden Rohr kam. Es hatte die Farbe des Sandes, und in geringer Entfernung sah ich einen silbriges Ventil glänzen, welches aus dem Rohr hervorstand: ich kniete mich davor, drehte hektisch daran, und tatsächlich schoss eine Flüssigkeit heraus, fast so klar wie Wasser; ich legte mich halb unter das Ventil und trank, bis der Strom versiegte. Schon etwas weniger durstig, aber noch lange nicht befriedigt riss ich an dem kleinen Rädchen, welches das Wasser zum Fließen gebracht hatte. Das Rauschen war noch da, hatte auch nicht abgenommen, und dennoch kam kein Wasser mehr aus dem Auslass. Schließlich versuchte ich das Ventil ganz abzureißen, trat und schlug dagegen, ich legte mich sogar ganz unter das Rohr und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, um es aus der Führung zu brechen – ohne Erfolg. Ich entdeckte einen kleinen Schriftzug unter dem Ventil; in weißer Schrift blinkte dort warnend
„Arbeit schafft Wohlstand“
Ich gab mich geschlagen, klopfte den Staub von meinem Anzug und nahm meinen Weg entlang der Schienen auf; wenn es hier ein Ventil gab, dann gab es vielleicht überall entlang der Schienen Ventile. Die einzuschlagende Richtung war für mich leicht zu ermitteln; alle paar Meter wies ein Pfeil auf der Wasserleitung die Fließrichtung. Die Sonne war inzwischen schon lange völlig unerträglich, und während ich den Schienen folgte, riss ich die Ärmel meines Overalls in Streifen und fertigte eine Art improvisierten Turban daraus, der mich mehr schlecht als recht vor der Sonne schützte. Ich zählte ab, wie viele der Pfeile ich passierte, und nach 150 Pfeilen traf ich wieder auf ein Ventil: kein Schriftzug war darunter zu sehen. Ich trank, dieses Mal aber öffnete ich den Hahn vorsichtig, um nichts zu beschädigen. Aber auch an diesem Ventil floss das Wasser nur kurz, und als ich wieder aufstand, sah ich aus den Augenwinkeln das weiße Blinken, dass ich zuvor schon gesehen hatte. Ich verstand das System und ging weiter an den Schienen entlang.
Als ich das sechste oder siebte Ventil hinter mir gelassen hatte, wurden mir zwei Dinge klar: Zum einen handelte es sich bei der Flüssigkeit in der Leitung auf keinen Fall um Wasser. Ich fühlte, wie leer mein Magen war, und abgesehen davon, dass ich schon mehr als sechs Stunden unterwegs sein musste, konnte ich mich nicht daran erinnern, ob ich jemals etwas gegessen hatte. Selbst wenn ich mein letztes Mahl vor sechs Stunden gehabt hätte, so hätte mein Hunger schon lange zurückkehren müssen aber das geschah nicht: Die einzige plausible Erklärung war die Flüssigkeit, die ich alle 150 Pfeile aufnahm.
Die zweite Erkenntnis betraf ebenso die Flüssigkeit, die stets hörbar durch die Leitungen gurgelte, und war weniger positiv: Ich beobachtete, wie mein Durst von Ventil zu Ventil größer wurde, während vermutlich immer die gleiche Menge heraussprudelte. Zunächst hatte ich es für ein normales Phänomen gehalten, bei dieser Hitze und meinem allgemeinen Zustand, dann jedoch bemerkte ich den salzigen Geschmack in meinem Mund.
Nach zehn Ventilen kam mir zum ersten Mal ein Zug entgegen: Ich hörte ihn schon aus großer Entfernung heranrauschen, und zunächst blieb ich auf den Schienen stehen, um zu sehen, ob er anhalten würde. Als der weiße Punkt am Horizont jedoch sehr schnell größer wurde, besann ich mich eines Besseren und verließ das Gleisbett: Ich weiß nicht, wie schnell der Zug war, aber mir kam er unglaublich schnell vor. Die ganz weiß getünchten Wagen rasten an mir vorbei, ohne abzubremsen. Ich sah keine Passagiere und auch keinen Zugführer. Die Fenster, wenn es denn Fenster waren, waren verspiegelt und ich sah nur meine heruntergekommene Gestalt darin. Als der Zug sich entfernt hatte, entschied ich mich, dennoch in dieser Richtung weiterzugehen, weniger deshalb, weil ich dort weitere Züge vermutete, als vielmehr wegen der Ventile, die in dieser Richtung eine kurze Erleichterung versprachen. Der Salzgeschmack in meinem Mund war inzwischen unerträglich, und ich schleppte mich nur noch von Ventil zu Ventil. Ich weiß nicht, wie viele es am Ende waren.
Irgendwann hörte ich jedoch ein fernes Donner, und als ich die Augen zusammenkniff, sah ich etwas Schwarzes auf den Gleisen. Das Geräusch wurde lauter, und ich begriff, dass es sich um einen wesentlich langsameren Zug handeln musste. Kaum merklich, aber stetig kroch er auf mich zu. Ich ging ihm entgegen, bis zu einem weiteren Ventil, von dem ich trank, ohne den schwarzen Triebwagen, den ich inzwischen erkennen konnte, aus den Augen zu lassen. Dann setzte ich mich neben die Gleise und wartete.
Nach einer Weile erkannte ich immer mehr Details. Die Front des Triebwagens war schwarz, und hinter den durchsichtigen, aber vergitterten Fenstern konnte ich Personen erkennen, offenbar den Zugführer. Der Wagen schien mir sehr alt zu sein, und an einigen Kanten blitzte unter der vom Wüstensand abgeriebenen Farbe der blanke Stahl. Die Front des Zuges war zugespitzt, wie bei einer Art Rammbock, und aus der Nähe wurde das Lärmen der Motoren unerträglich laut. Als der Zug nur noch wenige hundert Meter entfernt war, beschlich mich plötzlich eine seltsam vertraute Angst: Ich dachte darüber nach, in die Wüste zu laufen und auf den nächsten Zug zu warten. Andererseits aber wusste ich, dass der Durst noch schlimmer werden würde, wenn dieser Zug mich nicht mitnahm. Und außerdem, wohin sollte ich laufen? Die Wüste schien in jede Richtung weit und flach zu sein, das Plateau musste ich schon lange hinter mir gelassen habe. Man würde mich über Kilometer hinweg sehen könne, selbst wenn ich mich flach auf den Boden werfen würde. Schließlich verwarf ich meine Bedenken und blieb sitzen, bis der Zug einige Meter vor mir knirschend hielt: Dann stand ich auf und ging mit langsamen Schritten auf das Ungetüm zu.
Eine Tür öffnete sich an der Seite des Führerhauses: Zwei Soldaten stiegen aus. Sie trugen Gewehre, die aber locker vor ihnen baumelten, und weiße Uniformen, die an einigen Stellen fleckig waren. Ich schluckte meine aufkeimende Panik herunter und lächelte die beiden gequält an, während sie mir entgegen gingen. „Hallo…“ rief ich herüber. „Identifizieren sie sich bitte.“ antwortete einer der Soldaten. „Ich bin schon lange in der Wüste, ich weiß nicht…“ „Identifizieren sie sich!“ unterbrach mich der Soldat herrisch. „2/4/47“ antwortete ich, bevor ich darüber nachdenken konnte, „2/4/47“. „Zwei… ein Arbeiter.“ raunten sich die Soldaten zu. Sie griffen nach ihren Waffen. „Steigen Sie ein, Zwei.“ brüllte mich einer der beiden an. Sie deuteten mir, zu ihnen aufzuschließen. Ich gehorchte; sie brachten mich nicht ins Führerhaus, aus dem die beiden geklettert waren, sondern weiter nach hinten, zu den angehängten Waggons, die ich bisher nicht gesehen hatte. Sie sahen noch älter aus als der Triebwagen: Es handelte sich offenbar um Personenwaggons, auch wenn man sie umgebaut hatte. Die Fenster waren überall durch dichte Stahlgitter ersetzt worden, und an einigen Stellen waren noch Reste der ursprünglich weißen Außenlackierung zu sehen: Durch die Gitter blickten mich einige Menschen an, die offenbar auch Overalls trugen; die meisten wirkten äußerst desinteressiert. An einem der Waggons war eine Tür angebracht; einer der Soldaten schloss sie auf, während der andere mich in Schach hielt. Sie deuteten mir, hineinzusteigen, und als ich nicht schnell genug reagierte, gab mir einer der beiden einen Schlag ins Genick. Unsanft landete ich auf dem Boden des stickigen Waggons, und hinter mir hörte ich die beiden lachen. Die Tür schloss sich wieder, und einige Sekunden später setzte sich der Zug in Bewegung.Die Weiße Stadt (2)
Ich stand auf und rieb mir das schmerzende Genick. Meine Anwesenheit schien keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Die meisten Fahrgäste schienen nach dem Zwischenhalt wieder zu dösen. Ich versuchte einige zu wecken, stieß sie sanft, später ruppig an, doch sie reagierten nicht auf meine Ansprache: Schließlich setzte ich mich auf einen freien Platz und dachte wieder an meinen unstillbaren Durst. Ich entdeckte einen kleinen, vergitterten Bildschirm an der vorderen Wand des Waggons. Er zeigte – offenbar in einer Endlosschleife – Schriftzüge: „Wir in Europa“ war darunter, aber auch „Wir können es besser“. Ich erkannte auch den Satz, den ich an den Ventilen immer wieder gefunden hatte. Als sich meine Augen besser an das Dämmerlicht im Waggon gewöhnt hatten, sah ich den kleinen, verstaubten Hahn im hinteren Teil des Wagens. Darüber prangte ein kleines Eingabefeld, dem ich zunächst keine große Beachtung schenkte. Ich verließ meinen Platz und sah mir den Hahn näher an: Er war anders als die Ventile in der Wüste. Inzwischen konnte ich förmlich spüren, wie sich Salzkristalle in meinem Mund sammelten, und so zögerte ich nicht, den Schraubverschluss zu drehen.
Der Stromstoß warf mich erneut zu Boden. Vielleicht war ich auch einige Minuten bewusstlos, jedenfalls fand ich mich auf dem Boden wieder: Mein Kopf schmerzte, und die Hand zitterte unablässig. Ich stemmte mich wieder hoch, schonte dabei die kribbelnde Hand und sah, dass das Eingabefeld über dem Hahn leuchtete. Eine Zeile blinkte über dem winzigen Tastenfeld:
7 + 8 =
Einige Momente musste ich mich sammeln, dann verstand ich. Mit der linken Hand, die nicht zitterte, tippte ich 15.
„Bildung ist ein Bürgerrecht.“
funkelte mir das Display entgegen, dann schoss eine Flüssigkeit aus dem Hahn, und ich trank begierig. Es schmeckte anders: ich glaube, es war kein Salz darin, dafür schmeckte das Wasser seltsam künstlich. Nach einigen Sekunden versiegte der Strom wieder, und ich sah auf dem Bildschirm
4 x 5 =
Einige Male tippte ich die jeweilige Lösung, um weiter trinken zu können, schließlich wurde ich sehr, sehr müde. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich schon seit weit mehr als 10 Stunden unterwegs war, und der Gedanke an die harte Polsterung der Sitze wurde immer verführerischer. Dass etwas im Wasser dafür verantwortlich gewesen sein muss, erkannte ich eher beiläufig und ohne, dass ich lange darüber nachdachte. Ich schleppte mich nur noch zu einem der freien Sitze, ließ mich fallen und schlief auf der Stelle ein.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlief oder wie lange wir unterwegs waren. Zweimal wurde ich in der Nacht wach, und im Dunkeln tastete ich mich zu dem Wasserhahn vor, um nach dem Lösen einer Aufgabe wieder trinken zu dürfen; dann schlief ich wieder. Am Tag (wahrscheinlich war es der nächste Tag, vielleicht aber auch der übernächste) hielten wir einmal an. Ich registrierte kaum, wie die Soldaten draußen eine Frau zwangen, in den Waggon zu steigen. Als der Zug rollte, schlief ich wieder. Ich träumte ein wenig, aber wenn ich es mir recht überlege, kann ich nicht sagen, was genau ich träumte: Es hatte mit dieser weißen Stadt zu tun, denke ich, aber mehr als die ferne Silhouette ihrer Türme kann ich mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen.
Schließlich weckte mich ein Soldat unsanft. Er sprühte mir irgendwas Kühles ins Gesicht, und als mich rührte, herrschte er mich an, wach zu bleiben, damit das Mittel schneller wirke. Meine Müdigkeit verflohg und ich sah nach draußen: Wir waren an einem Bahnhof angekommen. Er war überdacht, und ich konnte nirgendwo Schilder sehen, wusste also nicht, wo wir waren. Auf dem Gleis neben uns stand ein weiterer Zug, ebenfalls ein altes Modell mit vergitterten Fensteröffnungen: Er war leer. Zur anderen Seiten konnte ich zehn oder vielleicht sogar zwanzig Bahnhgleise sehen, und weit entfernt erkannte ich Menschen, die in einen der weißen Schnellzüge einstiegen. Ich beobachtete auch den Soldaten, der allen Arbeitern etwas aus einer kleinen Dose ins Gesicht sprühte und ihnen dann deutete, wach zu bleiben. Der andere Soldat stand währenddessen wachsam und mit gezogener Waffe in der Tür. Ich sprach den Mann an, der neben mir saß: „Was wollen die von uns?“. Ich bekam einen Tritt. „Niemand redet!“ brüllte der Soldat und zog einen Schlagstock aus seinem Gürtel. Ich duckte mich und verbarg den Kopf unter meinen Händen. Der Mann ging wieder an seine Arbeit und steckte den Knüppel weg. Ich stellte keine Fragen mehr.
Als der Soldat alle Passagiere aufgeweckt hatte, fuhren wir wieder los: Die Soldaten blieben im Waggon, ich rührte mich nicht. Bald hinter dem Bahnhof begann ein Tunnel. Wir fuhren vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Ich hatte das Gefühl, es würde immer weiter nach unten gehen, aber das mag täuschen; Als wir jedenfalls wieder an einem Bahnsteig hielten, waren wir offenbar tief unter der Erde, denn der nackte Fels hing über den Gleisen herab. Die beiden Soldaten stiegen aus und sprachen draußen mit anderen. Ich verstand ihr Gespräch nicht, obwohl ich sicher bin, dass sie das weitere Vorgehen besprachen. Einer der Männer kam zurück zum Waggon und deutete uns, auszusteigen, und zwar einzeln, und uns in einer Reihe aufzustellen.
Unter lautem Gebrüll der Soldaten beeilten wir uns, aus dem Waggon zu klettern. Vermutlich hatten wir alle Kopfschmerzen: Ich jedenfalls hatte schlimme Kopfschmerzen, was das Aufstehen nicht leichter machte. Auch meine Beine fühlten sich taub an, aber ich schleppte mich durch den Waggon, während wir nach und nach ausstiegen.
Als ich fast an der Tür war, sah ich die Bewegung des jungen Mannes gerade noch rechtzeitig, bevor er den Schraubenzieher wieder im Dunkel der Kabine verschwinden ließ: Für einen Moment jedoch sah ich ihn aufblitzen, und vermutlich rettete mir dieser Umstand mein Leben an diesem Bahnsteig in der Tiefe. Wahrscheinlich zeigte er ihn mir nicht absichtlich, es war mehr ein Zufall: Keiner der anderen hat ihn gesehen, denke ich. Ich hatte nur wenige Sekunden Zeit, darauf zu reagieren, und ich sah mich so ruhig, wie es mir möglich war, noch einmal um, blickte durch die Vergitterung der Fenster und versuchte, einen Fluchtweg festzulegen.
Als der Mann vor mir aus dem Zug gesprungen war, ging alles plötzlich sehr schnell, wie ich es mir erhofft hatte. Ich sah nicht, was genau geschah, aber soweit ich es einschätzen kann, stürmte der Mann auf den Soldaten los, der dem Zug am nächsten stand. Er muss ihn verwundet haben, denn ich hörte einen überraschten Schrei, aber sicher bin ich mir nicht, denn ich sah nicht hin. Die Trittstufe des Waggons sprang ich, schon halb im Lauf, hinab, dann ließ mich unter den Zug fallen und robbte, so schnell ich nur konnte, auf die andere Seite. Hinter mir hörte ich Rufe, das Klappern von Schuhen, dann Schüsse, immer mehr Schüsse, Schreie, wieder Schüsse. Vermutlich waren die anderen Arbeiter losgelaufen, als sie begriffen hatten, was vor sich ging. Ich sah niemanden von ihnen mehr auf meiner Flucht. Vermutlich haben die Soldaten die anderen erwischt, entweder getötet oder jedenfalls eingefangen. Ich ließ den Tumult hinter mir, als ich die Dunkelheit der Tunnel einbog.
Der Tunnel war einer von dreien gewesen, die ich entdeckt hatte, als ich mich noch im Waggon stehend umsah. Ich hatte aus keinem besonderen Grund für diesen entschieden, es war einfach der Fluchtweg, der mir am kürzesten erschienen war. Sein Verlauf war kurvig und spärlich beleuchtet, dennoch zwang ich mich, auf den ersten vielleicht hundert Metern nicht langsamer, sondern eher schneller zu laufen. Erst, als ich die Schüsse hinter mir nicht mehr hören konnte, bewegte ich mich etwas langsamer, lief aber weiterhin. Als ich an eine Abzweigung kam, wählte ich den dunkleren Pfad: nach einigen Hundert Metern verzweigte der Tunnel sich wieder, und ich wählte wieder den dunkleren Weg durch den Untergrund. Schließlich kam ich an der nächsten Kreuzung keuchend zum Stehen. Ich ging halb in die Hocke und rang nach Atem. Die Luft kam mir stickig vor, warm und dabei so, als ob zu wenig Sauerstoff darin sei; erst nach mehreren Minuten konnte ich langsam weitergehen, ein Stechen in der Seite machte mir das Rennen unmöglich. Dieses Mal nahm ich einen helleren Pfad, denn in dem schmalen Gang, in den ich geflohen war, schienen nur noch einige kleine, bläulich-weiße Lampen, die wie eine Art Notbeleuchtung wirkten. Überall um mich herum war nur noch nackter Fels, und die von Zeit zu Zeit auftauchenden Stützen aus Holz verrieten mir, dass ich in einer Art Mine war. Als sich meine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte ich tatsächlich die Spuren von Arbeit an den Wänden: In einigen entdeckte ich tiefe Löcher mit Scharten wie von Spitzhacken, vielleicht auch von schwererem Gerät. Ich ging voran, kam immer wieder an Abzweigungen und wählte irgendeinen Weg: Verlaufen hatte ich mich ohnehin, nun war es auch egal, in welche Richtung ich ging. Als ich das Hämmern von Werkzeug hörte, wand ich aber in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Hier unten waren andere Arbeiter, dachte ich mir: vielleicht würden sie mir helfen können.
Mein Weg durch die Tunnel war lang, wenigstens kam er mir lang vor. Ich folgte dem Klopfen, und wenn ich an eine Kreuzung kam, blieb ich stehen um zu lauschen. Dann ging ich in die Richtung, in der ich das Hämmern vermutete. Nach einer Weile wurde die Beleuchtung wieder besser, wahrscheinlich war der Bereich, den ich zunächst betreten hatte, ein verlassener oder erschöpfter Bereich der Mine gewesen.
Schließlich kam ich an eine große Kreuzung: Die recht schmale Öffnung im Fels öffnete sich weit nach oben hin und traf weit oben die weißen Kacheln eines großen und breiten Versorgungstunnels, der den felsigen Bereich, durch den ich gekommen war, fast im rechten Winkel schnitt. Der weiße Tunnel schien für meine Augen blendend hell, und doch sah ich auf der anderen Seite der Kacheln wieder einen der kleineren Tunnel, der fast in völlige Dunkelheit getaucht schien. Einen Moment blieb ich stehen und lauschte: Das Hämmern war jetzt ganz nahe, und ich bildete mir zumindest ein, auf der anderen Seite des Versorgungstunnels schemenhafte Gestalten zu erkennen. Dann hörte ich auch das Poltern von Stiefeln und die näherkommenden Rufe von Soldaten, und lief so schnell ich konnte.
Möglicherweise wäre ich weiter gekommen, wenn ich mich umgedreht hätte und in die Dunkelheit der verlassenen Abschnitte zurückgelaufen wäre, aber daran hatte ich keinen Gedanken: Ich rannte quer über den gekachelten Korridor und verschwand in den Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich den gebrüllten Befehl hinter mir hörte, hatte mich der Tunnel schon verschluckt.
Ich keuchte wie ein Tier, während ich das Tempo haltend versuchte, den Weg vor mir und vor allem die Unebenheiten des Untergrundes rechtzeitig zu erspähen. Um einige Biegungen kam ich nur knapp, indem ich meinen Oberkörper abrupt nach links oder rechts warf, und zweimal schlug ich fast hin, als sich im Boden vor mir plötzlich ein kleines Loch auftat. Ich passierte eine ganze Reihe von Arbeitern, die offenbar nur mit einfachsten Geräten gegen den Fels schlugen: sie schienen mir dürr zu sein, und irgendetwas Irritierendes war da an ihnen, aber mehr nahm ich auf meiner Flucht nicht wahr, zu schnell lief ich im Dämmerlicht an ihnen vorbei. Anfangs hörte ich noch die Rufe meiner Verfolger, aber das Tunnelsystem verzweigte sich auch auf dieser Seite sehr häufig, und nachdem ich fünf- oder sechsmal abgebogen war, hörte ich keine Stiefel mehr: Ich lief noch einige Hundert Meter weit, bis meine Lungen wie Feuer brannten, bog um eine Ecke, und prallte in vollem Lauf auf einen der Arbeiter.
Wir gingen beide zu Boden, fielen beinahe aufeinander , und ich schlug mit dem Kopf auf das Gestein. Ich wäre sicher eine ganze Zeit lang liegen geblieben, wenn ich nicht voller Adrenalin gewesen wäre, doch auch der Arbeiter schien sich sofort aufzurappeln, und noch während ich eine gestammelte Entschuldigung herausbringen wollte, verfehlte die breite Seite einer Spitzhacke mein Gesicht um Haaresbreite. Mehr reflexhaft drehte ich mich, immer noch halb liegend, herum und trat mit aller Kraft in die Richtung, in der ich den Stiel der Waffe vermutete: Ich hörte, wie die Hacke davon geschleudert wurde. „Ich will nichts…“, setzte ich keuchend zu einer Erklärung an, doch der Arbeiter hatte bereits nach einem Stein gegriffen und traf mich kräftig am Oberschenkel (im Nachhinein denke ich nicht, dass es ein gezielter Hieb war – mit Leichtigkeit hätte er auch meinen Kopf treffen können). Ich schrie auf vor Schmerz: Der Arbeiter nutzte den Moment und robbte zu seiner Hacke, ich hörte, wie die Klinge über den Boden schrammte und warf mich brüllend nach vorn, landete auf ihm und schlug so fest zu, wie ich nur konnte. Schließlich bekam ich seinen Hals zu fassen und ließ ihn fast wieder los, als ich bemerkte, wie dünn er war – und wie seltsam sich seine Haut anfühlte.
Er nutzte mein Zögern, griff nach etwas und traf mich am Kopf, doch zu meinem Glück war es nur seine flache Hand, die mich traf. Ich biss ihm in die Hand, schmeckte verbranntes Fleisch: Er heulte auf, das erste Mal, dass er einen Ton von sich gab, ich schloss beide Hände um seinen Hals und drückte zu. Er holte mit Armen und Beinen aus, doch sein Widerstand erlahmte schnell, begleitet von einem jämmerlichen Röcheln. Jetzt, da ich halb auf ihm hockte, sah ich, was mich an den Arbeitern im Gang so irritiert hatte. Der Körper des Arbeiters war so unnatürlich dünn, dass er fast wie Puppe wirkte. Dabei war sie nicht dünn im eigentlichen Sinne. Es war mehr so, als hätte man alles Unwesentliche weggelassen, Fett, Bindegewebe; Der Körper wirkte drahtig und auf seltsame Weise muskulös, obwohl er doch unglaublich dürr war. Was mich aber am meisten erschreckte, hatte ich zunächst für eine Täuschung meiner Augen gehalten, wie sie im Dämmerlicht entstehen kann, und ich hätte meinen Griff fast wieder gelockert, als ich es begriff; Der Körper des Mannes, dessen Hals ich umklammert hielt, war über und über verbrannt. Ich konnte keine Stelle entdecken, die nicht verbrannt war, und dabei war er bis auf eine kurze Arbeitshose fast nackt. An einigen Stellen schien sich das äußere Gewebe abzulösen, und ich spuckte aus, als ich mich an den Geschmack in meinem Mund erinnerte. Als sich seine Augen zu verdrehen begannen, lockerte ich meinen Griff  etwas und versuchte nicht darüber zu nachzudenken, wie man ihm so etwas angetan haben konnte. Der Arbeiter reagierte mit einem erleichterten Stöhnen. „Pass auf: Ich will dir nichts tun. Ich werde dich jetzt loslassen, und wir werden nicht mehr kämpfen. Verstehst du?“ sagte ich zu ihm immer noch keuchend. Ich versuchte, in seinen Augen eine Antwort zu lesen, aber ich sah nichts. Vielleicht war mein Griff noch zu stark, dachte ich und lockerte ihn noch etwas. „Verstehst du?“ fragte ich ihn noch einmal. Er antwortete nur mit einem röchelnden Zischen, dass ich zuerst nicht deuten konnte. Dann wiederholte er seine Antwort jedoch, und ich verstand: Wir in Europa, winselte er. Und: Arbeit schafft Wohlstand. Ich blicke entsetzt in seine leeren, ausdruckslosen Augen und vergaß den Griff, in dem ich ihn gehalten hatte Der Arbeiter griff augenblicklich zu einem größeren Stein, den ich nicht gesehen hatte, und traf mich unterhalb der Schläfe. Ich fiel zur Seite und sah einige Sekunden nichts mehr, konnte einem weiteren Hieb aber dennoch ausweichen. Dann sah ich ihn nach der Spitzhacke greifen, die ich fast schon wieder vergessen hatte, trat nach ihm, rollte herum, bekam meinerseits die Hacke zu fassen und schlug zu.
Als er sich nicht mehr rührte, kniete ich neben ihm und sah auf seinen verunstalteten Körper. Der Kampf mit mir hatte große, fast bräunliche Wunden auf seiner Haut hinterlassen. Etwas Schmieriges klebte an meinen Händen. Fassungslos starrte ich auf das Wesen, dass ich getötet hatte, töten musste. Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte den Kopf und sah den Gewehrkolben noch, dann wurde alles schwarz.
Ich kam zu mir, weil jemand mich jemand auf die Beine stieß. Der Kopf dröhnte, wie ich noch nie erlebt hatte, und als ich mein Gesicht befühlte, wurde mir klar, dass meine Nase gebrochen sein musste. Ich stand am Ende einer Schlange von Menschen, die alle einen Arbeitsoverall trugen. Wir schienen immer noch in den Tunneln zu sein: Dieser war so eng, dass ein Erwachsener nur einzeln hindurchgehen konnte. Der Soldat hinter stieß mir das Gewehr in den Rücken, damit ich aufschloss: Von Zeit zu Zeit bewegte sich die Reihe der Menschen ein Stück nach vorne, und als ich wieder sicher genug stand, um auf die Zehenspitzen zu gehen, blickte ich über die Menschen vor mir hinweg um zu sehen, wohin der enge Schlauch führte. Ich sah einen schweren Stahlschott wie den einer Druckkammer. Er besaß kein Sichtfenster, nur die vertraute Silhouette der Weißen Stadt sah ich darauf eingraviert. Die Tür öffnete sich: einer der Arbeiter, der erste in der Schlange wohl, ging an den Soldaten vorbei, die links und rechts in Aussparungen bereitstanden, und betrat den Raum hinter der Tür, der stockdunkel zu sein schien. Dann hörte ich einen gedämpften Schrei und ein Tosen und Dröhnen wie von einem Luftstrahl. Als ich begriff, sank ich zusammen, brach fast zusammen: der Soldat hinter mir erinnerte mich mit einem leichten Stoß an meinen Platz. Ich rückte auf. Es mussten noch vier oder fünf Leute vor mir gewesen sein, so viel hatte ich erkennen können. Auch über der Tür standen zwei Soldaten mit ihren Waffen im Anschlag auf einer Art Plattform, das erkannte ich erst jetzt. Sie waren im Halbdunkel schwer auszumachen, aber ich sah sie. Der Soldat stieß mich heftiger, ich ging wieder zwei Schritt nach vorne. Nur noch drei oder vier, dachte ich. Ich wartete, bis ich das Geräusch des Dampfstrahls hörte, dann drehte mich um und holte aus, doch ich traf den Soldaten nicht einmal, er hatte meine Bewegung bereits im Ansatz erkannt. Ich ging zu Boden, aber er hatte gerade so fest zugeschlagen, dass ich nicht ganz bewusstlos wurde. Unter einigen Tritten und Rufen brachte er mich auf die Füße, ich schleppte mich wieder zwei Schritte vor, beugte mich zur Seite und sah die Tür schon nah, nur noch zwei vor mir. Meine Knie knickten ein, ein weiterer Tritt, jemand zog mich an den Schultern nach oben, ich stand wieder, ich sah die Tür hinter der Frau vor mir, das weiße Emblem darauf, das Zeichen der Weißen Stadt, die Frau trat vor, die Tür schloss sich. Ich steuerte verzweifelt auf den Soldaten zu, der links neben der Tür stand, er schlug mich nicht einmal, sondern stieß mich sanft zurück, dann ein weiterer Tritt von hinten, und ich stand in der Kammer. Die Tür schloss sich hinter mir. Ich hörte Dampf rauschen.

