Klein Pāradies

Diesen Artikel drucken 25. November 2009

Eine Welle schwappt an den Strand, trägt kein Korn davon, fügt kein Gramm hinzu. Die Wellen kommen und gehen nicht – sie bleiben.

Du siehst hinunter auf den Tisch, siehst das mühevoll zubereitete Essen, das schöne Porzellan, die feinen Gläser. Du siehst auch die Gäste, allesamt Verwandte, Freunde. Und alle zusammen sind sie so – mühelos unbeschwert. Und ja;

Solltet ihr nicht glücklich sein? Könnte es nicht schlimmer sein? Könnte es nicht Krieg sein – könnte es nicht Hass sein?

Nein, nicht Krieg, nicht Hass. Nur Sand. Du weißt, unter den Tellern, unter den Gläsern, unter dem Tischtusch da ist der Sand; warm, weich, jedes Korn so weiß, so weiß, dass es schon fast weh tut – aber nicht weiß genug. Weiß, aber nicht zu weiß, warm aber nicht zu warm, strahlend aber nicht zu strahlend. Könnte es nicht viel schlimmer sein? Nein.

Du legst dich nieder in den Sand, hörst die immer gleiche Welle plätschern. Sie streicht über den Sand, verliert ihn wieder.

Weit hinten siehst du ein Boot, ein kleines Ruderboot. Es schwankt von links nach rechts, von rechts nach links.

Du könntest, ja du könntest damit fahren; nicht weit, einige Meter nur. Und dann würdest du zurückwollen und dich matt ins Wasser gleiten lassen. Zurückschwimmen; Schwimmen durch klares Wasser, warm wie der Sand. Durch kleine und große Wellen, kleine ,aber nicht zu kleine, große, aber nicht zu große Wellen. Schließlich lägst du wieder hier; im Sand. Unter einer Sonne, die dich nicht frieren lässt, aber auch nicht verbrennt. In Sand so feinkörnig und weiß und warm, in Sand der dich wärmt, der dich beschützt, der warm ist, weil er keinen Winter kennt und keine Nacht.

Du nimmst ein Stück von deinem Steak, führst die Gabel zum Mund; Oh, wie dieser Sand schmeckt, süß wie Kaugummi. Süß wie die Bonbons, die du als Kind so mochtest. Aber nicht zu süss, nicht zu fett.

Was treibt dich in diesen Sand, an diesen Strand, an dieses über und über vertraute Meer, das Meer ohne Horizont?

Was daran fasziniert, ist nicht sein Ferne; nein. Es ist seine Beständigkeit, es war schon immer da, es wird immer da sein. Du kannst es betreten, jeden Tag, jeden Mittag, jeden Abend. Es ist nie fer,n aber doch unendlich weit von dieser Welt, dieser Welt der Schwierigkeiten, weit von diesen Abgründen; diesen Dingen, die niemand will. Die du nicht willst. Dieser Strand, ja, dieser Strand, liegt dir immer zu Füßen. Du musst nur dorthin finden. Wenn du dort bist, dann legst du dich in den Sand. Du legst dich in Sand, der nie zu warm ist und nie zu kalt; du legst dich in Sand, der so warm ist, weil er keine Nacht kennt und keinen Winter.

Du kennst die Nacht; du kennst den Winter. Und deshalb bleibt er dir immer ein wenig fern, bleibt dir fremd, wie die Umarmung eines Fremden, die zwar zärtlich sein mag und auch gefühlvoll, dich aber niemals kennt; dich niemals verstehen kann, weil sie eben dich nicht kennt. Weil sie den Winter nicht kennt. Und die Nacht.

Du liegst in der Badewanne. Der Schaum ist ganz weich, das Wasser so warm und anschmiegsam. Und wieder ist es Sand: Sand, in dem du liegst an diesem Strand, der nur dir gehört. Es gibt dort keine Fernseher, kein Radio, kein Handy, auch wenn diese Dinge ein Weg zu ihm sein mögen; Es gibt dort niemanden, der dich informiert, belehrt, berät. Der dir sagt, dass diese oder jene Entscheidung notwendig ist oder wichtig. Für den Sand ist nur der Sand wichtig; dem Meer ist nur das Meer wichtig.

Und selbst wenn das Wasser immer das gleiche sein mag, und die Sandkörner, die sich so zärtlich an deinem Körper schmiegen, immer die gleichen Sandkörner sein werden: Ist es nicht richtig so? Ist es nicht dein Ort, deine Heimstatt?

Entspannt liegst du in deinem Sessel, und betrachtest flackernde farblose Bilder aus einer anderen Zeit, die es nie gab. „It will come to you, this love of the land. There’s no gettin‘ away from it.“, sagt ein Mann. Du kennst den Film, kennst sein Ende; du siehst gerne auf deinen Strand. Deine Gliedmaßen werden schläfrig, doch dein Geist reist ohne Mühe zwischen den zwei Welten, an deren einem Ende der Sand wartet. Warmer, weicher Sand. Einen Moment ist da die Fremdheit, das Wissen, dass dies nur Klein Pāradies ist; dann verschwindet jedes Gefühl. Könnte es nicht schlimmer sein? Solltest du nicht glücklich sein? Ja, es könnte schlimmer sein. Ja, du solltest glücklich sein. Dieser – dein Strand – verspricht nicht die Ewigkeit, er ist Ewigkeit.

Partner kannst du verlieren, Jobs, Freunde, Hobbies, Ziele. Der Strand wird immer das bleiben, was er ist; wird immer dort warten, wo er ist. Die Welt, ja selbst Scarletts Welt, ist nicht so weich und warm wie dein Strand. Andere mögen glauben, der Strand könne nicht der Bestimmungsort aller Leben sein. Es ist egal, denn andere gibt es an deinem Strand nicht. Nur dich, das Wasser, den Sand.

