Der Markt

Diesen Artikel drucken 28. Oktober 2012

In deepest hollow of our minds
A system failure left behind

Ich schob meinen Kopf nach hinten, damit sich die Kopfhörer lösten

And their necks crane
As they turn to pray for rain

Die Stimme verblasste, die Geräusche der Bahn wurden deutlicher.

Die Gruppe von Menschen, auf die ich aufmerksam geworden war, bemerkte mich kaum. Es war ein seltsamer Haufen, drei Männer und drei Frauen, alle in Kleidung, die für diese Jahreszeit und wohl auch dieses Jahrhundert mehr als ungewöhnlich war. Die Männer trugen Anzüge, aber keine modernen: Alt sahen sie nicht aus, aber der Schnitt und die Details erinnerten an das alte England. An ihren Westen baumelte deutlich sichtbar eine silberne Kette, und mit einer gewissen Regelmäßigkeit blickte einer von ihnen auf eine der silbernen Taschenuhren, die daran hing. Die Frauen – oder besser Damen – waren in aufwendige, in einer U-Bahn offensichtlich sehr unpraktische Kleider gehüllt, die sie trotz ihrer Jugend schwerfällig und ein wenig lächerlich erschienen ließen. Sie trugen aufwendige Hüte, die Herren nicht minder kostbare und anachronistische Dandy-Melonen. Allen gemein war dabei eine authentische Selbstsicherheit, um nicht zu sagen, Arroganz. Als sie in der 42. Strasse zugestiegen waren, hatten sie einige andere Fahrgäste nur mit ihren Blicken von den Plätzen vertrieben. Auf diesen Plätzen saßen nun die Damen in einer anmaßend geringschätzigen Haltung, während die Herren standen. Ich konnte ihr Gespräch nicht hören, aber die Silben, die die Bahn nicht verschluckte, klangen ebenso gestelzt wie es das Auftreten der Gruppe vermuten ließ.

Die Bahn hatte schon zweimal gehalten, seit sie eingestiegen waren: Als die Bahn zum dritten Mal abbremste, reichte ein jeder Herr wie auf ein geheimes Kommando hin seiner Dame eine Hand, und jede der Damen quittierte diese antiquierte Ehrerbietung mit einem kalten Lächeln, dass weniger Dankbarkeit oder Freude auszudrücken schien als vielmehr die Anerkennung von Pflichterfüllung. Als der Zug hielt, stiegen sie aus, in einer wie abgesprochen wirkenden Reihenfolge, erst ein Herr, dann die Damen, dann die beiden anderen Herren. Ich schob die Kopfhörer in die Jackentasche: Ich hätte noch zwei Stationen fahren müssen, doch ich beschloss ihnen zu folgen.

Ich ging in einigem Abstand hinter ihnen, kam ihnen aber schließlich sehr viel näher, als ich beabsichtigt hatte, weil die Drehkreuze der U-Bahn für die Damen mit ihren viktorianischen Kleidern eine gewisse Herausforderung darstellten; sie meisterten sie, ohne ein einziges Mal diesen halb-spöttischen, überlegenen Ausdruck zu verlieren. Als wir schließlich an der Oberfläche ankamen, blieben sie plötzlich stehen, und ich ging, so langsam wie es mir möglich war, an ihnen vorbei; sie starrten auf eins der Hochhäuser, den BoA-Tower. „Die Rendite wird unaufhörlich steigen“, hörte ich einen der Herren sagen. Die Damen kicherten kurz vergnügt, als hätte er etwas beinahe Anstößiges gesagt, und das Kichern verwandelte sich in einen tadelnden Blick. Ich blieb an einem Zeitungsstand stehen, damit sie aufholen konnten. Während ich Kaugummi kaufte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie sie sich ihren Weg bannten. Die Bürgersteige waren voll, aber noch nicht überfüllt: Wenn man ab und zu einem Entgegenkommenden auswich, kam man zügig voran. Sie jedoch machten nicht die geringsten Anstalten, auf andere Fußgänger zu achten. Die Damen waren von zwei der Herren flankiert, der dritte ging einen Schritt oder zwei voran. Alle drei trugen wuchtige Spazierstöcke, die sie demonstrativ schwangen und hier und da einen Passanten zur Seite schoben oder ihn nur drohend erhoben, wenn ihnen jemand zu nahe kam. Niemand echauffierte sich; die Menschen senkten den Kopf und liefen auf die Straße, umgingen die Gruppe. Als sie mich passierten, schob mich einer der Herren barsch beiseite und bedachte mich eines Blicks. „Dort entlang!“, hörte ich einen der Herren sagen, und er wies auf ein Schild, das an einer Laterne angebracht war. „Straßenmarkt“ stand darauf, ein Pfeil wies die Richtung.

Ich folgte ihnen weitere zwei Blocks, bis sie abbogen; die Gebäude wurden hier rasch flacher, und hinter uns ragte der Tower weit sichtbar auf. In der Entfernung konnte ich den Fluss sehen. Ich blickte auf meine Taschenuhr: Es war noch Zeit.

Nur einige Hundert Meter weiter erkannte ich ihr Ziel; es war ein abgezäunter Parkplatz, auf dem der Markt stattfand, zwischen zwei Highway-Auffahrten. Hier und da war der Zaun aufgerissen, und nur noch einige schiefe Schilder wiesen darauf hin, dass der Boden zum Verkauf stand und dass man einstweilen sein Auto hier abstellen konnte, gegen eine für diese Gegend lächerliche Gebühr. Die Straße endete weit vor dem eigentlichen Gelände, und die Gruppe verlangsamte, weil die Damen Hilfe benötigten, um zwei oder drei große Pfützen zu überwinden, in denen das Wasser des letzten Regens stand. Das schien ihre Laune nicht zu trüben, im Gegenteil. Je näher sie dem verwahrlosten Grundstück kamen, desto gelöster schienen sie. Eine der Damen, augenscheinlich die jüngste, lachte mehrfach laut auf und klatschte in die Hände, bis eine der anderen sie offenbar auf die Gepflogenheiten ihres Standes hinwies. Sie beruhigte sich schnell, doch immer wieder kicherten die drei, und ein oder zweimal lachten auch die Männer ihr Ho-ho-ho, das wie aus einem schlechten Film zu kommen schien.

Als wir dem Gelände schließlich immer näher kamen, sah ich den ärmlichsten Markt, den ich mir vorstellen kann. Es schien mir mehr ein Flohmarkt denn ein Straßenmarkt zu sein: Es waren grob geschätzt vielleicht 100 winzige Stände, an Menschen Dinge verkauften, die andere wohl wegwerfen würden; uralte, abgewetzte Kleidung, altes Werkzeug. Halb geborstene Spiegel; An einem Stand verkaufte ein nervöser dicker Mann mit nur einem Arm verdrecktes Elektrowerkzeug direkt aus seinem Kofferraum. An einem anderen bot eine schäbig gekleidete Frau, die sowohl 20 als auch 50 hätte sein können, Waffeln an, deren Teig sie in einer alten, verkrusteten Schüssel vorhielt. Auf einem aus grober Pappe herausgerissenen Schild vor ihr prangte der Schriftzug ’50 Cent“. Zwei dürre Hunde, die ein trauriges Pärchen abgaben, dass nie so recht zusammengepasst hatte, schlichen geduckt zwischen den Ständen hin und her, bis sie hier oder da einen Tritt bekamen. Die Hunde wie auch der ganze Markt schienen nur eine Farbe zu haben: Grau. Alles war von einem dünnen, aber dominanten Schleier des Gräulichen bedeckt, selbst die fleckigen Bananen, die ein alter Mann in einem ranzigen Rollstuhl an seinem Stand verkaufte, waren grau. Grüne, gelbe, rote Pullover, allesamt wie aus der Altkleidersammlung – grau. Selbst die Menschen hinter den Ständen war auf so hoffnungslose Weise vergilbt, dass ich immer neugieriger wurde, was diese Gruppe von seltsam gekleideten Menschen hier suchte. Und es war nicht nur das Grau; über dem ganzen Ort hing etwas Hoffnungsloses. Kaum jemand bewegte sich zwischen den Ständen, niemand schien etwas zu kaufen. Allein eine Gruppe von verdreckten Kindern in Kleidung, für die jedes einzelne entweder schon zu groß oder noch nicht groß genug war, schlich umher und erwartete wohl, dass hier oder dort etwas abfallen könnte; davon abgesehen waren es nur Verkäufer, die gelangweilt die Auslage der Konkurrenz musterten, und danach wieder zu ihrem Stand zurückkehrten.
Die Viktorianer waren am Rand des Marktes stehen geblieben und schienen angeregt und deplatziert fröhlich darüber zu diskutieren, in welcher Richtung sie den Markt zuerst erkunden sollten. Ab und an wies einer in einer Richtung, dann ein anderer in eine andere: Schließlich zückten einer der Herren eine Münze und warf sie in die Luft. Die Kinder hatten die Neuankömmlinge inzwischen erspäht und hatten sich in einiger Distanz postiert. Ich konnte sehen, wie ihre Augen gierig der Münze folgten. Die Herren lachten vergnügt auf, als sie das Ergebnis ihres Münzwurfs begutachteten, und auch die Damen kicherten wieder. Achtlos warfen sie die Münze in Richtung der wartenden Kinder, die sich mit großes Geschrei darauf stürzten. Amüsiert setzte sich die Gruppe in Bewegung.

ich folgte ihnen in großem Abstand; von mir schienen die Kinder weniger Notiz zu nehmen, aber die Viktorianer behielten sie im Blick. Während wir links und rechts die ersten Stände passierten, warf ich einen weiteren Blick auf die Auslagen. Alte CDs mit kaputten Hüllen wurden angeboten: schlecht kopierte DVDs, billiges, immer blinkendes Spielzeug aus China zu horrenden Preisen. Die Verkäufer schienen alle vom Leben oder vom Schicksal gezeichnet. Einigen fehlten Gliedmaßen; andere saßen im Rollstuhl. Wieder andere wirkten auf den ersten Blick gesund, aber viel zu dünn oder viel zu dick für ihre Größe. Allen gemein war dieser Grauschleier und, prägnanter, der flehende Ausdruck in ihren Augen, den sie mir entgegen brachten. Ich bin mir sicher, dass dieser Markt für viele der einzige Weg war, den Lebensunterhalt zu verdienen, und auch das trug zu dem jämmerlichen Eindruck bei, den die ganze Szenerie bei mir verursachte.

Den Viktorianern schien das nichts auszumachen; sie lachten vergnügt über dieser oder jenes. An einem Stand mit Spielzeug blieben sie einen Moment stehen und schienen über die Waren oder über den Verkäufer, einen Jungen von vielleicht 17 Jahren zu lachen. Sie setzten ihren Weg fort, und ich konnte keine Regung im Gesicht des Jungen erkennen, bis auf das Flehen, dass ich bei allen sah. Ich dachte darüber nach, ihm etwas von seinen Grässlichkeiten abzukaufen, als die Gruppe vor mir noch lauter wurde: Sie hatten an einem Stand angehalten, hinter dem ein sehr alter Mann saß, ein Barrett auf dem Kopf. Vor ihm ausgebreitet lagen Abzeichen oder Medaillen militärischen Ursprungs, und er selbst trug einige an seiner vergilbten Uniform. Einer der Herren hatte einen der Orden genommen und der Jüngsten in der Gruppe angeheftet. Heftig lachten sie über den Scherz; Ohne den Veteranen auch nur eines Blickes zu würdigen, reichte ihm ein anderer Herr seine Taschenuhr, und der Handel schien damit besiegelt. Und auf eine seltsame Weise schien sich damit eine Verabredung zu schließen, die die Sechs hatten. Plötzlich teilte sich die Gruppe; die Damen gingen an einen Stand, die drei Männer an einen anderen. Einer der Herren tauschte seinen Schal gegen einen gelblichen Pullover; die Damen tauschten ihre Hüte gegen alte Turnschuhe, eine zerbrochene Haarnadel und einen kaputten Plattenspieler, dann ihre Schuhe gegen drei Hosen, und schließlich tauschten die Viktorianer in einer solchen Geschwindigkeit ihre festliche, schillernde Kleidung gegen Altkleider und Nippes, dass ich nicht mehr im einzelnen folgen konnte. Mehr noch, sie zogen ihre Erwerbungen auch direkt an, und hielten das ganze wohl für einen Scherz von gigantischem Ausmaß; jede Scham, jeder altbackene Anstand, den sie zuvor so deutlich präsentiert hatten, schien vergangen. Die Damen tauschten ihre Korsagen, selbst ihre Miederkleider; die Männer erwarben einen ganzen Karton voller beschädigter Elektronik im Tausch für ihre Spazierstöcke. In nur wenigen Minuten war die Gruppe der Viktorianer verschwunden, und ich hatte Mühe, sie noch von den Verkäufern und ihrem Elend zu unterscheiden. Die Damen trugen hässliche Oberteile über Hosen, die ihnen viel zu weit waren; eine hatte sich einen ehemals grell-grünen Minirock über die Hose gestreift. Die Männer sahen nicht minder ärmlich aus. Zwei von ihnen zogen zwei große, dreckige Kartons hinter sich her; die feinen Hemden, die Westen und Oberteile waren verschwunden und gegen dreckige und vergilbte T-Shirts getauscht worden. Der dritte von ihnen aß gierig eine Waffel. Erst als keiner der sechs mehr etwas zu tauschen hatte, endete ihre seltsame Verwandlung. Einer fand noch seine Fliege um den Hals baumeln, und ohne einen Moment des Zögerns warf er sie auf den Boden. Hinter mir schlichen einige der Kinder heran und stritten sich darüber, wer sie behalten dürfe.