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen schlimmen, anhaltenden Schmerz. Aber es war nicht der Schmerz, den ich erwartet hatte: Er betraf nicht den ganzen Körper, sondern konzentrierte sich gänzlich auf meinen Nacken. Noch dazu war er zwar intensiv, aber nicht so sehr, wie ich es befürchtet hatte. Ich hob den Kopf, und fand mich an meinem Schreibtisch wieder. Mein Kaffeebecher dampfte noch, und die Unterlagen, auf denen mein Kopf geruht hatte, waren noch genauso sortiert, wie ich sie hingelegt hatte. Das große Büro, dass ich schon seit einer Weile bezogen hatte, wirkte wie immer: Durch die großen Scheiben konnte ich die Welt draußen erkennen. Ich lehnte mich zurück in den tiefen Lehnsessel, und für einen Moment lang verfolgte mich der Gedanke, dass meine Flucht durch die Tunnel, die Arbeit in den Minen, nun schon lange hinter mir lag, dass ich die Minen schon lange verlassen hatte und nun hier arbeitete, doch dann wurde ich ganz wach und erkannte, dass es nur ein Traum gewesen war: die Wüste, der Zug, die Tunnel, alles. Wie zur Vergewisserung sah ich auf meine gepflegten Unterarme: sie waren nicht verbrannt, natürlich waren sie das nicht.
Dennoch beschäftigte mich mein Traum, schien er mir doch so real gewesen zu sein. Kurz betrachtete ich meine Unterlagen, die Tabellen und Zahlenkolonnen, die ich heute noch hatte bearbeiten wollen, dann jedoch nahm ich meinen Kaffee und setzte mich an den kleinen Konferenztisch, der nur einige Meter entfernt stand. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb auf, was ich geträumt hatte. Jede Einzelheit versuchte ich aufzuzeichnen, und als ich das Blatt vollgeschrieben hatte, nahm ich immer weitere. Schließlich hatte ich alles notiert, was mir einfiel, und ich betrachtete meine Aufzeichnung. Mir wurde klar, dass etwas fehlte.
Ich brauchte eine Weile, um mich an das zu erinnern, was ich vergessen hatte. Ich trank den Kaffee aus, genoss den sanften, bitteren Geschmack nach dem langen Weg durch die Wüste in meinem Kopf, und dachte darüber nach. Schließlich stand ich auf und ging zu dem breiten Panoramafenster. Während ich die strahlend-hellen Türme der Weißen Stadt betrachtete, deren Silhouette mir so vertraut war, strich ich abwesend über meine verbrannten Unterarme, diese Narben aus alten Zeiten, an die ich mich kaum noch erinnere.
Dann ging ich zurück zu dem wieder dampfenden Kaffeebecher und schrieb:
Jedes Leben in der Weißen Stand hat einen realen und einen fiktiven Teil; einen, der geschieht, während der Bürger nicht anwesend ist, und einen anderen, der nicht geschieht. Ich strich den Satz und begann neu;
Jeder Bürger der Weißen Stadt führt zwei Leben; dies ist nur die eine Hälfte meines Lebens in der weißen Stadt. Ich überlegte einen Moment, dann fand ich die richtigen Worte und die Geschichte, die ich erzählen musste:
Mein anderes Leben, das zweite der beiden, die man mir gegeben hat, beginnt so;

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen stechenden, endlosen Schmerz, der meinen ganzen Körper erfasst hielt und nicht locker ließ. Es dauerte Stunden, vielleicht auch Tage, bis ich das Bewusstsein gänzlich wieder erlangte. Als ich schließlich die Augen öffnete, lag ich offenbar auf dem Rücken und starrte auf etwas, dass ich zuerst nicht als einen Spiegel erkannte. Doch es war mein eigenes, verunstaltetes Bild, das dort von der Decke auf mich herabstarrte. Das hatten sie aus mir also gemacht; jeder Zentimeter meiner Haut war von dem Dampfstrahl verbrüht, und an einigen Stellen löste sich immer noch Haut. Ich war mir sicher, dass mich nur die schwarze Flüssigkeit bei Bewusstsein hielt, die durch ein dünnes Rohr in meinen Unterarm floss, aber auch so war der Schmerz unerträglich. An den Hand- und Fußgelenken, an denen weiße, starre Bänder mich auf der Liege fixierten, brannte der Kunststoff der Fesseln: An meinem Rücken brannte der kalte Stahl, und selbst die Luft schien sich wie eine schwere, entzündete Flüssigkeit auf mich zu legen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich dort behandelten, festgeschnallt auf dieser Liege, gezwungen, den eigenen, entstellten Körper unablässig zu sehen. Immer wieder wurde ich bewusstlos, und dann träumte ich von den Türmen der Weißen Stadt, die ich nie gesehen habe. Einmal unterhielten sich zwei Menschen direkt neben mir, ohne dass ich sie sehen konnte. „Wie weit ist der?“ fragte der eine. „Der ist auch bald so weit. Er kommt manchmal noch zurück, aber in zwei Tage sollte er soweit sein, dass wir ihn arbeiten lassen können.“ Ich verstand nicht, was sie damit meinten, oder ich hoffte nur, es nicht zu verstehen. Immer häufiger wurde ich bewusstlos und träumte von der Weißen Stadt, sogar von einem seltsamen Leben dort: Ich weinte, als ich aus diesen Träumen aufwachte und wieder mein entstelltes Spiegelbild sehen musste.
Irgendwann kamen die Männer wieder. Ich konnte sie reden hören. „Gut… das hier ist… 2/4/47.“ „Der ist auch bereit, alle Werte sind normal. Schicken wir ihn los.“. Ich sah, wie die Flüssigkeit, die man seit Tagen in meine Arme spülte, langsam ihre Farbe wechselte. Aus dem Schwarz wurde langsam Grau: Aus dem Grau ein helleres, immer noch helleres Grau, und schließlich war sie fast weiß. Ich spürte, wie meine Erinnerungen träger wurden, wie sie verschwanden: Mein Weg durch die Wüste, die Fahrt mit dem Zug. Meine Flucht durch die Tunnel. Der große Spiegel über meinem zerstörten Körper. Alles verschwand.
Dann dachte ich zum ersten Mal
WIR IN EUROPA und dann
ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND. Einen Moment glaubte ich, es wäre vorbei, doch dann
BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT und ich begriff, dass ich bald nichts anderes mehr denken würde, nicht mehr als