Schließlich vereinte sich die Gruppe wieder, und lachend besahen sie die jeweils anderen, zupften aneinander, als könnten sie ihr neues Aussehen selbst noch nicht so ganz fassen. Dann, nach einigen Minuten verstummte ihr Lachen; ohne ein Wort gingen sie weiter, die Damen voran, deren Gang sich geändert zu haben schien, hinter ihnen die Männer mit ihren Kisten. Sie würdigten keinen der Stände mehr nur eines Blickes, und erst als wir beinahe am Ende der Reihe von Ständen angekommen waren, erkannte ich ihr Ziel; dort, hinter den ärmlichsten der ohnehin ärmlichen Stände, war ein rechteckiger Platz frei. Sie hielten dort, und ohne ein Wort der Absprache verteilten die Männer den Inhalt ihrer beiden Kartons dort auf dem Boden. Einer hatte auch eine löchrige Decke erstanden, diese legten sie zu unterst. Die Damen setzten sich auf den Boden dahinter; eine stellte eine winzige Kasse auf. Es dauerte nur wenige Momente, bis sie ihren Stand aufgebaut hatten.

Ich war stehengeblieben, als das Schauspiel begonnen hatte. Nun saßen sie alle dort auf dem Boden, keiner von ihnen sprach. Sie trugen den Blick, den ich auch bei den anderen Verkäufern gesehen hatte; ihre Augen flehten mich an, etwas zu kaufen. Als ich näherkam, tippte ich mir an den Hut. Zunächst reagierten sie nicht, dann drehte einer der Männer den Kopf zu mir. „Die Kurse steigen, die Kurse fallen“, erklärte er, und die Frauen kicherten wieder, nur um dann plötzlich zu verstummen, als hätten sie sich verraten. Ein anderer der Männer deutete mir, näher zu kommen, zog mich ganz zu sich. Scheu blickte er sich um, dann flüsterte er. „Seien sie unbesorgt, Sir. Die Kutsche zum Tower ist bereits auf dem Weg.“

 

 

Die einleitenden Zeilen stammen aus Pray For Rain von Massive Attack. Sie können als Inspiration zu diesem Text betrachtet werden.

Der Tänzer

Diesen Artikel drucken 9. Januar 2011

Einen Schritt macht er, einen weiteren – er taumelt, stolpert, streckt das andere Bein vor, findet wieder Halt und macht wieder einen Schritt, der nur sicher wirkt, bis er wieder zu fallen scheint: Aus einiger Entfernung könnte man glauben, er tanze, wenn auch etwas ungelenk, und in der Tat hat es etwas von einem hässlichen Tanz. Nur, wenn man genau hinsieht, kann man es sehen; nichts läge ihm ferner als das Tanzen: Was ihn unruhig wandern und immer wieder stolpern lässt, das sind die Löcher im Parkett.

Er sieht sie nie genau an, diese Löcher, und das erklärt auch, warum ihm ihr Mangel an Tiefe nie auffällt, obwohl sie doch jedem Außenstehenden sofort als etwas Aufgemaltes, ja gar von ihm Hingezeichnetes auffallen würden; Er ist so sehr mit seinem seltsamen Schwindel befasst, dass es ihm entgehen muss. Aber natürlich weiß er, wer verantwortlich ist: Das wechselt zwar, aber stets berichtet er – schwärmt beinahe – von den Zionisten, dem Bankertum und der Pharma-Industrie, den alten Geheimbünden und neuen Eliten, kurz,  von der ganzen großen Verschwörung, in deren Zentrum er seinen Weg zwischen den ausgehobenen Gruben sucht und nicht findet. Da wären etwa etwa die Biochips, mit denen die Regierung ihre Gedankenkontrollexperimente in die Tat umsetzen will; da sind auch die Jetstreams, mit denen sie den Himmel vergiften; die große Lüge über die Erwärmung der Erde; die Nachbarn von gegenüber, die für die arbeiten, ohne dass er weiß, wissen will oder wissen kann, wer die nun genau sind, aber das ist auch egal, es sind die, die, die es immer sind, nur stets in anderer Form, es sind die Reptiloiden, die den ganzen Planeten unterwandern, es sind Geheimagenten und Killerkommandos, es ist George W. Bush und es sind die Zusatzstoffe im Müsli, alle wollen sie ihm ans Leder, alle reißen Löcher in den Boden, gerade da, wo er eben noch sicher stehen konnte, gerade dort, wo er gehen wollte. Kaum ist er einem Anschlag entgangen, lauert unter seinen Füßen schon der nächste, der nächste Angriff auf seine Autonomie, auf das freie Denken an sich, die Menschheit als ganzes, von irgendwoher, Attacken aus der Nichts in das Nichts für nichts als die Interessen der wenigen Herrschenden, Planenden. Cui bono, wem nützt es, seine Lieblingsfrage, der einzige Garant, die einzige Konstante in dieser Welt der unsichtbaren Mächte, Freund in der ständig drohenden Dämmerung.

Leicht hätte man ihn fällen können, ihm den verzweifelten Lebenswillen rauben können, der ihm die Kraft für den seltsamen Tanz gab, hätte man ihn nur gefragt, was er denn wolle (und wem das nütze), ob er nicht wolle, was sie wollen – oder umgekehrt – (und wem das nütze) und ob er wolle, was er will, oder will, was er wolle (und wem das nütze), alles Fragen, die ihn in endlosen Pirouetten nicht mehr auf dem Parkett, sondern im Kreise um sich selbst gehalten hätten. Schließlich bliebe nichts als die endlose Drehung der Teile um sich selbst, einer Kommunikation unfähig, und das stille Eingeständnis:

Die Glieder haben sich gegen den Kopf verschworen; der Kopf gegen den Magen; der Magen gegen die Gedärme, und so fort, bis jeder gegen jeden spielt und keiner von keinem etwas weiß außer, dass ihm nicht zu trauen ist. Stealth-Panzer überrollen das Lymphsystem; Schläfer lauern im Thalamus. Die Großmächte schlagen ihre Schlacht um den Cortex nur noch zum Schein, ihre Vereinbarungen richten sich längst auf anderes: Während der Zionismus in meinem Kopf siedend-heiß zündet, kündet das Thermit in meinen Adern von einem neuen, größeren Staat.

Die Auswegsverkäufer

Diesen Artikel drucken 22. September 2010

Glaubt Ihnen kein Wort
Das war sein Lieblingssatz, und er wiederholte ihn oft, wenn er wie jeden Morgen am Rande der Fußgängerzone seinen üblichen Platz bezogen hatte,
Glaubt Ihnen kein Wort
Damit leitete er seine Rede ein, die stets etwas variierte, in ihrer Aussage doch gleich blieb,
Kauft nicht Ihre Auswege, Ihre Irrtümer, so redete er heute weiter,
Sie mögen euch gerecht erscheinen, sogar notwendig, aber das ist Unsinn. Sie sind es doch, die diese Probleme erschaffen, um euch dann für teures Geld ihre Lösungen zu verkaufen,
Und damit meinte er nicht nur die Politik, nein,
Alle wollen sie euch erzählen, sie würden die Antworten kennen auf Fragen, die sie selbst gestellt und als unausweichlich dargestellt haben, aber das sind Lügen, Lügen,
Glaubt Ihnen kein Wort,

Und dann ließ er oftmals sehr dunkle Passagen einfließen, die er sich selbst gar nicht so recht erklären konnte, heute etwa sagte er,
Die Wirklichkeit ist ein offener Raum, die Welt dreidimensional, und in einer solchen Welt gibt es keine Sackgassen,
Die Wissenschaft sagt euch, alles sei vorbestimmt,
Die Politik behauptet, es könne nur Kompromisse geben,
Die Wirtschaft meint, es sei alles nur eine Frage des Gelds,
Und die Religion schließlich erklärt euch, wir seien ohnehin nur auf der Durchreise
Dabei wollen sie alle nur das gleiche,

An dieser Stelle wurde seine Stimme immer etwas höher und dünner,
Sie wollen ihre Auswege loswerden und fett werden von eurem Geld, eurer Zeit, eurem Leben
Sie wollen euch gegen einen Obolus aus den Sackgassen führen, die sie selbst erst geschaffen haben,
Und euch Lösungen verkaufen, die ihr gar nicht brauchen würdet, wenn ihr ihnen nur nicht zuhören würdet.

Auch heute blieb kaum jemand stehen, während er seine Ansprache mit dieser oder jenen Variation wiederholte, bis er fast ein wenig heiser wurde. Als schließlich doch jemand stehen blieb und eine Weile seinen Ausführungen lauschte, sprach er umso lauter und redete über das
Großkapital, das selbst die Kinder schon in die Fänge des Konsumwahns führte,
Vom Papst, dessen lebensverachtende Ideologie nur dem Zweck diene, die Menschen von wirklichkeitsfremden Heilsversprechungen abhängig zu machen
Als der Passant immer länger dort stand und interessiert zuhörte, ging ihm schließlich das Material aus, und so begann er sich zu wiederholen: Schließlich gelangte er zum dritten Mal an die Stelle, in der um das Großkapital ging, und der Mann stand immer noch dort und hörte zu. Die Stimme des Redners war schon etwas ärgerlich geworden, und man hätte glauben können, er echauffiere sich über seine Ausführungen, habe sich in Rage geredet: Dann jedoch nahm er den Mann, der ihm scheinbar so fasziniert zuhörte, fest ins Auge, als wolle er ihm etwas mitteilen, und schob dabei mit einem Fuß den Hut nach vorne, in dem er die Münzen sammelte.

Mir ist bewusst, dass ich in den letzten Monaten weniger häufig etwas veröffentlicht habe. Ich werde mich bemühen, das zu ändern, bin aber gerade ‚beruflich‘ sehr stark eingespannt.