Ich trank einen weiteren Kaffee und sah zu, wie die Sonne unterging: Ihr Rot übertrug sich nicht auf die Türme der Weißen Stadt, sie blieben so weiß wie Schnee.

WIR KÖNNEN ES BESSER

Ich ging die Tabellen durch: Die Arbeit war fast erledigt, ich konnte mir Zeit lassen und den Ausblick genießen.

WIR IN EUROPA

Ich streckte mich, nur für einige Minuten, auf dem bequemen Ledersofa aus.

ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND

Ich wusste den Blick über die Weiße Stadt zu schätzen, nicht viele Angestellte in meinem Alter hatten ein Büro in solcher Lage.

BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT

Was geschah

Diesen Artikel drucken 29. März 2010

War er es? Das Gesicht war vertraut, es gleichte dem in seiner Erinnerung trotz der Jahre recht genau. Und doch..
Er zögerte, bevor er auf ihn zuging und ihm die Hand hinreichte. Der andere nahm die Hand: sie erkannten sich. „Stefan…“ sagte er und sah das Gesicht weiter an. Es war Stefan.
Sie tauschten stockend einige Höflichkeiten aus: Die Frage nach dem Befinden (Stefan antwortete verhalten: Die Gegenfrage ließ er aus), die nach der Arbeit (zögernd erklärte Stefan, er sei mit verschiedenem beschäftigt, zur Zeit aber arbeitslos) und einige andere. Er lud den alten Freund auf einen Kaffee ein, doch der lehnte ab: das Gespräch erlahmte rasch, und im Nachhinein erschien es ihm so, als ob seine Fragen Stefan doch nur am Gehen gehindert hatten. Einige Minuten blieben sie so stehen zwischen den Regalen des Supermarkts; er fragte, wie es Katja gehe, ob er noch Kontakt zu ihr habe; Stefan schien Mühe zu haben, sich an seine langjährige Jugendfreundin zu erinnern, und antwortete schließlich Nein, mit Kat-ja habe er schon lange nicht mehr gesprochen, er betonte den Namen auf der falschen Silbe.
Ein seltsames Gefühl des Irrtums beschlich ihn, er sah den Mann, mit dem er doch so viel Zeit verbracht hatte, eindringlich an und fand doch nur vertraute Gesicht Stefans, älter, aber dennoch vertraut und – wie ihm langsam klar wurde – zutiefst unbekannt. Um das einsetzende Schweigen zu vermeiden und die spürbare Spannung zu verringern, fragte er halb scherzhaft nach der „Alten Runde“, der kleinen Gruppe, in der Stefan sich während des Studiums häufig zu Diskussionen und nächtlichen Blitzschachrunden getroffen hatte, zuweilen auch in seiner Begleitung, obwohl er sich nie der Runde zugehörig gefühlt hatte.
Wieder schien Stefan nachdenken zu müssen, sein Blick wanderte vom Waschmittel zum Weichspüler und dann zurück. Die seien doch alle schon lang nicht mehr da, sagte er dann nervös, mit denen spreche er nicht mehr und überhaupt sei das ganze ja schon vor langer Zeit gewesen, da habe er noch Blitzschach gespielt, und nein, das könne er heute nicht mehr, das sei nicht gut.
Er sah Stefans Blick nach, bis er erkannte, dass sein alter Freund nichts suchte: Dann versuchte er zu erklären, dass er die Frage nicht ganz ernst gemeint habe, aber Stefan schien ihn nicht zu verstehen. Schließlich fragte er stattdessen, ob Stefan hier häufiger einkaufe; er antwortete nicht sofort, stattdessen wandte er sich zwei oder dreimal um, sah in verschiedene Richtungen, erschien dabei teils bestimmt, teils unbestimmt. Nein, er sei nur heute hier, sonst gehe er nur selten in einen großen Warenhandel (er sagte das ganz betont, als ob sich dahinter noch etwas anderes verberge als der Supermarkt, in dem sie gerade standen), er habe eigentlich ein bestimmtes Produkt gesucht, aber das sei hier nicht zu bekommen, nur deshalb sei er hier. Einige Sekunden herrschte Stille, Stefan trat nervös auf der Stelle, doch sein Studienkollege gab noch nicht auf. Ob er ihm, Stefan, vielleicht helfen könne, was suche er denn, fragte er, Stefan schien die Frage zu verstehen, und zum ersten Mal sah sein Jugendfreund so etwas wie eine affektive Reaktion in seiner Antwort, wenn auch zögernd und nervös, Ja, das sei nicht so einfach, ob er denn etwas davon verstehe, eigentlich sei es sehr kompliziert. Nach nochmaliger Nachfrage sah Stefan wieder auf das Regal mit den Waschmitteln, er suche Geschirrspülmittel, aber es dürfe keine Citronensäure und keine Phentamyne enthalten
Den Begriff Phentamyn kannte er nicht, obwohl er promovierter Chemiker war; er fragte danach, doch Stefans Antwort leuchtete ihm nicht. Dass seien Zusatzstoffe, erklärte Stefan, immer noch von einem Fuß auf den anderen springend, giftige Zusatzstoffe, das sei doch bekannt.
Einen Moment lang dachte er darüber nach, suchte in seinem Gedächtnis noch einmal nach Phentamynen. Stefan hatte damals – genau wie er –  Chemie studiert, und als sie sich aus den Augen verloren hatten, war Stefan mit seinem Studium fast fertig gewesen; er fragte noch einmal nach einer Stoffklasse, konkreten Stoffbezeichnungen; Stefan nannte keine. Das sei schwierig, erklärte er stattdessen und sein Studienfreund wusste nicht, ob Stefan selbst sprach oder ob er nur rezitierte, es sei schwierig, denn die so genannte Wissenschaft (diesen Terminus schien er oft zu verwenden, denn er verschluckte einige Silben) sei derartig unterwandert, dass es kaum Studien in Fachzeitungen dazu gebe, allerdings könne er sich selbst ja ein Bild machen, und dann nannte er einige Namen und Internetadressen. Danach schwieg Stefan wieder, blickte einen Moment auf ein Handgelenk, an dem keine Uhr war, schüttelte den Kopf und machte dabei den Eindruck, als würde er gerade etwas im Geiste überschlagen.
Sein Freund blickte ihn wieder an, sondierte das vertraute, unbekannte Gesicht, fand keine Abweichung der Details, doch irgendetwas war anders. War es wirklich Stefan?
Wie es denn dem Hund ging (wie hieß er doch gleich?), Baxter, dem Hund seiner Eltern, fragte er schließlich, und er wusste selbst nicht, ob er die Frage als eine Art der Kontrolle stellte oder ob es ihn interessierte: Er schien damit einen falschen Punkt getroffen zu haben, denn Stefan wurde noch nervöser, zitterte regelrecht, schien nach Worten zu suchen: Tot sei Baxter, das wisse er. Tot, tot, mausetot. Phentamyn, sagte er dann, Phentamyn, und nickte dabei, als müsse er sich dessen bestätigen. Mit seinen Eltern spreche er seitdem nicht mehr, fügte er dann noch hinzu.
Er folgte dem Impuls, nach den genauen Umständen und Gründen zu fragen, aber Stefan schien nicht antworten zu wollen und blieb nebulös: So sei es manchmal, sagte er, die einen so, die anderen so, aber irgendwann…
Dann sprach Stefan nicht weiter, als ob ihm das offene Ende seines Satzes nicht aufgefallen sei.
Noch einmal blickte er auf sein Handgelenk, an dem sich keine Uhr befand: Er müsse jetzt auch weiter, es gebe viel zu tun, sagte er. Sein Schulfreund wollte noch nach einer Telefonnummer fragen, oder nach einer E-Mailadresse, aber da war Stefan schon zwischen den Regalen verschwunden.

Was geschah

An der Kasse traf er ihn wieder; zwei Polizisten in Uniform standen bei ihm und schienen sich mit ihm zu unterhalten. Er verfolgte die Szene, zahlte und ging hinaus. Er wollte zunächst zu ihm gehen, doch dann entschied er sich dagegen und blieb einige Meter hinter der Gruppe stehen, so dass er noch verstehen konnte, worüber sie sprachen.
Offenbar warfen sie Stefan vor, etwas gestohlen zu haben, und tatsächlich konnte er aus den Augenwinkeln sehen, dass einer der Polizisten einen Gegenstand aus seinem Rucksack zog, der nach einer Plastikflasche aussah. Stefan schien den Diebstahl auch nicht zu leugnen; er bestritt nicht, dass er den Weichspüler nicht bezahlt hatte. Doch dann schien er es sich anders zu überlegen und sagte immer wieder, er habe es tun müssen, er sei dazu gezwungen gewesen. Einer der Beamten, eine Polizistin, schien ihn schon zu kennen und erklärte ihrem Kollegen, dass es „schon mehrmals so gelaufen sei“. Stefan blieb zunächst stumm, als die Polizistin jedoch wiederholt von ähnlichen Diebstählen sprach, schien ihn das wütend zu machen, er wurde laut, das sei doch kein Diebstahl, ja, er hätte die Flaschen mitgenommen, aber dass sei doch kein Diebstahl. Die Polizistin unterbrach ihn, deutete ihm leiser zu sprechen und fragen, ob es nicht Diebstahl sei, wenn man Dinge nehme, die einem nicht gehörten, und das habe er ja bereits zugegeben. Einen Moment lang schien Stefan darüber nachzudenken, aber offenbar verstand er die Frage nicht oder wollte sie nicht verstehen. Nein, die Flasche habe er nicht mitgenommen, er habe sie zwar eingesteckt, aber bezahlt, sagte er schließlich und schien gehen zu wollen. Der andere Polizist hielt ihn am Ärmel, Stefan suchte sich loszureißen und schrie: Schließlich brüllte der Polizist, nun sei es aber genug und griff nach ihm. Sie drehten Stefan den Arm auf den Rücken und schoben ihn vor sich her; Stefan hatte nicht gesehen, dass sein Studienfreund die ganze Szene beobachtet hatte, und als der sich schließlich umdrehte, sah er ihn leise wimmern, von den beiden Polizisten geführt; der Ausdruck in seinem Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass Stefan nicht genau wusste, warum dies mit ihm geschah. Er sah ihm nach, bis der Streifenwagen das vertraute, unbekannte Gesicht verschluckte.

Einige Stunden später saß er tief über den Bildschirm gebeugt an seinem Schreibtisch. Der Gedanke war eigentlich lächerlich; er hatte damals viel Zeit mit Stefan verbracht, fast 14 Jahre lang (er hatte es ausgerechnet), ihn aber nach dem Studium aus den Augen verloren (das war jetzt 5 Jahre her, auch das hatte er herausgefunden). Für eine lange Zeit hatte er nicht einmal mehr an ihn gedacht, doch jetzt beschäftigte ihn dieser frühere Freund wieder. Er wusste nicht einmal, wonach genau er das Internet durchsuchte, weil ihm die Frage nicht klar war, die er zu beantworten suchte.
Einige Einträge, die noch aus Studienzeiten stammten, fand er schnell; er hatte die Adressen in seinen Unterlagen gelesen. So etwa ein Klausurergebnis von 2010:

Anorganik II: Stefan Anders: Bestanden: Note 1,7

Er hatte sich nicht geirrt, Stefan hatte Chemie studiert, genau wie er; und er war kein schlechter Student gewesen. Nach einiger Suche fand er auch einen Hinweis auf Stefans Abschlussarbeit. Zwar fand er die Arbeit selbst nicht, aber eine Mitteilung über hervorragende Ergebnisse im Studium. Stefans Name tauchte auch dort auf.
Nachdem er einige Stunden gesucht hatte, nahm er ein Blatt Papier und zeichnete darauf eine senkrechte Linie; einen Zeitpfeil. Oben schrieb er 2012 hin (er wusste nicht mehr genau, wann genau der Kontakt abgebrochen war; es war jedenfalls 2012 gewesen), ganz nach unten den 18.12.2017, den Tag, an dem er ihn wieder getroffen hatte. Nach und nach schrieb er mehr Daten dazwischen;

2013 – Abschlussarbeit.
2014 – Arbeitsstelle am Institut für anorganische Chemie in Dresden angetreten
7.12.2014 – Foto vom Betriebsausflugs des Instituts
13.12.2014 – Newsgroup-Eintrag zur Planung der Weihnachtsfeier
Januar 2015 – Betreuung von vier Lehrveranstaltungen (Anorganik I/II + zwei Seminare)
Mitte 2015 – Gruppenfoto von einer Konferenz in Berkeley

Einige Stunden suchte er weiter; er fand nichts mehr. Er konnte nicht herausfinden, wann er seinen Job in Dresden aufgegeben hatte. Auf der Webseite der Universität war er nicht mehr aufgeführt, es war nicht auszumachen, seit wann. Nach 2015 verlor sich schlicht seine Spur. Er erwog, diese seltsame Suche aufzugeben, und machte sich etwas zu essen. Dann sah er etwas fern, ohne sich dabei entspannen zu können. Schließlich setzte er sich wieder an den Computer, überlegte einen Augenblick, tippte eine andere Suchanfrage. Und fand eine E-Mailadresse; über die Adresse fand er nach einigen Minuten einen Nickname, über den Nickname eine weitere Mailadresse und damit schließlich einige Einträge in einem Forum.

1.5.2016 – erster Eintrag auf forum.phentamyn-luege.org

Bei genauerer Suche fand er viele Einträge in diesem Forum, die von Stefan stammen mussten. Es waren über Hundert, die meisten enthielten längere Texte, doch er las sie alle.
Er hatte schon direkt nach seiner Rückkehr aus dem Supermarkt festgestellt, dass so genannte Phentamyne Gegenstand einiger pseudowissenschaftlicher Theorien waren, die vor allem im Internet grassierten. Die Antwort auf die Frage, worum es sich dabei genau handelte, wurde je nach Theorie unterschiedlich beantwortet; soweit er es übersehen konnte, fielen für einige eine Reihe von willkürlich gewählten Säuren darunte, so etwa Citronen- oder Phosphorsäure, andere schienen eine unbestimmte Gruppe von Tensiden, also Seifenlaugen, darunter zu zählen. Wieder andere verstanden unter Phentamynen „nanoverstärkte Partikelchips“, ohne dass er hätte sagen können, was das nun genau bedeutete; auch der Zweck oder Effekt dieser Phentamyne schien strittig zu sein, einige Theorien schienen an so genannte Gedankenkontrolleprojekte der CIA anzuknüpfen, andere sahen schlicht eine über alle Maßen gesundheitsschädlichen Effekt, der von der Industrie geleugnet wurde, da die Phentamyne bei maschinellen Herstellungsprozessen unweigerlich in die Produkte gelangten und eine Entfernung zu aufwendig wäre. Alles in allem waren Phentamyne die ausgemachten Hirngespinste, um die sich Verschwörungstheorien stets drehten, und es gab für ihn keinen Zweifel daran, dass es keine derartigen Partikel gab. Die Quellen, die Stefan ihm genannt hatte, stammten allesamt von Verschwörungstheoretikern ohne jeden akademischen Abschluss und ohne nachvollziehbare Expertise; empirische Beweise fand es nicht.
Dennoch las er die Einträge, die Stefan offenbar verfasst hatte; die meisten waren wirr und voller Fachbegriffe, die teils der chemische Fachsprache, teils der Fantasie entlehnt waren. Es verwunderte ihn, dass aucb die chemischen, die Stefan doch beherrschen musste, in vollkommen falschen, wenn nicht gar absurden Zusammenhängen auftauchten. So sprach Stefan mehrfach von der „Orbitalstruktur der Herstellungsprozesse“ oder schien chemische Bindungen ganz analog zu mechanischen zu behandeln; genausogut hätte er auch behaupten können, dass Liebenswürdigkeit grün sei.
Die Erklärung lag auf der Hand; sein früherer Freund Stefan musste verrückt geworden sein. So etwas geschah, das wusste er. Manche Menschen verbissen sich so sehr in solch wirre Ideen, dass sie den Realitätsbezug verloren.
Seine Suche war damit vorüber, erkannte er. Zumindest hätte sie vorüber sein können; dennoch las er weiter. Etwas schien ihm unbefriedigend an dieser Erklärung, und nach einer Weile begriff er auch, was es war; nicht nur, dass er ein Vokabular falsch verwendete, welches er eigentlich im Schlaf beherrschen musste, es waren auch seine Ausführungen selbst, die inkonsistent blieben. Verschwörungstheorien hießen Verschwörungstheorien, weil sie eben Theorien waren; und als solche waren sie zwar meist völlig falsch und widerlegt, um nicht zu sagen, hirnrissig, aber wenigstens in sich konsistent. Sie enthielten – wenigstens in sich – keine allzu offensichtlichen Widersprüche. Und das galt nicht für Stefans Einträge. Er behauptete, Zitronensäure sei ein Phentamyn, und zwei Sätze dahinter sagte er das Gegenteil. Im einen Moment versuchte er zu beweisen, dass der CIA hinter den Phentamynen steckte, im nächsten verteidigte eine andere These. Je mehr er las, desto klarer wurde ihm, dass auch anderen Nutzern des Forums aufgefallen war, dass Stefan sich ständig widersprach. In Diskussionen las er, wie Stefan diese Kritik offenbar nicht verstand; Nichts von dem, was andere Nutzer schrieben, schien ihn zu erreichen. Es war nicht so, dass er anderer Meinung war, oder die Belege anderer nicht akzeptierte; er verstand sie, so schien es, schlicht nicht. Schließlich schienen sie es aufzugeben, ebenso wie Stefan.