Die weiße Stadt

Diesen Artikel drucken 27. April 2010

Im Morgengrauen erreichte ich die Mitte des Plateaus.
Ich weiß nicht, wie lange ich dorthin unterwegs war; auch weiß ich nicht, wie ich überhaupt dorthin gelangt war, in diese endlose Wüste aus Fels und Staub. Ich erinnere mich nur, dass der Weg über das Plateau eine Ewigkeit zu dauern schien, und als ich ganz zu mir kam, da stand ich auf der höchsten Spitze des Bergrückens und starrte in die aufsteigende Sonne.
Die Kleidung, die ich trug, muss viel zu dünn gewesen sein für eine kalte Nacht in der Wüste, denn sie bestand nur aus einem einteiligen Arbeitsoverall. Ein Schild auf der Brusttasche war der einzige Hinweise auf meine Herkunft oder Identität: 2/4/47 stand darauf. Mit trockenem Mund las ich es wieder und wieder, suchte nach Erinnerung oder wenigstens Vertrautheit in der Zahl, doch trotz dieser großen Verwirrtheit in mir begriff ich zumindest, dass mir die kräftiger werdende Sonne einen schnellen Tod versprach, wenn ich nicht Schutz vor ihr fand. Ich sah mich lange um, blickte in jede Richtung der Ödnis, und schließlich entdeckte ich am Horizont eine schmale Linie, die sich quer durch die Ebene zu ziehen schien. Zunächst hielt ich sie für eine Fata Morgana, eine letzte, fatale Täuschung, und für einige Momente blieb ich unschlüssig; da ich jedoch ansonsten nichts entdeckte, was in irgendeiner Weise auffällig oder viel versprechend war, sondern in jeder Richtung nur den endlos abfallenden Fels sah, schlug ich dennoch diesen Weg ein, hin zu dem glitzernden Band.
Die Weiße Stadt Schnell wurde das Sonnenlicht so hell, dass ich das Band nur mit zusammengekniffenen Augen sehen konnte; ebenso kam die Hitze und ließ mich den Overall öffnen. An der Außenseite war ein Gürtel befestigt, so dass ich die Ärmel daran befestigen und den Overall bis zur Hüfte abstreifen konnte. Ein kleines, bedrucktes Emblem fiel mir in die Hände, als ich die Ärmel festzurrte: Es war aus weißem Stoff, und die offenen Nähte am oberen Ende verrieten, dass es zum Overall gehörte. Darauf abgebildet war die Silhouette einiger Kirch- oder Bürotürme, jedenfalls die vergröberten Konturen einer Stadt, deren Flächen – von schwarzen Linien getrennt – aus dem blütenweißen Stoff bestanden, und der seltsame Schriftzug „remove worker before washing“.
Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit ich für den Weg zu den Schienen benötigte. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die fast kerzengerade am Horizont aufgestiegen war, müssen es etwa drei Stunden gewesen sein, vielleicht auch nur zwei: in der Hitze und ohne Wasser kam es mir um ein Vielfaches länger vor. Ich erinnere mich, wie ich mich lange, noch längere Zeit dahinschleppte, dabei von Zeit zu Zeit beinahe stolperte und nur mit größter Mühe über kleinen Erhebungen und Steine hinwegkam, die auf meinem abschüssigen Weg lagen. Mein Kopf wurde vom ewig gleichen Anblick der Felswüste und der Anstrengung ganz taub, und eine genaue Erinnerung fehlt mir wohl. Ich sah einige Dinge, von denen ich daher nicht weiß, ob sie wirklich da waren, oder ob ich sie erfand: Einmal sah ich einen großen, weißen Büroturm, auf den ich zuschritt, das war sicher eine Illusion. Ein anderes Mal aber sah ich ein Tier; es war weit weg, als ich es erspähte, und so klein, dass ich nicht genau sagen kann, ob es eine Art Katze oder ein Wolf war, oder sogar ein großer Hund. Es muss mich gesehen oder gewittert haben; starr blickte es mich für einen Augenblick an, dann lief es davon. Einen Moment später war es wieder verschwunden. Ich weiß nicht, ob auch dieses Tier eine Einbildung war. Damals dachte ich jedoch, dass diese Richtung nicht die schlechteste sein konnte, wenn ich sogar in dieser trostlosen Landschaft ein so großes Tier traf.
Als ich die Schienen schließlich erreichte, legte ich die Hand schützend über meine Augen, um genauer zu erkennen, was ich gefunden hatte; es waren tatsächlich Bahnschienen, und der blanke Stahl ließ mich glauben, dass hier oft Züge entlang kamen. Viel aufgeregter wurde ich jedoch, als ich das leise Rauschen hörte, welches aus einem neben den Schienen verlaufenden Rohr kam. Es hatte die Farbe des Sandes, und in geringer Entfernung sah ich einen silbriges Ventil glänzen, welches aus dem Rohr hervorstand: ich kniete mich davor, drehte hektisch daran, und tatsächlich schoss eine Flüssigkeit heraus, fast so klar wie Wasser; ich legte mich halb unter das Ventil und trank, bis der Strom versiegte. Schon etwas weniger durstig, aber noch lange nicht befriedigt riss ich an dem kleinen Rädchen, welches das Wasser zum Fließen gebracht hatte. Das Rauschen war noch da, hatte auch nicht abgenommen, und dennoch kam kein Wasser mehr aus dem Auslass. Schließlich versuchte ich das Ventil ganz abzureißen, trat und schlug dagegen, ich legte mich sogar ganz unter das Rohr und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, um es aus der Führung zu brechen – ohne Erfolg. Ich entdeckte einen kleinen Schriftzug unter dem Ventil; in weißer Schrift blinkte dort warnend
„Arbeit schafft Wohlstand“
Ich gab mich geschlagen, klopfte den Staub von meinem Anzug und nahm meinen Weg entlang der Schienen auf; wenn es hier ein Ventil gab, dann gab es vielleicht überall entlang der Schienen Ventile. Die einzuschlagende Richtung war für mich leicht zu ermitteln; alle paar Meter wies ein Pfeil auf der Wasserleitung die Fließrichtung. Die Sonne war inzwischen schon lange völlig unerträglich, und während ich den Schienen folgte, riss ich die Ärmel meines Overalls in Streifen und fertigte eine Art improvisierten Turban daraus, der mich mehr schlecht als recht vor der Sonne schützte. Ich zählte ab, wie viele der Pfeile ich passierte, und nach 150 Pfeilen traf ich wieder auf ein Ventil: kein Schriftzug war darunter zu sehen. Ich trank, dieses Mal aber öffnete ich den Hahn vorsichtig, um nichts zu beschädigen. Aber auch an diesem Ventil floss das Wasser nur kurz, und als ich wieder aufstand, sah ich aus den Augenwinkeln das weiße Blinken, dass ich zuvor schon gesehen hatte. Ich verstand das System und ging weiter an den Schienen entlang.
Als ich das sechste oder siebte Ventil hinter mir gelassen hatte, wurden mir zwei Dinge klar: Zum einen handelte es sich bei der Flüssigkeit in der Leitung auf keinen Fall um Wasser. Ich fühlte, wie leer mein Magen war, und abgesehen davon, dass ich schon mehr als sechs Stunden unterwegs sein musste, konnte ich mich nicht daran erinnern, ob ich jemals etwas gegessen hatte. Selbst wenn ich mein letztes Mahl vor sechs Stunden gehabt hätte, so hätte mein Hunger schon lange zurückkehren müssen aber das geschah nicht: Die einzige plausible Erklärung war die Flüssigkeit, die ich alle 150 Pfeile aufnahm.
Die zweite Erkenntnis betraf ebenso die Flüssigkeit, die stets hörbar durch die Leitungen gurgelte, und war weniger positiv: Ich beobachtete, wie mein Durst von Ventil zu Ventil größer wurde, während vermutlich immer die gleiche Menge heraussprudelte. Zunächst hatte ich es für ein normales Phänomen gehalten, bei dieser Hitze und meinem allgemeinen Zustand, dann jedoch bemerkte ich den salzigen Geschmack in meinem Mund.
Nach zehn Ventilen kam mir zum ersten Mal ein Zug entgegen: Ich hörte ihn schon aus großer Entfernung heranrauschen, und zunächst blieb ich auf den Schienen stehen, um zu sehen, ob er anhalten würde. Als der weiße Punkt am Horizont jedoch sehr schnell größer wurde, besann ich mich eines Besseren und verließ das Gleisbett: Ich weiß nicht, wie schnell der Zug war, aber mir kam er unglaublich schnell vor. Die ganz weiß getünchten Wagen rasten an mir vorbei, ohne abzubremsen. Ich sah keine Passagiere und auch keinen Zugführer. Die Fenster, wenn es denn Fenster waren, waren verspiegelt und ich sah nur meine heruntergekommene Gestalt darin. Als der Zug sich entfernt hatte, entschied ich mich, dennoch in dieser Richtung weiterzugehen, weniger deshalb, weil ich dort weitere Züge vermutete, als vielmehr wegen der Ventile, die in dieser Richtung eine kurze Erleichterung versprachen. Der Salzgeschmack in meinem Mund war inzwischen unerträglich, und ich schleppte mich nur noch von Ventil zu Ventil. Ich weiß nicht, wie viele es am Ende waren.
Irgendwann hörte ich jedoch ein fernes Donner, und als ich die Augen zusammenkniff, sah ich etwas Schwarzes auf den Gleisen. Das Geräusch wurde lauter, und ich begriff, dass es sich um einen wesentlich langsameren Zug handeln musste. Kaum merklich, aber stetig kroch er auf mich zu. Ich ging ihm entgegen, bis zu einem weiteren Ventil, von dem ich trank, ohne den schwarzen Triebwagen, den ich inzwischen erkennen konnte, aus den Augen zu lassen. Dann setzte ich mich neben die Gleise und wartete.
Nach einer Weile erkannte ich immer mehr Details. Die Front des Triebwagens war schwarz, und hinter den durchsichtigen, aber vergitterten Fenstern konnte ich Personen erkennen, offenbar den Zugführer. Der Wagen schien mir sehr alt zu sein, und an einigen Kanten blitzte unter der vom Wüstensand abgeriebenen Farbe der blanke Stahl. Die Front des Zuges war zugespitzt, wie bei einer Art Rammbock, und aus der Nähe wurde das Lärmen der Motoren unerträglich laut. Als der Zug nur noch wenige hundert Meter entfernt war, beschlich mich plötzlich eine seltsam vertraute Angst: Ich dachte darüber nach, in die Wüste zu laufen und auf den nächsten Zug zu warten. Andererseits aber wusste ich, dass der Durst noch schlimmer werden würde, wenn dieser Zug mich nicht mitnahm. Und außerdem, wohin sollte ich laufen? Die Wüste schien in jede Richtung weit und flach zu sein, das Plateau musste ich schon lange hinter mir gelassen habe. Man würde mich über Kilometer hinweg sehen könne, selbst wenn ich mich flach auf den Boden werfen würde. Schließlich verwarf ich meine Bedenken und blieb sitzen, bis der Zug einige Meter vor mir knirschend hielt: Dann stand ich auf und ging mit langsamen Schritten auf das Ungetüm zu.
Eine Tür öffnete sich an der Seite des Führerhauses: Zwei Soldaten stiegen aus. Sie trugen Gewehre, die aber locker vor ihnen baumelten, und weiße Uniformen, die an einigen Stellen fleckig waren. Ich schluckte meine aufkeimende Panik herunter und lächelte die beiden gequält an, während sie mir entgegen gingen. „Hallo…“ rief ich herüber. „Identifizieren sie sich bitte.“ antwortete einer der Soldaten. „Ich bin schon lange in der Wüste, ich weiß nicht…“ „Identifizieren sie sich!“ unterbrach mich der Soldat herrisch. „2/4/47“ antwortete ich, bevor ich darüber nachdenken konnte, „2/4/47“. „Zwei… ein Arbeiter.“ raunten sich die Soldaten zu. Sie griffen nach ihren Waffen. „Steigen Sie ein, Zwei.“ brüllte mich einer der beiden an. Sie deuteten mir, zu ihnen aufzuschließen. Ich gehorchte; sie brachten mich nicht ins Führerhaus, aus dem die beiden geklettert waren, sondern weiter nach hinten, zu den angehängten Waggons, die ich bisher nicht gesehen hatte. Sie sahen noch älter aus als der Triebwagen: Es handelte sich offenbar um Personenwaggons, auch wenn man sie umgebaut hatte. Die Fenster waren überall durch dichte Stahlgitter ersetzt worden, und an einigen Stellen waren noch Reste der ursprünglich weißen Außenlackierung zu sehen: Durch die Gitter blickten mich einige Menschen an, die offenbar auch Overalls trugen; die meisten wirkten äußerst desinteressiert. An einem der Waggons war eine Tür angebracht; einer der Soldaten schloss sie auf, während der andere mich in Schach hielt. Sie deuteten mir, hineinzusteigen, und als ich nicht schnell genug reagierte, gab mir einer der beiden einen Schlag ins Genick. Unsanft landete ich auf dem Boden des stickigen Waggons, und hinter mir hörte ich die beiden lachen. Die Tür schloss sich wieder, und einige Sekunden später setzte sich der Zug in Bewegung.Die Weiße Stadt (2)
Ich stand auf und rieb mir das schmerzende Genick. Meine Anwesenheit schien keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Die meisten Fahrgäste schienen nach dem Zwischenhalt wieder zu dösen. Ich versuchte einige zu wecken, stieß sie sanft, später ruppig an, doch sie reagierten nicht auf meine Ansprache: Schließlich setzte ich mich auf einen freien Platz und dachte wieder an meinen unstillbaren Durst. Ich entdeckte einen kleinen, vergitterten Bildschirm an der vorderen Wand des Waggons. Er zeigte – offenbar in einer Endlosschleife – Schriftzüge: „Wir in Europa“ war darunter, aber auch „Wir können es besser“. Ich erkannte auch den Satz, den ich an den Ventilen immer wieder gefunden hatte. Als sich meine Augen besser an das Dämmerlicht im Waggon gewöhnt hatten, sah ich den kleinen, verstaubten Hahn im hinteren Teil des Wagens. Darüber prangte ein kleines Eingabefeld, dem ich zunächst keine große Beachtung schenkte. Ich verließ meinen Platz und sah mir den Hahn näher an: Er war anders als die Ventile in der Wüste. Inzwischen konnte ich förmlich spüren, wie sich Salzkristalle in meinem Mund sammelten, und so zögerte ich nicht, den Schraubverschluss zu drehen.
Der Stromstoß warf mich erneut zu Boden. Vielleicht war ich auch einige Minuten bewusstlos, jedenfalls fand ich mich auf dem Boden wieder: Mein Kopf schmerzte, und die Hand zitterte unablässig. Ich stemmte mich wieder hoch, schonte dabei die kribbelnde Hand und sah, dass das Eingabefeld über dem Hahn leuchtete. Eine Zeile blinkte über dem winzigen Tastenfeld:
7 + 8 =
Einige Momente musste ich mich sammeln, dann verstand ich. Mit der linken Hand, die nicht zitterte, tippte ich 15.
„Bildung ist ein Bürgerrecht.“
funkelte mir das Display entgegen, dann schoss eine Flüssigkeit aus dem Hahn, und ich trank begierig. Es schmeckte anders: ich glaube, es war kein Salz darin, dafür schmeckte das Wasser seltsam künstlich. Nach einigen Sekunden versiegte der Strom wieder, und ich sah auf dem Bildschirm
4 x 5 =
Einige Male tippte ich die jeweilige Lösung, um weiter trinken zu können, schließlich wurde ich sehr, sehr müde. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich schon seit weit mehr als 10 Stunden unterwegs war, und der Gedanke an die harte Polsterung der Sitze wurde immer verführerischer. Dass etwas im Wasser dafür verantwortlich gewesen sein muss, erkannte ich eher beiläufig und ohne, dass ich lange darüber nachdachte. Ich schleppte mich nur noch zu einem der freien Sitze, ließ mich fallen und schlief auf der Stelle ein.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlief oder wie lange wir unterwegs waren. Zweimal wurde ich in der Nacht wach, und im Dunkeln tastete ich mich zu dem Wasserhahn vor, um nach dem Lösen einer Aufgabe wieder trinken zu dürfen; dann schlief ich wieder. Am Tag (wahrscheinlich war es der nächste Tag, vielleicht aber auch der übernächste) hielten wir einmal an. Ich registrierte kaum, wie die Soldaten draußen eine Frau zwangen, in den Waggon zu steigen. Als der Zug rollte, schlief ich wieder. Ich träumte ein wenig, aber wenn ich es mir recht überlege, kann ich nicht sagen, was genau ich träumte: Es hatte mit dieser weißen Stadt zu tun, denke ich, aber mehr als die ferne Silhouette ihrer Türme kann ich mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen.
Schließlich weckte mich ein Soldat unsanft. Er sprühte mir irgendwas Kühles ins Gesicht, und als mich rührte, herrschte er mich an, wach zu bleiben, damit das Mittel schneller wirke. Meine Müdigkeit verflohg und ich sah nach draußen: Wir waren an einem Bahnhof angekommen. Er war überdacht, und ich konnte nirgendwo Schilder sehen, wusste also nicht, wo wir waren. Auf dem Gleis neben uns stand ein weiterer Zug, ebenfalls ein altes Modell mit vergitterten Fensteröffnungen: Er war leer. Zur anderen Seiten konnte ich zehn oder vielleicht sogar zwanzig Bahnhgleise sehen, und weit entfernt erkannte ich Menschen, die in einen der weißen Schnellzüge einstiegen. Ich beobachtete auch den Soldaten, der allen Arbeitern etwas aus einer kleinen Dose ins Gesicht sprühte und ihnen dann deutete, wach zu bleiben. Der andere Soldat stand währenddessen wachsam und mit gezogener Waffe in der Tür. Ich sprach den Mann an, der neben mir saß: „Was wollen die von uns?“. Ich bekam einen Tritt. „Niemand redet!“ brüllte der Soldat und zog einen Schlagstock aus seinem Gürtel. Ich duckte mich und verbarg den Kopf unter meinen Händen. Der Mann ging wieder an seine Arbeit und steckte den Knüppel weg. Ich stellte keine Fragen mehr.
Als der Soldat alle Passagiere aufgeweckt hatte, fuhren wir wieder los: Die Soldaten blieben im Waggon, ich rührte mich nicht. Bald hinter dem Bahnhof begann ein Tunnel. Wir fuhren vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht weniger. Ich hatte das Gefühl, es würde immer weiter nach unten gehen, aber das mag täuschen; Als wir jedenfalls wieder an einem Bahnsteig hielten, waren wir offenbar tief unter der Erde, denn der nackte Fels hing über den Gleisen herab. Die beiden Soldaten stiegen aus und sprachen draußen mit anderen. Ich verstand ihr Gespräch nicht, obwohl ich sicher bin, dass sie das weitere Vorgehen besprachen. Einer der Männer kam zurück zum Waggon und deutete uns, auszusteigen, und zwar einzeln, und uns in einer Reihe aufzustellen.
Unter lautem Gebrüll der Soldaten beeilten wir uns, aus dem Waggon zu klettern. Vermutlich hatten wir alle Kopfschmerzen: Ich jedenfalls hatte schlimme Kopfschmerzen, was das Aufstehen nicht leichter machte. Auch meine Beine fühlten sich taub an, aber ich schleppte mich durch den Waggon, während wir nach und nach ausstiegen.
Als ich fast an der Tür war, sah ich die Bewegung des jungen Mannes gerade noch rechtzeitig, bevor er den Schraubenzieher wieder im Dunkel der Kabine verschwinden ließ: Für einen Moment jedoch sah ich ihn aufblitzen, und vermutlich rettete mir dieser Umstand mein Leben an diesem Bahnsteig in der Tiefe. Wahrscheinlich zeigte er ihn mir nicht absichtlich, es war mehr ein Zufall: Keiner der anderen hat ihn gesehen, denke ich. Ich hatte nur wenige Sekunden Zeit, darauf zu reagieren, und ich sah mich so ruhig, wie es mir möglich war, noch einmal um, blickte durch die Vergitterung der Fenster und versuchte, einen Fluchtweg festzulegen.
Als der Mann vor mir aus dem Zug gesprungen war, ging alles plötzlich sehr schnell, wie ich es mir erhofft hatte. Ich sah nicht, was genau geschah, aber soweit ich es einschätzen kann, stürmte der Mann auf den Soldaten los, der dem Zug am nächsten stand. Er muss ihn verwundet haben, denn ich hörte einen überraschten Schrei, aber sicher bin ich mir nicht, denn ich sah nicht hin. Die Trittstufe des Waggons sprang ich, schon halb im Lauf, hinab, dann ließ mich unter den Zug fallen und robbte, so schnell ich nur konnte, auf die andere Seite. Hinter mir hörte ich Rufe, das Klappern von Schuhen, dann Schüsse, immer mehr Schüsse, Schreie, wieder Schüsse. Vermutlich waren die anderen Arbeiter losgelaufen, als sie begriffen hatten, was vor sich ging. Ich sah niemanden von ihnen mehr auf meiner Flucht. Vermutlich haben die Soldaten die anderen erwischt, entweder getötet oder jedenfalls eingefangen. Ich ließ den Tumult hinter mir, als ich die Dunkelheit der Tunnel einbog.
Der Tunnel war einer von dreien gewesen, die ich entdeckt hatte, als ich mich noch im Waggon stehend umsah. Ich hatte aus keinem besonderen Grund für diesen entschieden, es war einfach der Fluchtweg, der mir am kürzesten erschienen war. Sein Verlauf war kurvig und spärlich beleuchtet, dennoch zwang ich mich, auf den ersten vielleicht hundert Metern nicht langsamer, sondern eher schneller zu laufen. Erst, als ich die Schüsse hinter mir nicht mehr hören konnte, bewegte ich mich etwas langsamer, lief aber weiterhin. Als ich an eine Abzweigung kam, wählte ich den dunkleren Pfad: nach einigen Hundert Metern verzweigte der Tunnel sich wieder, und ich wählte wieder den dunkleren Weg durch den Untergrund. Schließlich kam ich an der nächsten Kreuzung keuchend zum Stehen. Ich ging halb in die Hocke und rang nach Atem. Die Luft kam mir stickig vor, warm und dabei so, als ob zu wenig Sauerstoff darin sei; erst nach mehreren Minuten konnte ich langsam weitergehen, ein Stechen in der Seite machte mir das Rennen unmöglich. Dieses Mal nahm ich einen helleren Pfad, denn in dem schmalen Gang, in den ich geflohen war, schienen nur noch einige kleine, bläulich-weiße Lampen, die wie eine Art Notbeleuchtung wirkten. Überall um mich herum war nur noch nackter Fels, und die von Zeit zu Zeit auftauchenden Stützen aus Holz verrieten mir, dass ich in einer Art Mine war. Als sich meine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte ich tatsächlich die Spuren von Arbeit an den Wänden: In einigen entdeckte ich tiefe Löcher mit Scharten wie von Spitzhacken, vielleicht auch von schwererem Gerät. Ich ging voran, kam immer wieder an Abzweigungen und wählte irgendeinen Weg: Verlaufen hatte ich mich ohnehin, nun war es auch egal, in welche Richtung ich ging. Als ich das Hämmern von Werkzeug hörte, wand ich aber in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Hier unten waren andere Arbeiter, dachte ich mir: vielleicht würden sie mir helfen können.
Mein Weg durch die Tunnel war lang, wenigstens kam er mir lang vor. Ich folgte dem Klopfen, und wenn ich an eine Kreuzung kam, blieb ich stehen um zu lauschen. Dann ging ich in die Richtung, in der ich das Hämmern vermutete. Nach einer Weile wurde die Beleuchtung wieder besser, wahrscheinlich war der Bereich, den ich zunächst betreten hatte, ein verlassener oder erschöpfter Bereich der Mine gewesen.
Schließlich kam ich an eine große Kreuzung: Die recht schmale Öffnung im Fels öffnete sich weit nach oben hin und traf weit oben die weißen Kacheln eines großen und breiten Versorgungstunnels, der den felsigen Bereich, durch den ich gekommen war, fast im rechten Winkel schnitt. Der weiße Tunnel schien für meine Augen blendend hell, und doch sah ich auf der anderen Seite der Kacheln wieder einen der kleineren Tunnel, der fast in völlige Dunkelheit getaucht schien. Einen Moment blieb ich stehen und lauschte: Das Hämmern war jetzt ganz nahe, und ich bildete mir zumindest ein, auf der anderen Seite des Versorgungstunnels schemenhafte Gestalten zu erkennen. Dann hörte ich auch das Poltern von Stiefeln und die näherkommenden Rufe von Soldaten, und lief so schnell ich konnte.
Möglicherweise wäre ich weiter gekommen, wenn ich mich umgedreht hätte und in die Dunkelheit der verlassenen Abschnitte zurückgelaufen wäre, aber daran hatte ich keinen Gedanken: Ich rannte quer über den gekachelten Korridor und verschwand in den Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich den gebrüllten Befehl hinter mir hörte, hatte mich der Tunnel schon verschluckt.
Ich keuchte wie ein Tier, während ich das Tempo haltend versuchte, den Weg vor mir und vor allem die Unebenheiten des Untergrundes rechtzeitig zu erspähen. Um einige Biegungen kam ich nur knapp, indem ich meinen Oberkörper abrupt nach links oder rechts warf, und zweimal schlug ich fast hin, als sich im Boden vor mir plötzlich ein kleines Loch auftat. Ich passierte eine ganze Reihe von Arbeitern, die offenbar nur mit einfachsten Geräten gegen den Fels schlugen: sie schienen mir dürr zu sein, und irgendetwas Irritierendes war da an ihnen, aber mehr nahm ich auf meiner Flucht nicht wahr, zu schnell lief ich im Dämmerlicht an ihnen vorbei. Anfangs hörte ich noch die Rufe meiner Verfolger, aber das Tunnelsystem verzweigte sich auch auf dieser Seite sehr häufig, und nachdem ich fünf- oder sechsmal abgebogen war, hörte ich keine Stiefel mehr: Ich lief noch einige Hundert Meter weit, bis meine Lungen wie Feuer brannten, bog um eine Ecke, und prallte in vollem Lauf auf einen der Arbeiter.
Wir gingen beide zu Boden, fielen beinahe aufeinander , und ich schlug mit dem Kopf auf das Gestein. Ich wäre sicher eine ganze Zeit lang liegen geblieben, wenn ich nicht voller Adrenalin gewesen wäre, doch auch der Arbeiter schien sich sofort aufzurappeln, und noch während ich eine gestammelte Entschuldigung herausbringen wollte, verfehlte die breite Seite einer Spitzhacke mein Gesicht um Haaresbreite. Mehr reflexhaft drehte ich mich, immer noch halb liegend, herum und trat mit aller Kraft in die Richtung, in der ich den Stiel der Waffe vermutete: Ich hörte, wie die Hacke davon geschleudert wurde. „Ich will nichts…“, setzte ich keuchend zu einer Erklärung an, doch der Arbeiter hatte bereits nach einem Stein gegriffen und traf mich kräftig am Oberschenkel (im Nachhinein denke ich nicht, dass es ein gezielter Hieb war – mit Leichtigkeit hätte er auch meinen Kopf treffen können). Ich schrie auf vor Schmerz: Der Arbeiter nutzte den Moment und robbte zu seiner Hacke, ich hörte, wie die Klinge über den Boden schrammte und warf mich brüllend nach vorn, landete auf ihm und schlug so fest zu, wie ich nur konnte. Schließlich bekam ich seinen Hals zu fassen und ließ ihn fast wieder los, als ich bemerkte, wie dünn er war – und wie seltsam sich seine Haut anfühlte.
Er nutzte mein Zögern, griff nach etwas und traf mich am Kopf, doch zu meinem Glück war es nur seine flache Hand, die mich traf. Ich biss ihm in die Hand, schmeckte verbranntes Fleisch: Er heulte auf, das erste Mal, dass er einen Ton von sich gab, ich schloss beide Hände um seinen Hals und drückte zu. Er holte mit Armen und Beinen aus, doch sein Widerstand erlahmte schnell, begleitet von einem jämmerlichen Röcheln. Jetzt, da ich halb auf ihm hockte, sah ich, was mich an den Arbeitern im Gang so irritiert hatte. Der Körper des Arbeiters war so unnatürlich dünn, dass er fast wie Puppe wirkte. Dabei war sie nicht dünn im eigentlichen Sinne. Es war mehr so, als hätte man alles Unwesentliche weggelassen, Fett, Bindegewebe; Der Körper wirkte drahtig und auf seltsame Weise muskulös, obwohl er doch unglaublich dürr war. Was mich aber am meisten erschreckte, hatte ich zunächst für eine Täuschung meiner Augen gehalten, wie sie im Dämmerlicht entstehen kann, und ich hätte meinen Griff fast wieder gelockert, als ich es begriff; Der Körper des Mannes, dessen Hals ich umklammert hielt, war über und über verbrannt. Ich konnte keine Stelle entdecken, die nicht verbrannt war, und dabei war er bis auf eine kurze Arbeitshose fast nackt. An einigen Stellen schien sich das äußere Gewebe abzulösen, und ich spuckte aus, als ich mich an den Geschmack in meinem Mund erinnerte. Als sich seine Augen zu verdrehen begannen, lockerte ich meinen Griff  etwas und versuchte nicht darüber zu nachzudenken, wie man ihm so etwas angetan haben konnte. Der Arbeiter reagierte mit einem erleichterten Stöhnen. „Pass auf: Ich will dir nichts tun. Ich werde dich jetzt loslassen, und wir werden nicht mehr kämpfen. Verstehst du?“ sagte ich zu ihm immer noch keuchend. Ich versuchte, in seinen Augen eine Antwort zu lesen, aber ich sah nichts. Vielleicht war mein Griff noch zu stark, dachte ich und lockerte ihn noch etwas. „Verstehst du?“ fragte ich ihn noch einmal. Er antwortete nur mit einem röchelnden Zischen, dass ich zuerst nicht deuten konnte. Dann wiederholte er seine Antwort jedoch, und ich verstand: Wir in Europa, winselte er. Und: Arbeit schafft Wohlstand. Ich blicke entsetzt in seine leeren, ausdruckslosen Augen und vergaß den Griff, in dem ich ihn gehalten hatte Der Arbeiter griff augenblicklich zu einem größeren Stein, den ich nicht gesehen hatte, und traf mich unterhalb der Schläfe. Ich fiel zur Seite und sah einige Sekunden nichts mehr, konnte einem weiteren Hieb aber dennoch ausweichen. Dann sah ich ihn nach der Spitzhacke greifen, die ich fast schon wieder vergessen hatte, trat nach ihm, rollte herum, bekam meinerseits die Hacke zu fassen und schlug zu.
Als er sich nicht mehr rührte, kniete ich neben ihm und sah auf seinen verunstalteten Körper. Der Kampf mit mir hatte große, fast bräunliche Wunden auf seiner Haut hinterlassen. Etwas Schmieriges klebte an meinen Händen. Fassungslos starrte ich auf das Wesen, dass ich getötet hatte, töten musste. Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte den Kopf und sah den Gewehrkolben noch, dann wurde alles schwarz.
Ich kam zu mir, weil jemand mich jemand auf die Beine stieß. Der Kopf dröhnte, wie ich noch nie erlebt hatte, und als ich mein Gesicht befühlte, wurde mir klar, dass meine Nase gebrochen sein musste. Ich stand am Ende einer Schlange von Menschen, die alle einen Arbeitsoverall trugen. Wir schienen immer noch in den Tunneln zu sein: Dieser war so eng, dass ein Erwachsener nur einzeln hindurchgehen konnte. Der Soldat hinter stieß mir das Gewehr in den Rücken, damit ich aufschloss: Von Zeit zu Zeit bewegte sich die Reihe der Menschen ein Stück nach vorne, und als ich wieder sicher genug stand, um auf die Zehenspitzen zu gehen, blickte ich über die Menschen vor mir hinweg um zu sehen, wohin der enge Schlauch führte. Ich sah einen schweren Stahlschott wie den einer Druckkammer. Er besaß kein Sichtfenster, nur die vertraute Silhouette der Weißen Stadt sah ich darauf eingraviert. Die Tür öffnete sich: einer der Arbeiter, der erste in der Schlange wohl, ging an den Soldaten vorbei, die links und rechts in Aussparungen bereitstanden, und betrat den Raum hinter der Tür, der stockdunkel zu sein schien. Dann hörte ich einen gedämpften Schrei und ein Tosen und Dröhnen wie von einem Luftstrahl. Als ich begriff, sank ich zusammen, brach fast zusammen: der Soldat hinter mir erinnerte mich mit einem leichten Stoß an meinen Platz. Ich rückte auf. Es mussten noch vier oder fünf Leute vor mir gewesen sein, so viel hatte ich erkennen können. Auch über der Tür standen zwei Soldaten mit ihren Waffen im Anschlag auf einer Art Plattform, das erkannte ich erst jetzt. Sie waren im Halbdunkel schwer auszumachen, aber ich sah sie. Der Soldat stieß mich heftiger, ich ging wieder zwei Schritt nach vorne. Nur noch drei oder vier, dachte ich. Ich wartete, bis ich das Geräusch des Dampfstrahls hörte, dann drehte mich um und holte aus, doch ich traf den Soldaten nicht einmal, er hatte meine Bewegung bereits im Ansatz erkannt. Ich ging zu Boden, aber er hatte gerade so fest zugeschlagen, dass ich nicht ganz bewusstlos wurde. Unter einigen Tritten und Rufen brachte er mich auf die Füße, ich schleppte mich wieder zwei Schritte vor, beugte mich zur Seite und sah die Tür schon nah, nur noch zwei vor mir. Meine Knie knickten ein, ein weiterer Tritt, jemand zog mich an den Schultern nach oben, ich stand wieder, ich sah die Tür hinter der Frau vor mir, das weiße Emblem darauf, das Zeichen der Weißen Stadt, die Frau trat vor, die Tür schloss sich. Ich steuerte verzweifelt auf den Soldaten zu, der links neben der Tür stand, er schlug mich nicht einmal, sondern stieß mich sanft zurück, dann ein weiterer Tritt von hinten, und ich stand in der Kammer. Die Tür schloss sich hinter mir. Ich hörte Dampf rauschen.

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen schlimmen, anhaltenden Schmerz. Aber es war nicht der Schmerz, den ich erwartet hatte: Er betraf nicht den ganzen Körper, sondern konzentrierte sich gänzlich auf meinen Nacken. Noch dazu war er zwar intensiv, aber nicht so sehr, wie ich es befürchtet hatte. Ich hob den Kopf, und fand mich an meinem Schreibtisch wieder. Mein Kaffeebecher dampfte noch, und die Unterlagen, auf denen mein Kopf geruht hatte, waren noch genauso sortiert, wie ich sie hingelegt hatte. Das große Büro, dass ich schon seit einer Weile bezogen hatte, wirkte wie immer: Durch die großen Scheiben konnte ich die Welt draußen erkennen. Ich lehnte mich zurück in den tiefen Lehnsessel, und für einen Moment lang verfolgte mich der Gedanke, dass meine Flucht durch die Tunnel, die Arbeit in den Minen, nun schon lange hinter mir lag, dass ich die Minen schon lange verlassen hatte und nun hier arbeitete, doch dann wurde ich ganz wach und erkannte, dass es nur ein Traum gewesen war: die Wüste, der Zug, die Tunnel, alles. Wie zur Vergewisserung sah ich auf meine gepflegten Unterarme: sie waren nicht verbrannt, natürlich waren sie das nicht.
Dennoch beschäftigte mich mein Traum, schien er mir doch so real gewesen zu sein. Kurz betrachtete ich meine Unterlagen, die Tabellen und Zahlenkolonnen, die ich heute noch hatte bearbeiten wollen, dann jedoch nahm ich meinen Kaffee und setzte mich an den kleinen Konferenztisch, der nur einige Meter entfernt stand. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb auf, was ich geträumt hatte. Jede Einzelheit versuchte ich aufzuzeichnen, und als ich das Blatt vollgeschrieben hatte, nahm ich immer weitere. Schließlich hatte ich alles notiert, was mir einfiel, und ich betrachtete meine Aufzeichnung. Mir wurde klar, dass etwas fehlte.
Ich brauchte eine Weile, um mich an das zu erinnern, was ich vergessen hatte. Ich trank den Kaffee aus, genoss den sanften, bitteren Geschmack nach dem langen Weg durch die Wüste in meinem Kopf, und dachte darüber nach. Schließlich stand ich auf und ging zu dem breiten Panoramafenster. Während ich die strahlend-hellen Türme der Weißen Stadt betrachtete, deren Silhouette mir so vertraut war, strich ich abwesend über meine verbrannten Unterarme, diese Narben aus alten Zeiten, an die ich mich kaum noch erinnere.
Dann ging ich zurück zu dem wieder dampfenden Kaffeebecher und schrieb:
Jedes Leben in der Weißen Stand hat einen realen und einen fiktiven Teil; einen, der geschieht, während der Bürger nicht anwesend ist, und einen anderen, der nicht geschieht. Ich strich den Satz und begann neu;
Jeder Bürger der Weißen Stadt führt zwei Leben; dies ist nur die eine Hälfte meines Lebens in der weißen Stadt. Ich überlegte einen Moment, dann fand ich die richtigen Worte und die Geschichte, die ich erzählen musste:
Mein anderes Leben, das zweite der beiden, die man mir gegeben hat, beginnt so;