2.7.2017 – letzter Eintrag auf forum.phentamyn-luege.org.

Er nutzte einige gefundene Daten, um weiter auf Stefans Spuren zu reisen; schließlich fand er in Video aus dem September. Offenbar hatte er eine öffentliche Vorlesung gestört, dabei Unverständliches gebrüllt, das sich mutmaßlich auf Phentamyne bezog. Das Video war offenbar mit einem Mobiltelefon aufgenommen worden. Man sah, wie Stefan schließlich von zwei Ordnern hinausgetragen wurde. An einer Stelle konnte er Stefans Gesicht erkennen; er war es ohne Zweifel. Er kopierte das Bild, druckte es aus und legte es neben ein altes, auf dem er zusammen mit Stefan zu sehen war. Ja, er war es. Das war der Mann, mit dem er früher Blitzschach gespielt hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie berüchtigt die Diskussionen in der Runde damals gewesen waren; er hatte Stefan immer bewundert, war manchmal neidisch gewesen. Stefan hatte über eine äußerst schnelle Auffassungsgabe verfügt und war dazu noch ein außerordentlich guter Rhetoriker gewesen, was für einen Naturwissenschaftler schon ungewöhnlich war. Doch darüber hinaus hatte er sich für so gut wie alles interessiert und war immer „auf dem neuesten Stand“ gewesen, wie er es selbst gern ausgedrückt hatte.
Er verwendete mehrere Stunden darauf, immer wieder die beiden Bilder zu vergleichen; das aus der Studienzeit und das aus dem Internet. Es waren die gleichen Gesichtszüge, er war es, ohne jeden Zweifel; aber wie konnte das sein? Selbst den größtenteils selbst wohl hochgradig verwirrten oder wenigstens paranoiden Benutzern des Forums war aufgefallen, wie widersprüchlich seine Auslassungen waren: Sie hatten ihn ausgeschlossen aus ihrer Gemeinschaft. Was war geschehen?
Er suchte weiter nach Spuren, die Stefan im Internet hinterlassen hatte. Auf einigen anderen Verschwörungsplattformen fand er Einträge, die er ihm zugeordnet hätte, aber sicher sein konnte er sich darüber nicht mehr; es waren immer unterschiedliche E-Mailadressen, immer andere Benutzernamen, und selten mehr als zwei oder drei Beiträge, die in sich so wirr und widersprüchlich waren, dass eine sichere Zuordnung unmöglich wurde. Einer der Beiträge fiel ihm auf; Stefan klagte darin (wenn er es denn geschrieben hatte) die Nutzer des Forums selbst an, Teil einer Verschwörung zu sein. Der Beitrag war recht lang, und nach wenigen Zeilen verlor er sich wieder in Widersprüchen, offenen Halbsätzen; der Schluss war bezeichnend: „ich allein gegen euch und ich allein allein und“. Der Satz endete nicht.

Nachdem er einige Stunden lang nichts mehr fand, beendete er seine Suche, kochte sich einen Kaffee und trank ihn, während er weiter die Bilder betrachtete.

Immer noch schien es ihm nicht zu genügen, dachte er: möglich, dass eine psychische Krankheit für seine Veränderung verantwortlich war. Aber wie war es dazu gekommen? Menschen veränderten sich nicht von einem Tag auf den anderen in dieser Weise, und auch verrückt wurde man nicht in einem Augenblick. Schließlich begriff er, was ihn störte; Es war schlicht keine Erklärung für sein Verhalten, wenn er nur sagen konnte, Stefan sei verrückt. Es ließ die Frage nach dem Warum weiter offen, und es gab nicht den Hauch eines Hinweises darauf, wie sich Stefan konkret verhalten würde. Wenn man jemand nur wüsste, dass Stefan verrückt war, aber nichts weiter, dann wüsste er deshalb nicht das geringste darüber, wie Stefan sich gab, was er sagte und wann (oder warum). Aber welche Erklärung gab es dann? Die Frage war, warum er verrückt geworden war. Als er darüber nachdachte, fiel ihm sofort die Möglichkeit eines Unfalls ein. Es gab Linien auf dem Gesicht Stefans in dem Video: Er hatte sie bisher für Artefakte des Kompressionsverfahrens gehalten, aber als er länger darüber nachdachte, wurde ihm bewusst, wie seltsam verändert ihm Stefans Gesicht vorgekommen war. War es nur seine Mimik gewesen, der Ausdruck darin, oder waren es möglicherweise Deformationen, die man nach einem schweren Unfall zuschreiben konnte? Als er den Gedanken einmal gefasst hatte, ließ es ihn nicht mehr los. Schließlich setzte er sich wieder an den Computer und begann gezielt, nach den Benutzernamen und E-Mailadressen zu suchen, die er bereits gefunden hatte: Diesmal jedoch fügte er der Suche einige andere Begriffe hinzu: Eine halbe Stunde war es „Unfall“, dann „Trauma“: Schließlich suchte er auch noch einige andere Begriffe und verknüpfte sie auf komplizierte Weise.

Schließlich fand er etwas, dass seine Aufmerksamkeit weckte: Den Newsgroup-Eintrag eines Arztes der Universitätsklinik Dresden.

12. September 2015 – Artikel „Concerning Case Study Stefan A.“

Viele Details des vier Seiten langen, englischen Artikels blieben ihm unverständlich, obwohl er einige Dutzend medizinische Fachwörter heraussuchte und auf ein Blatt Papier schrieb: Im Wesentlichen schien es aber um einen Unfallpatienten zu gehen, den der Arzt betreut hatte: Die Fallstudie beschrieb sehr genau, welchen Verlauf psychische und physische Folgen eines nicht näher beschriebenen Unfalls nahmen. Von einer „cranial fracture“, also einem Schädelbruch war die Rede, auch von einem Hirntrauma. Weiterhin beschrieb der Artikel psychotische und zwanghafte Phasen des Patienten, über dessen Identität natürlich keine weiteren Informationen angegeben waren, von „Stefan A.“ und seinem Alter abgesehen: es passte zu Stefan Anders.

Einige Minuten zögerte er, dann schrieb er die Mailadresse des Arztes ab und verfasste eine kurze Nachricht an ihn: Der Kaffee war inzwischen kalt geworden. Er versendete die Mail noch nicht, ging in die Küche und setzte neuen auf. Während er vor der Maschine stand, dachte er darüber nach, was für ein Unfall es gewesen sein könnte: Vielleicht war er mit dem Auto von der Straße abgekommen; vielleicht war er mit dem Fahrrad gestürzt. Es könnte auch eine Ziegel gewesen sein, die sich nach einem Sturm vom Dach gelöst hatte: er konnte es nicht wissen. Noch nicht. Wenn der Arzt ihm antworten würde – und das war durchaus denkbar, wenn auch unwahrscheinlich – dann hätte er die Antwort. Dann würde er verstehen.

Kaum hatte er das gedacht, stutzte er. Was genau würde er dann verstehen? Wie er verletzt worden war? Sicher. Aber würde er auch wissen, wie aus dem alten Stefan der neue geworden war? Er überließ die Kaffeemaschine ihrer Arbeit, setzte sich wieder vor den Bildschirm und las die Nachricht, die er verfasst hatte: „Ich möchte verstehen, was geschehen ist.“, mit diesen Worten hatte er seine Bitte abgeschlossen. Er dachte über die Worte und über seine Frage nach, bis die Kaffeemaschine nur noch leise zischte. Die Frage war ganz richtig formuliert, aber weder sie noch die Antwort würde ihm helfen können: Denn es ging nicht darum, was mit dem Auto, dem Fahrrad oder der Ziegel geschehen war oder mit Stefans Kopf. Es ging um das, was mit Stefan geschehen war, und dafür gab es keine Erklärung. Er schob die Mail in den Papierkorb.