Als ich langsam zu mir kam, spürte ich einen stechenden, endlosen Schmerz, der meinen ganzen Körper erfasst hielt und nicht locker ließ. Es dauerte Stunden, vielleicht auch Tage, bis ich das Bewusstsein gänzlich wieder erlangte. Als ich schließlich die Augen öffnete, lag ich offenbar auf dem Rücken und starrte auf etwas, dass ich zuerst nicht als einen Spiegel erkannte. Doch es war mein eigenes, verunstaltetes Bild, das dort von der Decke auf mich herabstarrte. Das hatten sie aus mir also gemacht; jeder Zentimeter meiner Haut war von dem Dampfstrahl verbrüht, und an einigen Stellen löste sich immer noch Haut. Ich war mir sicher, dass mich nur die schwarze Flüssigkeit bei Bewusstsein hielt, die durch ein dünnes Rohr in meinen Unterarm floss, aber auch so war der Schmerz unerträglich. An den Hand- und Fußgelenken, an denen weiße, starre Bänder mich auf der Liege fixierten, brannte der Kunststoff der Fesseln: An meinem Rücken brannte der kalte Stahl, und selbst die Luft schien sich wie eine schwere, entzündete Flüssigkeit auf mich zu legen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich dort behandelten, festgeschnallt auf dieser Liege, gezwungen, den eigenen, entstellten Körper unablässig zu sehen. Immer wieder wurde ich bewusstlos, und dann träumte ich von den Türmen der Weißen Stadt, die ich nie gesehen habe. Einmal unterhielten sich zwei Menschen direkt neben mir, ohne dass ich sie sehen konnte. „Wie weit ist der?“ fragte der eine. „Der ist auch bald so weit. Er kommt manchmal noch zurück, aber in zwei Tage sollte er soweit sein, dass wir ihn arbeiten lassen können.“ Ich verstand nicht, was sie damit meinten, oder ich hoffte nur, es nicht zu verstehen. Immer häufiger wurde ich bewusstlos und träumte von der Weißen Stadt, sogar von einem seltsamen Leben dort: Ich weinte, als ich aus diesen Träumen aufwachte und wieder mein entstelltes Spiegelbild sehen musste.
Irgendwann kamen die Männer wieder. Ich konnte sie reden hören. „Gut… das hier ist… 2/4/47.“ „Der ist auch bereit, alle Werte sind normal. Schicken wir ihn los.“. Ich sah, wie die Flüssigkeit, die man seit Tagen in meine Arme spülte, langsam ihre Farbe wechselte. Aus dem Schwarz wurde langsam Grau: Aus dem Grau ein helleres, immer noch helleres Grau, und schließlich war sie fast weiß. Ich spürte, wie meine Erinnerungen träger wurden, wie sie verschwanden: Mein Weg durch die Wüste, die Fahrt mit dem Zug. Meine Flucht durch die Tunnel. Der große Spiegel über meinem zerstörten Körper. Alles verschwand.
Dann dachte ich zum ersten Mal
WIR IN EUROPA und dann
ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND. Einen Moment glaubte ich, es wäre vorbei, doch dann
BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT und ich begriff, dass ich bald nichts anderes mehr denken würde, nicht mehr als

Ich trank einen weiteren Kaffee und sah zu, wie die Sonne unterging: Ihr Rot übertrug sich nicht auf die Türme der Weißen Stadt, sie blieben so weiß wie Schnee.

WIR KÖNNEN ES BESSER

Ich ging die Tabellen durch: Die Arbeit war fast erledigt, ich konnte mir Zeit lassen und den Ausblick genießen.

WIR IN EUROPA

Ich streckte mich, nur für einige Minuten, auf dem bequemen Ledersofa aus.

ARBEIT SCHAFFT WOHLSTAND

Ich wusste den Blick über die Weiße Stadt zu schätzen, nicht viele Angestellte in meinem Alter hatten ein Büro in solcher Lage.

BILDUNG IST EIN BÜRGERRECHT

Todesurteil

Diesen Artikel drucken 7. September 2009

Am 2. Verhandlungstag wurde die Anklageschrift verlesen. Sie war verrworren, und der Stimme des Staatsanwalts war neben der autoritären Grundhaltung eines Mannes im Staatsdienst so etwas wie eine gewisse Unbedarftheit zu entnehmen, so als ob man ihm selbst diese Schrift erst kurz vor Verhandlungsbeginn zugestellt hätte.

Jedenfalls erfuhr er, 42, ledig, arbeitslos, erst an diesem Tag, was ihm vorgeworfen wurde. Das heißt, eigentlich erfuhr er es nur ungefähr – ein halbes Dutzend Tatbestände schienen, jedenfalls auf den ersten Blick, in Frage zu kommen. Natürlich forderte man ihn auf, sich zu äußern. Es fiel ihm nichts ein; er beteuerte natürlich seine Unschuld, aber das schien niemand anders zu erwarten. Der Richter hörte sich seine Geschichte an, und stellte nur zwei Fragen; er fragte, ob er sich schuldig bekennen wolle, und ob die Zustände in der U-Haft erträglich seien. Er beantwortete die Fragen, während der Richter auf seine Notizen starrte. Die Protokollantin tippte monoton jedes Wort.

Auf dem Weg zurück in die Zelle versuchte er von seinem Anwalt zu erfahren, was nun geschehen würde; er sei nie politisch gewesen, und überhaupt könne es sich nur um ein Missverständnis handeln. Der Mann, ein junger Kerl mit durchgelaufenen Schuhen, reagierte nervös, fast ängstlich. Er murmelte nur, dass der Gerechtigkeit schon Genüge getan werden würde und dass sich das ganze sicher bald aufklären würde, wenn er nur kooperativ bliebe. Auf die Frage, ob er nun genauer sagen könne, was ihm überhaupt zur Last gelegt werde, blieb er zunächst stumm. Schwitzend sah er zu den Vollzugsbeamten, die unbeteiligt neben ihnen saßen. Es sei eine Farce, flüsterte er dann und konnte nicht aufhören, dabei zu zwinkern.

Todesurteil

Am nächsten Verhandlungstag saß ein anderer Anwalt neben ihm im Gerichtssaal, ein älterer, der viel resoluter auftrat und seine Fragen nur beantwortete, indem er aus einer schwarzen Mappe vorlas. Schließlich sah er ein, dass auch sein Verteidiger ihm nicht sagen wollte, warum er u.a. des Verrats angeklagt war und was nun geschehen würde, und sprach kaum noch mit ihm. Der Anwalt schien damit zufrieden.

Am 10. Verhandlungstag begann man, Beweise vorzubringen. Die Staatsanwaltschaft legte in endloser Folge Gegenstände und Papiere vor; am 12. Tag verbrachten sie den ganzen Vormittag mit der Zahnbürste des Angeklagten (niemand sprach seinen Namen aus, er war und blieb „der Angeklagte“), am 13. war es ein Brief, den er angeblich geschrieben hatte und in dem viele Worte auftauchten, die er hier zum ersten Mal hörte; wie es das Gesetz verlangte, wurde er an jedem Tag befragt, ob er sich zu den Beweisen äußern wolle. Die Protokollantin war die einzige, die von seinen Angaben Notiz nahm. Am 14. Tag legte der Staatsanwalt eine alte Arbeitsmontur vor, am 15. war es ein Buch, das er angeblich besessen hatte, und so ging es weiter, Gegenstände, von denen er nicht verstand, was sie mit den Vorwürfen zu tun hatten., wechselten sich mit ganz offenkundig gefälschten Beweisen seiner Täterschaft ab. Dabei schien niemand ernsthaft behaupten zu wollen, es sei bewiesen, dass er diesen oder jenen Gegenstand besessen, dieses oder jenes Flugblatt verfasst hatte; als er einmal den Staatsanwalt direkt darauf ansprach, blickten alle im Saal auf, und der Richter erklärte ihm, es könne nicht als sicher gelten, dass dies seine Habseligkeiten seien, es sei aber doch recht wahrscheinlich, da die Polizei diese Dinge in seiner Wohnung gefunden habe. Als er daraufhin andeutete, dass die Ermittlungsbehörden selbst vielleicht diese Beweise platziert hätten, fuhr ihn der Richter scharf an, er solle seine Zunge hüten. Daraufhin blieb er bis zum 30. Verhandlungstag stumm; die Tage schienen sich zu wiederholen, man behandelte eine Mischung aus Dingen, die ihm gehörten, aber nichts mit der Sache zu tun hatten, wie einen Staubsauger (16.) und eine alte Schreibmaschine (25.), die seit Jahren nicht mehr funktionierte, in die man aber offenbar ein ganz neues Band eingelegt hatte, und anderen Gegenständen oder Schriften, die ganz offensichtlich nicht ihm zuzuordnen war, so etwa eine Maschinenpistole (17.) oder zwei Briefe (24.), in unterschiedlichen Handschriften verfassst, an einen Mann namens Dimitri , von dem er noch nie etwas gehört hatte.

Nachdem er am 30. Verhandlungstag in einem Anflug von Heroismus gebrüllt hatte, diese ganze Veranstaltung sei ein unrechtmäßiges Verfahren und alle Beteiligten eingeweiht, legte man ihm am 31. vor Beginn der Verhandlung einen Knebel an, und so blieb es für nächsten sechs Tage. Es waren große, starke Männer mit Handschuhen, die dies erledigten; ein Art stilles Abkommen führte dazu, dass er sich den Knebel fast selbst anlegte, während die Männer nur daneben standen und aufmerksam zusahen. Im Gegenzug wurden sie nicht grob.

Als die Aufnahme der Beweise geschlossen wurde und die Vernehmung der Zeugen begann, ließ der Richter ihm den Knebel abnehmen, selbstverständlich unter der Bedingung, dass er sich nun zu benehmen habe, ansonsten würde er nicht zögern, die Maßnahme, wie er sie nannte, wieder anzuordnen.

Der Angeklagte hielt den Mund, wenigstens für eine Weile. Die ersten drei Zeugen (36.-54.), unter ihnen auch jener Dimitri, an den er angeblich Briefe verschickt hatte, waren ihm gänzlich unbekannt. Ihre Aussagen widersprachen sich nicht, und dennoch konnte er sich kein richtiges Bild von der Geschichte machen, die sie zu erzählen versuchten; alles blieb nebulös und unbestimmt, immer wieder fielen Namen, teilweise von Personen, aber auch von Gruppierungen, die er nicht kannte und deren Zusammenhang oder Zusammenwirken niemand erklären wollte. Nachdem er einige Tage nur zuhörte, bis ihm klar wurde, dass man auch nicht erwartete oder auch nur wollte, dass sich ein beständiges Bild ergab, beschloss er, seine Verteidigung auf andere Weise zu führen. So begann er, mit ruhigen und gezielten Fragen nach dem Verhältnis der Zeugen zu ihm Widersprüche zu suchen. Meist sah er den Zeugen bereits beim Stellen seiner Fragen an, dass sie nervös wurden. Dimitri etwa fuhr sich unentwegt durch die Haare, eine andere Zeugin, deren Name geheim blieb, zitterte so sehr, dass sogar er es deutlich sehen konnte, obwohl er doch fast zehn Meter weit weg saß.

Doch seine Fragen brachten kein Ergebnis. Einmal sagte eine Zeugin auf seine Nachfrage aus, er sei als Schlosser angestellt gewesen (42.), was natürlich nicht stimmte (er hatte nicht einmal diesen Beruf gelernt), aber es geschah nichts weiter, als dass der Richter die Protokollantin, die schon zum dritten Mal ausgetauscht worden war, anwies, diesen Teil der Aussage zu ignorieren und aufzuschreiben, die Zeugin habe nicht geantwortet und sei deshalb mit einer Ordnungsstrafe von fünfzehn Tagessätzen zu belangen. In der Folge waren es immer häufiger Staatsanwalt und Richter, die seine Fragen an die Zeugen beantworteten, wenn diese nervös wurden. Schließlich herrschte ihn der Richter an, dass seine Fragen irreführend seien; außerdem wäre es längst als sehr wahrscheinlich anzusehen, dass er all diese Menschen kannte. Als er weiterhin die gleichen Fragen stellte und einmal sogar den Staatsanwalt darauf hinwies, die Frage gelte nicht ihm, ordnete der Richter wieder sechs Tage Knebel an (49.).

So begann die Vernehmung der weiteren Zeugen, es waren mindestens 15, am 53. Verhandlungstag ohne seine Mitwirkung. Er kannte gut die Hälfte der folgenden Zeugen, die teilweise von seinem Verteidiger als Entlastungszeugen geführt wurden, Die meisten waren ihm nur flüchtig bekannt, so erkannte er den Besitzer des Kiosks in seiner Wohngegend und zwei ehemalige Arbeitskollegen, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Alle wirkten sehr eingeschüchtert, und die, die er kannte, wagten nicht ihn anzusehen und lasen von kleinen Zetteln ab, was sie zu sagen hatten. Im wesentlichen, soviel verstand er, waren sie nur geladen, um die Aussagen der ersten drei Zeugen zu stützen. Dabei waren die Aussagen selbst so platt und unbestimmt, dass keiner Zeugen allein die nur in Schemen zu erkennende Theorie der Staatsanwaltschaft bestätigte; nur einer der Zeugen, ein ehemals recht guter Freund, sagte tatsächlich Substanzielles aus, und seine Aussage war deutlich besser fingiert als die der anderen. Er vermutete, dass es sein Verteidiger war, der sich diese Einlage ausgedacht hatte: zunächst entlastete der Zeuge ihn. Offenbar war er gar nicht instruiert worden, und so bestritt er beinah alles, was während der Verhandlung bisher ausgesagt und dargelegt worden war. Erst am dritten und letzten Tag seiner Vernehmung kam der Zeuge sichtlich verstört und mit Striemen im Gesicht zur Verhandlung. Die Verteidigung ließ die Aussagen noch einmal zusammenfassen, bis schließlich der Staatsanwalt anmerkte, noch eine Frage zu haben und dem Zeugen einen offenbar gefälschten Brief vorlegte, welcher diesen ebenfalls mit Dimitri in Verbindung brachte. Wie gewünscht „brach der Zeuge zusammen“, wie der Richter es formulierte, und widerrief seine Aussagen. Sein Verteidiger entschuldigte sich lächelnd, aber „zerknirscht“ bei den Anwesenden, auch bei dem Angeklagten, zu dessen Entlastung er den Zeugen ja aufgerufen habe. Die nächsten zwei Verhandlungswochen verbrachte der Angeklagte in Hand- und Fußfesseln sowie geknebelt wegen „fortgesetzter Störung des korrekten Ablaufs des Verfahrens und Angriffs auf seinen Rechtsvertreter“. Als ihm die Fessel und Knebel wieder abgenommen worden waren, stand mit dem 73. Verhandlungstag bereits das Plädoyer des Staatsanwalts an. Er war recht gespannt, weil er zumindest hoffte, jetzt zu erkennen, welche Beweise und Taten man ihm konkret anlasten wollte, wurde aber bald enttäuscht, weil auch die Zusammenfassung der Staatsanwaltschaft so verworren blieb, dass am Ende nur drei Dinge klar wurden; er, der Angeklagte, sei schuldig (wessen?) und dies sei durch das Verfahren eindeutig belegt worden (wodurch?).

Weiterhin sei er mit dem Tode zu bestrafen.

Dies hatte man ihm schon früh in Aussicht gestellt, und so war er nicht überrascht, als der Staatsanwalt diese Strafe forderte; nachdem er es mit Kooperation versucht hatte, mit Argumentation, dann mit Subversion und schließlich sogar mit roher Gewalt (dafür hatte er die Knebelstrafe bekommen), war er des Prozesses so müde, dass ihn nur noch der Ausgang interessierte; er stellte keine Fragen mehr, und wenn man ihn etwas fragte, dann wiederholte er nur noch, er sei unschuldig, woraufhin die Protokollantin jedes Mal notierte, er verweigere die Aussage.

Dennoch dauerte es drei Tage, bis der Staatsanwalt sein Plädoyer beendet hatte, und weitere fünf, bis auch sein Verteidiger Position bezogen hatte; dieser argumentierte, er sei zwar schuldig, dennoch solle der Staat Milde walten lassen; er forderte eine lebenslange Haftstrafe für seinen Mandanten. Es folgten einige Tage, in denen sich das Gericht mit teilweise lächerlichen Details beschäftigte; man prüfte einen Antrag auf Verlegung in ein anderes Gefängnis, da dort seine Zuckerkrankheit besser zu behandeln sei (dem Antrag wurde letztlich stattgegeben; er hatte gar kein Diabetes, auch wenn drei Ärzte das Gegenteil aussagten) und einen weiteren, der mit Wahl seines Verteidigers zu tun hatte und schließlich abgelehnt wurde. Als man ihm sagte, das Urteil sei bis zum 90. Verhandlungstag zu erwarten, war er darüber sogar erleichtert; egal wie es ausging, es würde ausgehen.

Am 87. Verhandlungstag schließlich war es an ihm, sich zum letzten Mal vor der Urteilsfindung zu äußern. Er sei unschuldig, bekräftigte er nur; das schien dem Gericht nicht zu reichen.

Der Staatsanwalt starrte ihn an; ebenso der Richter, sogar die Protokollantin sah zu ihm auf. Niemand im Gericht sagte etwas; keiner regte sich. Eine halbe Stunde ging das so, dann fragte er resigniert nach, was man noch von ihm hören wolle: er sei keines Verbrechens schuldig, und mehr könne er nicht sagen. Eine weitere halbe Stunde verging, bis schließlich sein Verteidiger, mit dem er seit langer Zeit kein Wort mehr gewechselt hatte, laut fragte, ob er sich von diesem Gericht ungerecht behandelt fühle.

Einen Moment lang witterte er eine neue Falle, dann aber antwortete er: Ja, wenn man ihn so frage, dann sei dieses ganze Verfahren eine einzige Farce, ein riesiges Lügengebäude, in dem Richter, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Polizei gleichermaßen beteiligt seien.

Er erwartete eine weitere Ordnungsstrafe, womöglich sogar schon das Urteil oder einfach nur Gelächter darüber, dass er so Offensichtliches, so offensichtlich Nutzloses sagte, aber es blieb still im Saal.

Schließlich bekannte der Staatsanwalt, dass er möglicherweise tatsächlich befangen sei, jedenfalls nicht für diesen Prozess geeignet, und deshalb sein Amt vorübergehend niederlege, bis die Sache geklärt sei. Der Verteidiger erklärte, so wie die Dinge lägen, müsse er wohl tatsächlich einen Befangenheitsanstrag gegen den Richter und sich selbst stellen; zu spät erkannte der Angeklagte, worum es eigentlich ging. Der Richter gab nachdenklich zu, möglicherweise ungeeignet zu sein, und ließ das Verfahren vertagen.

Drei Monate später begann das neue Verfahren; alle Beteiligten waren, bis auf ihn, ausgetauscht worden. Am 2. Verhandlungstag, der für den Angeklagten schon der 89. war, wurde die Anklageschrift vorgelesen, die man nur unwesentlich verändert hatte.

Am 117. Verhandlungstag gab der Angeklagte sein Geständnis zu Protokoll. Das Urteil sollte zwei Tage später verkündet werden, und Expertisen, die den Ausschluss des Geständnisses und – damit verbunden – eine Neuaufnahme des Verfahrens nahelegten, waren schon angefertigt worden. Die entsprechenden Zeugen, Ärzte und Psychologen, hatte man bereits eingeschüchtert oder bestochen, um die emotionale Instabilität des Angeklagten und die massiven Einschüchterungen durch anonyme Mitglieder des Justizvollzugs zu belegen. Das Verfahren würde in die dritte Runde gehen. Aber dazu kam es nicht mehr.

1. Korinther 15, 26

Diesen Artikel drucken 28. Juni 2008

Der letzte Feind, der beseitigt wird,

klang es in ihren Köpfen, als die Ernten schon lang nicht mehr zu retten, das Wasser vergiftet und die Früchte ihrer Optionsscheine verdorben waren, als Raketen auf ihre eigenen Kinder niederprasselten.

Der letzte Feind, der beseitigt wird,

sangen sie, deren Augen schon lange so fest zugedrückt waren, dass sie kaum das Aufleuchten der Detonationen und Börsenticker sehen konnten.

Der letzte Feind, der beseitigt wird,

die Hirne voll mit Webeslogans, Werbejingles, Werbegedanken, die Bäuche voll mit Fleisch, Wut und Langeweile, zum Zerbersten gefüllt mit Scheiße und nimmer satt, dumm wie Insekten, kalt wie Söldner, mächtig wie Götter –

Der letzte Feind, der beseitigt wird, ist der Tod.
Der Tod.

5 Uhr 55

Diesen Artikel drucken 11. März 2008

Wie sie da sitzen, die Augen noch schlaftrunken, der Blick nach innen gerichtet, vielleicht auch ins Nichts. Wenn das übersteuerte Knistern der Lautsprecher die hohle Frauenstimme zu schaurigem Halbleben erweckt, schrecken sie manchmal hoch, ist das ihre Haltestelle, sind sie schon am Ziel?

Die anthrazit- und beigefarbenen Wände der Großraumabteile sind nicht das Ziel, nicht das Ende, aber auch nicht der Anfang. Dieser Ort ist ein Dazwischen, zumindest kann man das hoffen. Wer den Glauben daran verspielt hat, dem bleibt nur das unverständliche Murmeln des Discmans oder MP3-Players, stets konterkariert von den Betriebsgeräuschen des Zuges, dem Rattern der Räder, dem Heulen des Motors.

Manche der Wartenden tragen schon Zollstöcke oder Werkzeuge an der stets praktischen und unverzichtbaren Arbeitskleidung, andere tragen Krawatten, viele sicher – unsichtbar – einen Flachmann in den abgewetzten oder nagelneuen Hosen. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit, eine gewisse Einförmigkeit unter den Fahrgästen um diese Uhrzeit. Hinter dem Spiel der Oberflächen, des Äußeren, besteht eine fast greifbare Verwandtschaft; hier werden keine Klassenkämpfe geführt, keine beruflichen Animositäten ausgetragen, noch nicht. Steigen sie aus, so wird sich der Malerlehrling wieder am gestylten Äußeren des Bankangestellten stören und umgekehrt, doch noch ist es nicht so weit, noch sind die Unterschiede im Grau des Kunstlichts unkenntlich.

Es ist das Halogenlicht eines Terrariums, eines Käfigs. Die blauen Sitzpolster macht es blau-grau, die Warnstreifen vor den Stufen; gelb-grau. Selbst der Mond, der langsam von der Dämmerung verschluckt wird, degeneriert unter dem grauen Schleier auf den Scheiben zu der Abwesenheit von etwas. Es ist das modernere, das verbesserte Licht; es ist funktioneller als das alte, könnten Ingenieure erklären, deshalb haben sie es abgeschafft.

Und so erscheinen auch die Gesichter hier grauer als sonst, unter der künstlichen Beleuchtung verschwinden die individuellen Merkmale, und auch das mag so etwas wie Konformität schaffen, Konformität durch Funktionalität. Es sind praktische, weil leere Oberflächen, die hier ausdruckslos starren oder die Augen möglichst lange geschlossen halten, anonym wie Konservendosen.