Es war völlig egal, welchen Titel, welche Bezeichnung er für Stefans Veränderung verteilte. Was hieß „verrückt geworden“ anderes, als dass er heute anders war als früher? Das war keine Erklärung, nur eine Beschreibung des Offensichtlichen. Die Frage danach, warum er denn verrückt geworden war, half nicht weiter, denn ebenso verhielt es sich mit den Antworten auf diese Frage: Vielleicht war es ein Unfall gewesen; auch das war nur eine Beschreibung. Ein Unfall ist ein Ereignis, nach dem Dinge anders sind als zuvor, oder es zumindest sein können. Ob der Arzt ihm nun die Wahrheit sagen würde; ob Stefan sein Patient gewesen war; ob er verrückt oder invalide war; es würde nichts ändern. Die Erklärung blieb leer, weil es keine geben konnte. Niemand kannte den Mechanismus, der den alten Stefan zu Stefan gemacht hatte, und würde jemand ihn kennen, so würde er wieder nur eine Beschreibung davon geben können, dass der alte Stefan nicht mehr existierte, während es einen anderen Menschen gleichen Namens gab. Wenn der Arzt ihm Unterlagen schicken würde, Krankenakten, in denen dann stehen könnte, dass Stefans Kopf an dieser oder jenen Stelle und hier oder da verletzt wurde, so könnte er das alles lesen und würde doch nicht mehr wissen zuvor. „Der Stein traf Stefan A. zwei Zentimeter oberhalb der rechten Schläfe. Eine Spitze drang dabei 0,7 Zentimeter tief ein und verursachte ein Hämatom mit einem Durchmesser von genau drei Zentimetern, nur zweieinhalb Millimeter entfernt vom Zentrum des […]“. So würde es vielleicht klingen; aber was würde das bedeuten? Nichts, wenigstens nicht mehr als das, was er auch ohne den Bericht sehen konnte: Stefan war anders geworden. Den Stefan aus seiner Vergangenheit gab es nicht mehr. Übrig war seine Hülle, gefüllt mit einem anderen.

Wie wir Feinde wurden

Diesen Artikel drucken 16. Februar 2009

Wir kannten uns schon lange, hatten viel miteinander erlebt, und deshalb betrübte es mich sehr, als ich es erkannte. Es begann wie jede große Veränderung mit einem einzigen Wort, oder auch einem Satz. Wir waren auch früher manchmal unterschiedlicher Meinung gewesen, so ist das nun mal, wenn man sich lange kennt.
So war es auch, als es begann: Ich schenkte dieser Meinungsverschiedenheit keine große Bedeutung, erklärte mich und meine Gedanken, ließ es dabei bewenden. Dabei hätte es mir klar sein müssen, als ich sah, wie er sich kurz von mir abwandte, bevor er das Thema wechselte. Ich glaube, der Riss war schon in diesem Moment da; er konnte mich nicht ansehen, er konnte es einfach nicht ertragen, in das Gesicht zu blicken, das ihm widersprochen hatte. Das verstand ich nicht sofort, erst später habe ich mich daran erinnert. Damals habe ich es nur verwundert registriert; ich bemerkte auch, wie er immer stiller wurde, aber konnte mir darauf ebenfalls keinen Reim machen. Doch schließlich schwieg er mich immer an: wenn ich fragte, was denn sei, reagierte er störrisch und sah an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Er antwortete nur, er sei müde oder krank oder betrunken. Einige Zeit später fiel mir auf, wie sehr sich unsere Freunde veränderten, was ihr Verhalten mir gegenüber anging. Immer hatte ich das Gefühl, sie wüssten etwas, das mir entgangen war. So, als ob jemand ihnen peinliche oder geheime Dinge über mich erzählt hätte, Dinge, die ich niemandem erzählen würde – von ihm einmal abgesehen. Es dauerte noch eine Weile, bis der Verdacht in mir wirklich keimte, schließlich hatte er schon so viel für mich getan, ohne Dank zu verlangen. Nicht ohne Grund hatte ich diese Dinge nur ihm erzählt.
Als ich jedoch endlich seine Veränderung, sein zurückgezogenes und grantiges Auftreten mir gegenüber dazu nahm, war der Argwohn in mir geweckt. Also stellte ich ihn zur Rede; ich fragte ihn, ob er wüsste, was mit unseren Freunden sei, warum sie mich so seltsam behandelten. Er schüttelte nur den Kopf und sah wieder an mir vorbei. Ich glaubte ihm nicht und fragte ihn noch einmal. Er knurrte; wirklich, er knurrte wie ein Hund. Ich verlangte von ihm, mir Antwort zu geben, mit mir zu sprechen, wenigstens das sei er mir schuldig, doch er gab mir keine. Nur sein Knurren wurde lauter. Ich konnte sehen, wie er die Augen verdrehte. Einen Schritt ging ich auf ihn zu, rief ihn an, er solle sich  bekennen. Er knurrte nur weiter, ich sah, wie seine krallenartigen Finger sich verkrampfen, er fletschte die Zähne wie ein Tier: so hatte ich ihn nie zuvor erlebt. Und immer noch starrte er an mir vorbei. Schließlich konnte ich nicht anders: Meine Hände fanden seinen Kopf, und einen Moment lang rangen wir miteinander. Dann ergab er sich, wie er sich meiner Gewalt bisher immer ergeben hatte, und ließ mich seinen Kopf drehen, so dass er mir in die Augen sehen musste. In seinem Ausdruck sah ich die seltsamste Empfindung, die ich mir denken kann, und ich weiß nicht, ob ich jemals richtig beschreiben werde. Es war Wut, aber nicht seine. Es war ein Gefühl, das eigentlich ich haben sollte. Doch nicht so, als ob mir dieses Gefühl fehlen würde; ganz im Gegenteil, der Wut fehlte ihr Träger, und so war sie auf ihn übergegangen, quälte ihn, machte ihn fast tollwütig vor Schmerz. Ich war erschrocken, mitleidig. Er hatte mir so lange Zeit so gut gedient, und jetzt war etwas geschehen, etwas, das wir beide nicht verstanden. Das dachte ich, als ich seinen Blick sah. Es dauerte nur Sekunden, nur einen Moment gestattete er mir, einen letzten Blick auf seine Augen zu werfen, dann riss er sich los und biss mir in der Hand; das hatte er noch nie getan. Jaulend lief er davon, während ich mir die schmerzende Hand hielt.
Seitdem habe ich nicht mehr ihm gesprochen. Er hält sich irgendwo im Verborgenen auf, ich weiß nicht, wo: er war immer gut darin, sich zu verstecken. Ich weiß bis heute nicht, warum es geschah, und allein die Frage danach, was überhaupt geschehen war, ließ mich lange grübeln.

Erst, als ich ihn einmal lange im Spiegel betrachtete, ihn wieder und wieder sah, begriff ich es wirklich. Wir waren Feinde geworden. Wir würden immer Feinde sein.

Paladin

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2009

PaladinSein Mut kennt kaum Grenzen; sein Einsatz ist unbegrenzt. Nur irdische Fesseln, nur der Tod seines Körpers kann ihn aufhalten. Sein Willen, seine Seele gehört einzig und allein der einen, der guten Sache. Er ist taub für Bestechung, Leid nimmt er stoisch hin. Er erträgt alles; er fühlt keinen Schmerz.
Wo immer es auch in seinem Einflussbereich ein Unrecht gibt, wirft er seine Kraft in die Waagschale und befördert das Gute, das Gerechte, das Unschuldige. Geachtet wird er von denen, die Recht tun und unter seinem Schutz stehen. Gefürchtet ist er unter denen, die in den Schatten kauern, deren Köpfe voller Hass und böser Absichten sind. Er steht allein; er fühlt keine Angst.
Irgendwo, vielleicht am anderen Ende der Welt, vielleicht nur einen Blick entfernt, gibt es noch andere wie ihn, das weiß er. Nicht alle kämpfen auf diesem, seinem Schlachtfeld; einige sind vielleicht Soldaten, andere Buchhalter, sie gleichen sich dennoch. Die Berufe mögen unterschiedliche sein, die Oberflächen, aber im Kern sind sie gleich. Und dennoch, eines Tages wird er fallen, und er wird allein sein; er fühlt keinen Gram.
Selbst, wenn er scheitern sollte, wenn sein Körper schließlich nachgeben wird, fürchtet er nicht um seine Mission: andere werden kommen und seinen Platz einnehmen.
Der Paladin unterwirft sich mit all seinen Eigenarten und Fähigkeiten dem einen Prinzip, das Gute zu verteidigen, unwiderruflich und absolut. Der Paladin ist blind für seine Schmerzen, für seine eigenen Bedürfnisse und selbstlos in jeder Konsequenz. Der Paladin ist mitleidlos und rücksichtslos, wenn er gegen das Böse kämpft, selbst wenn er töten muss. Der Paladin fühlt sich als Teil einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft aus vielen, die einen bilden; Der Paladin ist Faschist.

Das Tagebuch – Insekt (3)

Diesen Artikel drucken 8. Dezember 2007

Dritter Eintrag:

Mein letzter Bericht ist noch nicht lange her, zumindest in meinem Empfinden; ich habe es aufgegeben, an diesem Ort ein echtes Maß für Zeit zu suchen .
Ich habe schon vieles gesehen in dieser Wohnung und sehe ständig mehr. Im Moment lese ich – d.h. liest das Wesen, das ich für mein Alter Ego halte – ein Buch, einige Meter entfernt. Er sitzt ganz ruhig da und liest, obwohl ich keine Buchstaben auf den Seiten sehe, nicht einmal einen Titel. Es ist ein dickes, großformatiges Buch, vielleicht ein Lehrbuch. Ich denke, ich habe studiert; sicher bin ich mir nicht, aber ich vermute es. Ich schätze mein Alter auf 20 bis 30; wenn ich mir die Einrichtung der Wohnung dazu ansehe, bin ich wahrscheinlich wirklich Student.
Natürlich sehe ich mir nicht stundenlang beim Lesen zu. Noch vor kurzem fand eine Geburtstagsfeier statt; einer der Gäste hätte sich beinahe auf mich gesetzt, hockte sich dann jedoch wortlos auf den Boden neben der Couch; auch hier bemerkt mich niemand, es ist so, als wäre ich nicht da. Und doch ist es hier anders als in dem Kinderzimmer. Es ist so, als befände sich die Wohnung und die Menschen in ihr in einer Art Fluss – ja, alles fließt. Es gibt eine gewisse Unschärfe in allem, was ich sehe, als wäre da ein durchscheinender Vorhang vor meinen Augen. Die einzelnen Szenen besitzen zwar einen Ort, einen ausgedehnten Moment, aber darüber hinaus ist nichts fest. Alles bewegt sich. Nein, das trifft es wohl nicht ganz; ich denke, mir wird etwas Bestimmtes gezeigt, ohne dass ich erkennen könnte, was es ist. Vielleicht ist es natürlich auch nur Zufall – aber nein, das glaube ich nicht. Manchmal haben die Ereignisse einen speziellen Ablauf, eine bestimmte… Art. Es ist schwer zu erklären; es ist ein wenig so, als kämen die Dinge, die hier geschehen, von einem uralten Band. Manchmal stockt es, bleibt kurz stehen, als wolle es etwas verdeutlichen; manchmal läuft es sogar einige Sekunden vor und zurück. Andere Szenen dagegen erscheinen mir gestaucht, als würde das Band sich schneller abwickeln, so wie die Geburtstagsfeier, die plötzlich schon wieder vorbei war.