Doch diese Dosen träumen, manchen sieht man es an; sie träumen davon, dass einzig ihrem Gesicht, nur ihnen etwas Individuelles geblieben ist, dass Halogenlicht Unikaten nichts anhaben kann. Es bleibt ein unerfüllter Traum, eine Wunsch ohne Chance auf Verwirklichung, der nur durch die Abwesenheit von Spiegeln am Leben erhalten wird. Auch dies werden Ingenieure so geplant haben; selbst die Scheiben sind antireflex-beschichtet, vielleicht, um diesen Traum aufrechtzuerhalten; auch Ingenieure müssen mit Zügen zur Arbeit fahren.

Aber auch dieses Detail hat etwas Funktionelles. Wer von sich selbst oder einem Anderswo träumt, der wird nicht verrückt; auch begehrt er nicht auf. Das Trauma des Unterworfenseins ist verborgen, solange der innere Rückzug bleibt. Man denkt an zu Hause, an die Kinder; an Hobbies oder Geliebte. Die kleinen Ritzen, die das Innen dann noch mit dem Außen verbinden, Risse in der Isolierung, dichtet man ab. Die Augen geschlossen, die Ohren unter großen Kopfhörern verborgen; die Musik rieselt leise gegen die Fahrtgeräusche an, Dies ist kein Sklaventransport flüstert sie vielleicht von Zeit zu Zeit durch das Dröhnen der Maschine hindurch. Manchmal, wenn die Räder über eine Weiche rasen, ist das erste k kaum zu hören. In solchen Momenten bewegen sich die Menschen unruhig auf ihren Plätzen. Vielleicht sehen sie sich um, entdecken ihre Zelle neu. Sie fragen sich schlaftrunken, wohin die Reise geht; ins Nirgendwo, ins Nirgendwohin, denken sie vielleicht, dann dösen sie wieder.

Blacksuit

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2008

Er hatte die im alten Design gehaltene Kreditkarte schon zweimal in den Kartenleser des Kassenautomaten geschoben, doch der Fehler in dieser Szene fiel ihm erst auf, als die ebenfalls absichtlich altmodische gehaltene Maschine auch beim dritten Versuch jede Zahlung verweigerte. Es war weder nötig noch sinnvoll, die alten Maschinendesigns und die längst nutzlosen Plastikkarten zu verwenden, die Zahlautomaten waren davon schon lange nicht mehr abhängig, aber aus Gründen der Ästhetik hatte man sie beibehalten; dennoch stand im Display des Automaten natürlich nichts von einer abgelaufenen oder überzogenen Kreditkarte, sondern nur
IDENT-PIN ungültig.
Und so blieben auch die Türen des Supermarktes verschlossen, solange er den Korb mit den Einkäufen im Arm hatte. Manchmal hatten Geräte dieser Bauart Fehlfunktionen, so dass man ein zweites Mal den Schlüssel übertragen musste. Doch noch nie hatte er es erlebt, das das System dreimal versagte. Er erwartete daher, dass es eine Art von Rückmeldung an die Zentrale oder einen Wachdienst geben würde und blieb verwirrt im Ausgangsbereich stehen. Sein Blick wanderte unschlüssig über die Maschine, den Boden und fand schließlich in den elektronischen Spiegel an der Wand hinter der Kasse. Einen Moment dauerte es noch, bis er das Ungeheuerliche in der digitalen Reflexion erkannte, doch dann fiel ihm der Fehler auf und er erschrak.
Das im Spiegel – das war nicht er selbst. Er korrigierte sich; natürlich war er es selbst. Seine echte Identität war verborgen unter der Blacksuit, die sein Aussehen, seine Stimme und seine Kleidung von Kopf bis Fuß frei konfigurierbar machte, aber das dort im Spiegel – das war auch keine seiner künstlichen Identitäten. Wie die meisten Menschen hatte er etwa ein halbes Dutzend davon, verschiedene für die jeweiligen Anlässe; dazu selbstverständlich auch zehn bis zwanzig verschiedene Kleidungssets, schließlich wollte er ja nicht immer die gleiche virtuelle Kleidung tragen. Was er jedoch dort im Spiegel sah, das war keine seiner digitalen Identitäten. Täuschte er sich? Er ging einen Schritt auf den Spiegel zu und sah genau hin. Nein, dieses Gesicht hatte er sich sicher nicht ausgesucht. Er hatte den JohnD_12AX-Skin übergeworfen, als er sich auf den Weg gemacht hatte; den mit dem schwarzen Sakko, oder mit dem weißen, das wusste er nicht mehr genau. Auf jeden Fall hatte er sicher nicht diesen Skin gewählt; er hatte jetzt das Gesicht eines Matrosen oder Kriminellen, mit tiefen, harten Konturen und einigen kaum verborgenen Narben. Die Kleidung war abgewetzt und größtenteils aus Lederimitat; solche Skins wurden allenfalls zum Spaß getragen, aber sicher nicht beim Einkaufen. Vielleicht war beim Einschalten des Skins etwas schief gelaufen. Er überprüfte die Anzeigen, die der Anzug in sein Auge projizierte; es gab keine Fehlermeldungen. Mit einigen durch die Jacke verborgenen Bewegungen seiner Finger startete er das Diagnosemodul.
Ungültige IDENT-PIN. Diagnose abgebrochen
flüsterte eine leise Stimme aus der Blacksuit.
Er wechselte zur Skinauswahl, und zu seinem Erstaunen fand er in der Liste keinen Oberflächenskin, der ihm auch nur annähernd bekannt vorkam. DESC_4r hieß der, den er gerade auftrug. Er wählte einen der anderen aus und bestätigte die Umstellung, um das System zu testen.
Ungültige IDENT-PIN. Skinwechsel abgebrochen.
Wieder die leise Frauenstimme, der alte Kassenautomat grinste ihn mißmutig an.
Er hatte den falschen Anzug an, das war die Erklärung, anders konnte es nicht sein. Aber wie konnte das sein? Er suchte nach dem Statusbericht des Anzugs, dort war der echte Besitzer für gewöhnlich eingetragen. Eigentlich sollte man den Vollanzug nicht einmal schließen können, wenn man nicht der Besitzer war, aber auch solche Fehler konnten sicher geschehen, auch wenn er davon noch nie gehört hatte.
Eigentümer: n/a – Bitte natürliche Identität angeben.
Ein leerer Anzug, vielleicht war einfach der Speicher gelöscht worden.
Er wählte die Zeile, gab seine IDENT-Nummer ein und bestätigte. Ein Symbol am oberen Rand zeigte an, dass die Eingabe gepüft wurde.
Identität nicht gefunden. Bitte achten Sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Er überprüfte seine Eingabe zweimal; es konnte nicht sein, es musste die richtige Nummer sein; A12Doring. Er gab sie erneut ein und bestätigte.
Identität nicht gefunden. Bitte wenden Sie sich an den zuständigen Systemadministrator.
Er begann sich vor dem Anzug zu gruseln. Er sah sich um; er war der einzige Kunde. Dann griff er nach der Verriegelung des Kopfendes. Wenn der Anzug eingeschaltet war, konnte man sie nur fühlen und nicht sehen. Eine Weile tastete er über die künstlichen Haaren, die künstliche Stirn, die künstlichen Ohren.
Er fand ihn nicht, er war nicht da; hektisch zog er am Haaransatz, wo die unsichtbare Kapuze des Anzugs mit dem Rest der Suit verbunden war, riß daran, bis die ganz Stirn schmerzte . Es half nichts.
Ausstieg verweigert, ungültige IDENT-PIN. Bitte geben Sie ihre natürliche Identität an.
Die Angst in ihm wuchs. Warum ließ es ihn nicht hinaus? War war mit seiner Identität geschehen? Er gab sie noch einmal ein, diesmal geschah etwas.
Ihre Identität ist nicht existent. Es wird eine Verbindung zur Hotline hergestellt.
Er sah, wie der Anzug den Code wählte.
>>Blacksuit Support, Guten Tag, bitte schildern sie das Problem.<< sagte eine blecherne Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, er war sich nicht ganz sicher, ob er mit einer Frau oder einem Computer sprach. Er erklärte seine Lage, das Wesen am anderen Ende der Leitung schien einige Sekunden nachzudenken (oder zu rechnen).
>>Es tut mir leid, aber ich kann sie tatsächlich nicht in der Datenbank finden…<<, sie stockte, >>da scheint es doch einige… Anomalien in ihrem System zu geben. Von hier aus kann ich das Problem nicht lösen, sie sollten auf dem schnellsten Weg die nächste Filiale aufsuchen.<<
Er sah, wie der Routenplaner aufgerufen wurde, sie hatte die Adresse schon eingegeben.
>>Ich hoffe, Blacksuit Kreditkarten konnte ihnen helfen und bedanke mich für das Gespräch, Herr Doring.<<
Er stutzte.
>>Wie haben sie mich gerade genannt?<<
>>Doe. Oh, das ist die Firmenpolitik; solange ihre natürliche Identität nicht zweifelsfrei geklärt ist, werden sie von uns unter dem Namen John Doe geführt. Fassen sie das bitte nicht als Herabwürdigung auf.<<
Sie trennte die Verbindung. Der blinkende Pfeil vor seinen Augen wies den Weg zur nächsten Filiale. Alles würde in Ordnung kommen, wenn er dort war; er beruhigte sich wieder etwas. Er stellte den Einkaufskorb ab, die Tür öffnete sich. Auf der Straße angekommen folgte er den Pfeilen.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs, aber diejenigen, die er sah, wechselten die Straßenseite, wenn sie an ihm vorbeikamen. Er erkannte einen Nachbarn, oder zumindest glaubte er, dass sich unter der Oberfläche einer seiner Nachbarn verbarg. Der Zweifel begann an ihm zu nagen; was, wenn sie seine Daten wirklich verloren hatten? Wenn sie ihm nicht glauben würden? Das war so gut wie unmöglich, das wusste er. Wenn sie den Anzug entfernen würden, könnten sie sicher feststellen, wer er war. Aber dennoch; er hatte Angst. Was, wenn nicht? Wenn er unter dieser grässlichen Oberfläche gefangen bleiben würde? Seine Knie fühlten sich seltsam weich an.
Plötzlich wollte er nicht mehr allein dorthin gehen; seine Wohnung lag beinahe auf dem Weg, und so beschloss er, den Umweg in Kauf zu nehmen. Im Routingmodul fand er den Weg dorthin nicht – natürlich nicht, der Speicher war ja gelöscht worden. Also musste er sich mit einiger Mühe selbst orientieren.
Nach einer Weile bog er entgegen der Pfeilrichtung in eine Querstraße ab, die ihm bekannt vorkam; Alle drei Sekunden wies ihn die Stimme des Anzugs darauf hin, dass er umdrehen solle, er konnte es nicht abstellen.
Zu seiner Überraschung fand er das Haus sofort. Im Flur stank es nach Urin, das war ihm auf dem Weg nach draußen nicht aufgefallen. Vermutlich war auch das eine Fehlfunktion des Anzugs. Seine Hände zitterten leicht, als er auf den Summer drückte; das Schloss ließ ihn auch hier nicht passieren. Für einen Moment hörte er kein Geräusch aus der Wohnung, und er dachte darüber nach, ob er vielleicht an der falschen Tür geklingelt hatte. Dann jedoch hörte er Schritte. Die Tür öffnete sich, und seine Frau stand dahinter, in dem Skin, den sie zu Hause immer trug. Er war ihrer natürlichen Identität nicht unähnlich, nur waren die Konturen ihres künstlichen Gesichts etwas weicher, und ihre Augen hatten eine andere Farbe.
Er lächelte, bis er bemerkte, dass es nicht sein Lächeln war, sondern ein fremdes. Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich weiß, ich sehe seltsam aus, aber es gibt da einige Probleme mit dem Anzug. Ich muss zur Reparatur in die nächste Filiale, aber ich möchte nicht allein gehen…“. Seine Frau legte den Kopf schief.
„Wer sind sie denn?“ fragte sie, er hörte die Angst dahinter auch durch die künstliche Stimme hindurch, und ihm wurde etwas schwindelig.
„Ich bin es, dein Mann.“
„Wer? Ich habe keinen Mann.“ antwortete und zog die Tür ein wenig weiter zu.
„Liebling, ich bin es. Erkennst du mich nicht?“
„Ich hatte nie einen Mann“ sagte sie tonlos und mehr zu sich selbst, dann schlug sie die Tür zu.

„Ich hatte nie einen Mann“, sagte sie tonlos und er sah sich wieder im digitalen Spiegel des Supermarktes. Sein Kopf war ein Bildschirm und der Körper darunter steckte immer noch in dem grässlichen, falschen Skin. Der Kassenautomat hatte nun Augen und bediente sich selbst mit dünnen, metallischen Ärmchen, die aus der Verkleidung ragten.
A12Doring tippten sie auf der veralteten Tastatur, er sah die Zeichen in der Spiegelung des Bildschirms auf seinen Schultern. Die Zahlen verschwanden wieder, Identität nicht existent, bitten achten sie auf die Groß- und Kleinschreibung bei der Eingabe ihrer IDENT.
Seine Frau stand vor der verriegelten Ausgangstür und lächelte ihn und den Automaten seltsam an, ihr Mund öffnete sich,

Er erwachte auf der Türschwelle und sah die Köpfe zweier Männer mit identischen Gesichtern über sich, identische Skins bis auf die Kleidung. Der mit dem schwarzen Sakko sah ihn durchdringend an,
„Wir sind von der Wache.“ sagten die beiden fast zeitgleich mit ähnlichen Stimmen.
Der im schwarzen Sakko beugte sich zu ihm herunter;
„Wir nehmen sie fest aufgrund des Verdachts der Nicht-Identität“, er überlegte einen Moment, „sie sind nicht sie selbst.“, fügte er erklärend hinzu, im Hintergrund hörte er seine Frau leise mit dem anderen Agenten sprechen.

Sie lächelte fast hämisch, ihr Mund öffnete sich.
„Ich weiß ein Geheimnis…“ sagte sie, dann begann ihre Gestalt sich zu verändern.
Der Kassenautomat gab weiter stakkatohaft Zeichen ein, immer wieder. Auf dem Monitor, der einmal sein Kopf gewesen war, blinkte im selben Rhythmus
Doring nicht existent.
Für einen Moment erkannte er in den verzweifelten, aufgeklebten Augen der Maschine seinen eigenen blauen Augen, aber dann wurden sie grün, braun, rot, schließlich farblos.
Die Schultern der Frau wurden breiter, ihre Brust schmaler, ihr gelbes Kleid wurde kürzer und immer heller, alles zugleich, und nach einem Augenblick hatte sie den Skin der Agenten übergeworfen.
„Ich weiß ein Geheimnis“, flüsterte sie, „es gibt keine Blacksuit.“

„Seine Persönlichkeit destabilisiert sich, wir müssen die Suit jetzt entfernen.“ Er blickte an die Decke, dort war der Name Blacksuit Corp. eingraviert, in einem sich wiederholenden Muster. OP-Licht blendete ihn. Ein Mann stand neben ihm und hielt ein Skalpell in den Händen. Er sah auch die beiden Agenten mit den gleichen Gesichtern, der eine im schwarzen Sakko, der andere im weißen, der eine blickte ihn ernst an, der andere lächelte.
„Wir nehmen sie fest wegen des Verdachts der Nichtidentität. Sie sind nicht sie selbst.“ sagte der eine. Seine Arme und Beine waren an den medizinischen Stuhl gefesselt, auf dem er lag, er sträubte sich gegen die Ketten, als der Arzt noch einen Schritt auf ihn zu ging.

Sie lächelte ihn und den verzweifelnden Automaten hämisch an, „Es gibt keine Blacksuit.“

sagte der Agent im weißen Sakko, sein Kollege schien ihn nicht zu hören.
„Wir müssen jetzt anfangen.“, der Arzt setzte das Messer auf seine Brust, er tobte und schüttelte sich, riss mit aller Kraft an den Fesseln.
„Sie sind nicht sie selbst.“ sagte das schwarze Sakko,
der andere Agent lächelte still,
„Es gibt keine Blacksuit.“ flüsterte er noch einmal.
„Sein Anzug destabilisiert sich, wir müssen die Persönlichkeit jetzt herausschneiden.“ kreischte der Arzt, er hörte seine eigene fremde Stimme schreien, aber seine Schreie klangen wie das Wählgeräusch eines alten Modems,
„Sie sind schuldig des Vergehens der Nicht-Identität“, der Agent überlegte oder rechnete einen Moment,
„Sie sind nicht sie selbst.“
Es gibt keine Blacksuit.
Er brüllte vor Schmerz –

Sie sind nicht sie selbst.
Es gibt keine Blacksuit.

Es g7bt keiAe Black4uit.
Sie siBd nicFt sie sel5st.

A7 A767 F19AE 136A4F5F
1BC 4BDC 163F5 354 AD56B

1010001100 0111001110 1110001110 1001010111 1100101010 10101011111 101101000 000000111
1100101010 10101011111 101101000 000000111 1010001100 0111001110 1110001110 1001010111

Runlevel 0. System halted.

Erwache, Nichts.

Der Schalk im Nacken

Diesen Artikel drucken 20. November 2007

Er verfolgt dich, immerzu, und er wird lauter. Bald wirst du wahnsinnig sein; das wird geschehen, es geht nicht anders. Er ist stets bei dir, wie ein Schatten, du schaust die Nachrichten. Beckham kauft sich Schuhe für eine Million Dollar, in Darfur sterben schwarze Kinder, weil sie nichts zu trinken haben, HAHAHA!, HAHAHA!, da ist er schon, du wirst ihn nicht mehr los, HAHAHA!

Jeder Laut reißt ein Stück aus dir heraus, aus deinem Kopf, aus deinem Herz, aus deiner Seele, HAHAHA!, wieder ein Stück weniger. Der Antiterrorminister ist ein Terrorist, HAHAHA!, das Anschlagsopfer selbst ein Täter, HAHAHA! spuckt er dir ins Genick. Schweizer Schokolade finanziert afrikanische Bürgerkriege, HAHAHA!, nein – das ist doch wirklich zum Schießen, oder nicht, Schießen, HAHAHA! Man soll nicht verzweifeln, sagen Sie, und du verzweifelst ja auch nicht, nein, du verzweifelst zumindest nicht daran, dafür ist das Gelächter zu laut.

Du machst den Fernseher aus und verzweifelst nicht, das soll man ja auch nicht, oder. Aber eigentlich willst du nur dieses zynisches Gegacker in deinem Nacken loswerden, und für eine Weile ist es auch still. Du sitzt im Café und hörst die Leute reden, Hartz 4 ist ungerecht sagt der eine, zum Glück sind die Lebensmittel so billig, sagt der andere. HAHAHA!, da ist er schon wieder, HAHAHA!, diesmal muss er sich erklären. Woher kommen denn die ganzen Sozialkürzungen, woher kommen sie denn? Er prustet los. Du zahlst und gehst; die Einschläge kommen näher, du spürst es.

Irgendwann wirst du vor ihm stehen, mit geballten Fäusten. Das ist doch auch keine Lösung, wirst du ihn anbrüllen. Du weißt, was er antworten wird.

HAHAHA, du suchst noch nach einer L-Ö-S-U-N-G, HAHAHA!

Die Stadt und ihr Untergang (Poetry Slam – Vorrunde)

Diesen Artikel drucken 4. November 2007

Diesen Text habe ich anlässlich des Poetry Slams am 3.11. gelesen. Es handelt sich um eine gekürzte Variante eines längeren Textes, den ich später fertigstellen werde. Übrigens bin ich unter den zehn Teilnehmern der Vorrunde auf Platz drei gekommen. In der Finalrunde mit den drei Erstplatzierten habe ich dann (zusammen mit Dominik Bartels) einen guten zweiten Platz gemacht.

Das Ende war so leise in den kleinen Ort gekommen, dass die meisten es ignorierten, bis das Fernsehbild ausfiel. Begonnen hatte es mit verstörenden Meldungen, die mit der Zeit nicht klarer wurden, sondern immer bruchstückhafter, bis sie sich schließlich widersprachen. Der Physiklehrer der Oberschule im Ort hatte im eilig zusammengerufenen Stadtrat versucht, sie zu deuten, und hatte etwas von thermonuklearen Reaktionen und der Atmosphäre gemurmelt. Die anderen Anwesenden hatten artig genickt und kein Wort verstanden. Natürlich wusste auch der Lehrer nicht, wovon er da genau sprach, aber er war der einzige Physiklehrer im Ort und fühlte sich in gewisser Weise verantwortlich.
Kurz danach war das Fernsehbild ganz verschwunden. Aber auch diesen seltsamen Moment sah kaum jemand in dem kleinen Ort. Der Stadtrat hatte beschlossen, dass dieser außergewöhnlichen Lage nur eins zu entgegnen war: Normalität. Und so befand sich mehr als die Hälfte der Einwohner auf dem Schützenfest, dass man zu diesem Zwecke um fast eine Woche vorverlegt hatte. Das hatte den Zorn der Schützen erregt, aber unter dem Druck der Situation hatten sie schließlich eingewilligt.
Es war am darauf folgenden Sonntag, kurz nachdem auch das Radioprogramm seine Hiobsbotschaften eingestellt hatte, als der ortsansässige Pfarrer zum ersten Mal von der Apokalypse sprach. Nicht viele im Ort waren religiös, aber doch immer noch genug, um gerade angesichts der Situation einen angemessenen Gottesdienst abzuhalten.
Natürlich hatten sich schon viele im Ort darüber ihre Gedanken gemacht, sofern ihre Arbeit dies zuließ: Nicht zuletzt das stille, beständige Aufflackern des Horizonts während der Feierlichkeiten hatte bei vielen einen gewissen Eindruck hinterlassen. Auch kamen seit einigen Tagen keine Autos mehr über die nahe gelegene Bundesstraße in die Stadt, und diejenigen, die hinaus gefahren waren, waren nicht wieder gekommen. Der letzte Bus, der die Stadt erreicht hatte, war voller Verletzter gewesen, und selbst der oberflächlich kaum verletzte Busfahrer war nicht zu mehr als bloßem Gestammel fähig gewesen. All dies zusammen also hatte bei den meisten Einwohnern einige sehr elementare Überlegungen ausgelöst.
Dennoch ging ein obligatorisches Raunen durch den kleinen Kirchensaal, als der Pfarrer zum ersten Mal offen vom Ende der Welt sprach. Er tat es in der wohl gewählten Weise, die ein Pfarrer nun mal beherrschte, und die meisten Anwesenden sahen sich unsicher an oder nickten.
Auch dem Pfarrer war dieses Thema nicht geheuer, und so kam er etwas holprig auf die Wichtigkeit einer gewissen Ordnung und die weitgehende wirtschaftliche Unabhängigkeit einer Kleinstadt zu sprechen.
Nachdem er gesprochen hatte, verließen alle zügig die Kirche und begaben sich schweigend nach Hause.
In der Woche danach hörten die Blitze am Horizont plötzlich auf. Am Tag darauf kam der Sand.
Selbstverständlich war auch das dem Physiklehrer des Ortes unerklärlich, aber in inzwischen routinierter Weise erklärte er dem Stadtrat genau das, was eigentlich jeder sehen konnte: Der Sand kam. Es war ein hell-gelbliches, kleinkörniges Granulat (so hatte es der Lehrer bezeichnet), dass innerhalb von wenigen Dutzend Stunden das gesamte Umland bedeckte. Man entschied sich, einige Hilfskräfte zum Abtragen des Sandes an den Stadtgrenzen einzusetzen; die lokale Arbeitsvermittlung wurde damit beauftragt und brachte so, wie man in der lokalen Zeitung schrieb, drei Menschen in Lohn und Brot, die zuvor als Arbeitslose ein tristes Dasein geführt hatten. Zwei weitere wurden dazu abgestellt, ein örtliches Großlager freizuhalten, denn man hatte sich dafür entschieden, die dort gelagerten Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen. Zwar war bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Knappheit zu befürchten gewesen, dennoch wollte man lieber sicher gehen und gab so schweren Herzens der Enteignung des Lagers statt. Auch hatte sich der Rat darauf verständigt, eine generelle Ausgangssperre zu verhängen, was das Verlassen der Stadt anging; man hielt es für das beste, derartigen Exkursionen vorzubeugen.
Die meisten Menschen gingen weiterhin ihrer Arbeit nach und selbst am toten Bahnhof der Stadt lungerten dieselben Jugendlichen herum, wenn sie schwänzten; allerdings waren es seit dem Untergang mehr geworden. Meist saßen sie herum und tranken Bier, dass ihnen der Betreiber der Tankstelle verkaufte.
Dort tankten nicht mehr so viele Menschen wie vor der Apokalypse, aber es waren noch genug, um den Tankwart zu ernähren; natürlich waren etliche Personen, allen voran die Frau des Pfarrers und die des einzigen Buchhändlers, von der Lage am Bahnhof entrüstet, insbesondere auch vom dortigen Bierkonsum. Aber das war schon zuvor so gewesen, und so scherte sich auch niemand darum; es war das übliche Tagesgespräch, mehr nicht.
Anderen Geschäftszweigen dagegen ging es besser als vor dem Untergang. Man hatte die Lokalzeitung schon auflösen wollen, doch dann bemerkte man, dass sich die Zeitung besser als zuvor verkaufte. Zwar konnte man keine Agenturmeldungen mehr abschreiben, aber dafür war es nun leichter, das Bedürfnis der Leser nach lokalen Nachrichten zu befriedigen. Und so hatte sich Auflage des Blattes fast verdoppelt, während die Zahl der Seiten von 20 auf immerhin noch fünf geschrumpft war. Zunächst hatte man noch überlegt, alte Ausgaben der Klatschspalte anzuhängen, aber das Interesse an Tratsch beschränkte sich offenkundig nun auf die Stadt. Den größten Absatz fand in den ersten Wochen die Ausgabe mit dem Aufhänger “Satellit stürzt auf Stadt!”, denn tatsächlich stürzte, einige Tage nachdem der Sand gekommen war, ein Objekt von der Größe eines Wohnwagens kurz vor der Stadt brennend nieder. Der Artikel war insofern historisch, als dass er der erste war, der nicht mehr den Namen des Ortes im Titel trug, sondern schlicht nur noch von ‘der Stadt’ sprach; den Lesern fiel es nicht auf, in ihrem Sprachgebrauch war es nie anders gewesen.
Ganz entgegen der allgemeinen Vorurteile brach in keinster Weise Chaos aus. Es dauerte nur wenige Wochen, bis alle Begriffe für das, was früher ‚außen’ gewesen war, verschwanden: wirklich wichtig war das nie gewesen, und jetzt war da draußen wirklich nur noch der Sand, so weit man das beurteilen konnte.
Das Leben in der kleinen Stadt blieb, wie es war. Die wenigen, die die Welt nach der Apokalypse nicht ertrugen, brachten sich nach und nach um oder liefen in die Wüste, die vor der Stadt begann; viele waren es nicht. Die meisten lebten exakt das Leben weiter, dass sie auch geführt hatten, bevor die Welt draußen untergegangen war. Wer Arbeit hatte oder arbeiten musste, der arbeitete. Wer keine Arbeit hatte, der bemühte sich um welche, trank oder tat, wonach ihm sonst der Sinn stand. Die Lagerhalle, die von der Stadt okkupiert worden war, war schlicht riesig; Auch auf lange Sicht würde niemand verhungern müssen.
Abends sah man dann wieder fern. Es gab zwar kein aktuelles Programm mehr, aber letztlich war ja auch das immer eine endlose Wiederholung gewesen; also tauschte man Videoaufzeichnungen alter Sendungen aus, und außerdem war da ja auch noch die Videothek am Stadtrand.
Natürlich sahen nicht alle fern; einige, darunter auch die Frau des Pfarrers und des Buchhändlers trafen sich in kleinen Gruppen und sprachen über das, was sie für tiefsinnig hielten, lasen, sahen sich alte Vorführungen an.
Sie waren interessanterweise die ersten, die der Apokalypse etwas Positives abgewinnen konnten. Schon zwei Wochen nach dem Ausfall des Fernsehbilds saßen sie beisammen und stellten leise flüsternd fest, dass ihrer Heimstadt jetzt endlich die Bedeutung zukam, die ihr schon immer gebührte.