Ich weiß nicht, wann es begann – ich saß eine Weile dort, auf dem Sofa. Ich berichtete schon davon, oder? Ja, ich sehe es, davon habe ich schon geschrieben. Irgendwann hörte ich ein Türschloss leise klicken, dann ein weiteres. Ich wartete – doch es kam niemand. Vielleicht wäre auch nie jemand gekommen, hätte ich einfach nur weiter auf der Couch gesessen, wer weiß das schon; ich jedenfalls stand auf und untersuchte die Türen erneut.
Die Tür zum Bad öffnete sich mühelos. Ich bin mir sicher, sie war zuvor verschlossen gewesen, doch jetzt konnte ich eintreten. Wasserdampf schlug mir entgegen, und das Rauschen von Wasser. Jemand duschte, verborgen durch den Vorhang. Einen Moment lang, das kannst du dir sicherlich denken, zögerte ich. Dies ist sicher wieder ein Spiel – natürlich. Aber dennoch, man beobachtet niemanden beim Duschen, oder? Selbst, wenn er nur eine… ich weiß kein Wort dafür.
Nichtsdestotrotz musste ich, wollte ich erfahren, wer dort in meinem Badezimmer duscht; zumindest lag die Annahme nah, dass es meine Wohnung war. Einige der Poster im Wohnzimmer kommen mir vage bekannt vor, und außerdem habe ich unter der Couch ein Pappschachtel mit ein paar meiner alten Muscheln gefunden. Sie waren nicht so schön poliert wie die gekaufte auf dem Tisch, aber einige von ihnen sind zweifelsohne die selben wie jene aus der Kiste, die ich hierher mitnahm; seltsam, was nur fand ich so besonders an diesen Skeletten.
Wie auch immer, ich schob also den Duschvorhang zurück. Dahinter war – eine Frau. Sie bemerkte mich nicht, aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.
Vielleicht wirst du nicht verstehen, warum ich da blieb und sie beobachtete – unter normalen Umständen wäre es sicherlich absolut verwerflich, aber gewöhnlich sind die Umstände nun sicher nicht. Und so blieb ich; ich kann dir nicht sagen, wie lange. Das ganze dauerte vielleicht zwanzig Minuten, vielleicht vierzig, vielleicht sogar eine Stunde. Ich sagte schon – hier scheint alles im Fluss zu sein.
Die Frau war sicher hübsch, das kann ich sagen. Ich schätze sie auf Mitte 20, höchstens. Ihre Haut war noch makellos, und auch in ihrem Gesicht zeigten sich keine Falten. Ihre Haare waren schwarz, ganz schwarz, ihre Augen braun. Sie hatte eine wunderbare Figur, auch wenn die ganze Szene kaum etwas Sexuelles besaß – versteh mich nicht falsch, sie war attraktiv und nackt, aber eben auch so… weit entfernt. Ich hatte dieses Gefühl schon oft; dass alles so weit entfernt ist. Was ich sehe, das macht eine lange Reise bis zu meinen Augen, und auf dem Weg wird das Licht alt. Ich will nicht behaupten, diese Frau hätte mich nicht angesprochen – das würdest du vermutlich ohnehin nicht glauben. Aber es war etwas Gedämpftes, Leichtes. Etwas Vergangenes vielleicht.
Nun, ich habe sie nicht erkannt. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor; auch ihr Körper. Etwas äußerst Vertrautes war an ihr, ich konnte es fast greifen, aber – ich erkannte sie nicht. Da war auch keine Emotion, kein Gefühl, nichts. Inzwischen weiß ich, dass ich mit ihr zusammen gewesen sein muss, eine lange Zeit sogar, und das stimmt mich traurig. Sollte ich mich nicht daran erinnern? Ein wenig zumindest. Es hätte mehr bleiben müssen als diese zerstreute körperliche Vertrautheit, oder?
Ich blieb also dort neben dem zurückgezogenen Vorhang stehen. Eine ganze Zeit lang musterte ich sie nur, musterte sie ganz, um doch einen Menschen zu finden, den ich erkennen könnte, aber ich fand niemanden, nur diese halbfremde Frau in meinem Bad. Eigentlich fand ich sogar weniger als eine Fremde; je länger ich hinsah, desto verwaschener wurden ihre Züge, desto fratzenhafter ihre Proportionen. Mein Blick war so starr, dass ihre Arme und Beine fast zu Streichhölzern wurden; ihre Brüste zerfielen in zerquetschte Kugeln. Ihre weiche glatte Haut verdarb, wurde zu einem bräunlichen Panzer, der matt glänzte.
Das machte mir keine Angst; vielleicht erkannte ich sie darin, in dieser Karikatur. Etwas ließ mich an ein Insekt denken dabei; ein ungelenkes, dummes Insekt, dass die Beinchen und die Ärmchen hebt und sich mal hier, mal dort schrubbt, als würde das etwas besser machen.
Ich weiß nicht, was mich zu diesem Gedanken trieb; aber am ehesten erkenne ich dieses Wesen in dem Insekt wieder, dass ich mir vorstellte. Irgendwann jedenfalls stellte sie das Wasser ab und stieg aus der Badewanne; ich ging hinaus und hörte die Tür hinter mir wieder zuschnappen; ich denke, ich hatte gesehen, was ich sehen sollte.
Danach habe ich sie noch oft gesehen, diese Kreatur, meist bekleidet. Ich denke, wir wohnten hier zusammen; ich habe sie mit mir frühstücken sehen, ich weiß nicht, wie oft. Ich sah mich mit ihr Fernsehen, auch wenn ich die Filme nicht wirklich verfolgen konnte. Einige Male fand ich eine Idee, einen Anflug von Vertrautheit in den verwaschenen Streifen auf dem Bildschirm, mehr nicht. Für mich blieb der Schirm blind. Ich sah mich mit ihr schlafen; ich kann nichts Falsches mehr daran erkennen, es zu beobachten, seit ich dieses Insektenbild im Kopf habe.
Ich sah auch viele andere Szenen, aber die meisten davon schienen sich zu überschneiden; selbst das Sonnenlicht vor den trüben Scheiben wechselt seltsam unregelmäßig mit der Dunkelheit, so dass ich beides manchmal nicht genau trennen kann. Ich sprach schon vom Fließen, oder? – Ja, das tat ich.
Gern würde ich dir genauer sagen, was ich noch beobachtete. Aber auch in mir bleiben die einzelnen Ereignisse seltsam verbunden. Es fällt mir schwer, einzelne herauszugreifen, ohne alle fallen zu lassen. Ich weiß etwa, es gab da einen Streit zwischen meinem Alter Ego und ihr, vielleicht auch mehrere; aber viel mehr kann ich nicht sagen. Überhaupt bleiben mir Dialoge hier ebenso verborgen wie das Bild auf dem Fernsehschirm; ich höre die Personen reden, wie eben auch die Menschen auf der Party vor kurzer Zeit, aber ich verstehe nicht einmal Silben. Es ist so, als würde ich an einer dicken Wand lauschen. In manchen Gesprächen meine ich, einen fernen Inhalt zu erkennen; aber er bleibt nebulös und kaum greifbar.
Es gibt nur eine Szene, von der ich dir noch berichten sollte, solange hier Ruhe herrscht; sie ist mir genau im Gedächtnis geblieben, wohl auch, weil sie so lange anhielt; ja, anhalten ist das richtige Wort.
An einem Abend (ich glaube, es war ein Abend) saß er hier genau wie er es jetzt auch tut. Dann jedoch hörte er wohl ein Geräusch, dass ich nicht genau einordnen konnte, und stand auf. Zunächst dachte ich, dies sie nur ein weiterer Übergang, ein weiterer Wechsel in der Zeit. Doch dann sah ich eine scharfe, rote Sonne durch die Fenster scheinen, und mir wurde klar, dass etwas wichtiges geschehen würde.
Er ging also aus dem Zimmer. Ich blieb sitzen und hörte nach einigen Sekunden das leise Plätschern von Wasser; ich hätte wieder einfach dort bleiben können, abwarten können. Doch so lange ich auch gewartet hätte, es wäre wohl nichts geschehen. Also stand ich auf, um ihm folgen; ich fand ihn im Bad, er stand dort und betrachtete sie, während sie duschte.
Ich weiß nicht warum, aber ich konnte sie nicht mehr ansehen. Zumindest nicht so, wie ich es tat, als ich sie zum ersten Mal beobachtete. Sah ich zu ihr hin, am Duschvorhang vorbei, dann sah ich augenblicklich wieder diese Kreatur, dieses große Insekt.
Er dagegen, soviel kann ich sagen, er starrte regelrecht. Sein Blick war so fixiert, dass ich einen Augenblick fürchtete, es würde wieder so enden wie beim letzten Mal. Für einen Moment glaubte ich, gleich wieder diesen seltsamen Satz zu hören und zu fallen.
Aber so war es nicht – er musterte sie einfach nur durch mich hindurch. Ich wagte es, mich zwischen die beiden zu stellen, um ihm in die Augen sehen zu können; in seinem Blick fand ich nichts besonderes. Er war klar und konzentriert, aber mehr nicht. Da war keine Emotion – wenn doch, dann konnte ich sie nicht erkennen.
Ich hatte einen seltsamen Gedanken, während ich dort so stand: Wenn ich so lange mit ihr zusammen gewesen war, warum war sein Blick dann so leer? Ich konnte keine Zärtlichkeit darin erkennen, nicht mal Begehren, nichts. Er musterte sie wirklich nur, vielleicht ganz so, wie ich es getan hatte, als ich hier ankam.
Ich dachte darüber nach, ich weiß nicht wie lange; ich hörte nur das Wasser rauschen, lange Zeit. Irgendwann griff er an mir vorbei und zog ganz den Vorhang ganz zu. Dann ging er wieder ins Wohnzimmer.
Ich bin mir nicht sicher, warum er überhaupt dorthin gegangen war. Ich glaube nicht, dass sie ihn bemerkt hat; ich verließ das Bad nach ihm und schloss die Tür ebenso leise wie er getan hatte. Ich weiß nicht, was er gedacht hat, als er ihr ins Bad folgte, auch nicht, was er dachte, als er dort so stand und starrte. Vielleicht hat er etwas Ähnliches


Ich denke, die Ruhe ist vorbei. Er ist gerade aufgestanden und hat den Raum verlassen. Jetzt höre ich laute Stimmen aus der Küche; ich sollte ihm folgen. Bis bald.