Du sitzt auf einem Stuhl in deinem Büro, blickst auf Zahlen und Daten und Aufgaben, auf viel zu wenig Zeit. Einen Moment Pause gestattest du dir, atmest tief ein und hörst das Rauschen der immer gleichen Welle. Denkst an den Strand, den du wieder betreten kannst, wenn die Uhr Sechs zeigt. Du weißt es genau: Um Sechs wirst du wieder da sein, schon auf der Autofahrt, vielleicht, wenn das Radio alte Musik spielt. Vielleicht auch schon auf dem Weg in den Fahrstuhl; die Türen werden sich öffnen, und du wirst lächeln, weil du gar nicht mehr im Lift stehst, sondern bis zu den Knien im Sand. Noch ist es nicht soweit; die Uhr zeigt Vier. Noch weißt du, dass es anderes gibt, andere Menschen, andere Ziele, andere Zwecke, anderen Schmerz. Bald wird eine Welle das Wissen davonspülen, genau wie jeden Gedanken. Als letztes wird ein bestimmter Satz verblassen, immer der gleiche.

Es gibt nur den Strand; mehr als Klein Pāradies kann man nicht erwarten.


PS: Die Notation Pāradies soll andeuten, dass die erste Silbe betont wird.
Dieser Text ist eine Niederschrift eines Improvisationsversuchs, den ich vor einigen Wochen per Mobiltelefon aufnahm. Die letzten vier Absätze habe ich nach der Abschrift hinzugefügt.

Sie suchen

Diesen Artikel drucken 23. September 2009

In den Taschen ihrer Sakkos
Zwischen den Ritzen ihrer Sessel
An den Rändern ihrer Vorgärten

Sie durchwühlen
Festplatten und Handyspeicher
Schränke und Handschuhfächer
Essensreste und Weinkeller

Zählen ab, zählen durch
Autos
Häuser
Jobs

Und finden nichts
Weil doch alles da ist
Alles an seinem Platz
Alles und

Nichts.

Eindrücke

Diesen Artikel drucken 5. Mai 2009

Die Tür geht auf, sie kommen herein – ein altes Ehepaar, zusammen sicher 170 Jahre. Fröhlich plappernd führt sie ihn zu seinem Platz im überfüllten Zug, der Stock klappert, der Gang ist unsicher, er will sich nicht setzen –
Sie soll sich doch sitzen, sie, nicht er selbst.
Geduldig erklärt sie ihm, dass sie doch stehen wolle, dass sie doch unbedingt stehen wolle. Nach einigen Sekunden fügt er sich, nicht mürrisch, sondern wie jemand, der weiß, dass der andere ihm kein Übel will. Dennoch fragt er nach, wieder und wieder, will sie sich nicht doch setzen, einige der Fahrgäste bieten der alten Dame ihren Platz an. Nein nein, sie wolle ja stehen, winkt sie ab und hält sich weiter an der Schulter ihres gebrechlichen Mannes fest. Er stellt auch andere Fragen; er fragt, wohin sie fahren (das habe er vergessen), ob sie schon an x vorbei sein, und ruhig und geduldig antwortet ihm seine Frau. In seinem fröhlichen, freundlichen Gesicht steht so etwas wie eine lausbubenhafte Amüsiertheit, und nur manchmal blitzt eine Unsicherheit in seinen Augen auf, vielleicht wegen der meist jungen, lauten Passagiere, vielleicht ob der eigenen Orientierung, ich weiß es nicht, kann es in den kurzen Momenten, in denen ich herüberblicke, nicht erkennen. Einmal noch stellt er seine Frage, sie antwortet wieder, fast stoisch, aber mit heiterer Stimme, doch diesmal folgt ein
„Glaubst du mir das nicht?“, mit einem Ton, nur eine Nuance anders, und er sieht sie an und schweigt.
Aber es ist egal, ob sie das immer sagt, wenn er etwas vergessen hat, es spielt auch keine Rolle mehr, dass sie ihn später zur Toilette führen wird und dass sie die ganze Fahrt über die Schulter ihres Ehemannes umklammert halten wird, denn ich sehe und höre es nur noch aus der Ferne, vor meinem Auge hat sich schon etwas anderes niedergesetzt. Ich sehe es schärfer und klarer als all die Menschen im stickigen Zugabteil, wie eine Messerspitze direkt vor dem Auge oder einen Krebs unter dem Mikroskop, kann den Blick nicht mehr abwenden.
Ich sehe zwei junge Menschen, die sich sehr nah sind, und ich sehe ein Versprechen (ihr beider Versprechen), und ich sehe Jahre um Jahre um Jahre, ich sehe und Glück und Leid im Strom der Bilder, sehe Kinder, junge Kinder, alte Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder, und ich sehe Angst und Wut und ein Versprechen, das gehalten hat.
Und ich sehe einen Mann, alt und zerbrechlich, manchmal trübe, immer noch zu Späßen aufgelegt, der manchmal nicht mehr kann wie er will (was er will), der manchmal nicht mehr aus dem Bett kommt, ohne dass sie hilft und der das alles manchmal weiß, wenn er morgens so da liegt und dann glaubt, seinen Teil des Versprechens nicht mehr zu füllen.
Der dann wütend ist auf sich selbst, der trotz seines gutmütigen Wesens manchmal seine dürren Beine hasst oder  seinen alten Kopf, und der zum Ausgleich dann wenigstens manchmal noch morgens den Kaffee bereiten will, während sie noch im Bette liegt.
Aus der Ferne sehe ich sie vor der Zugtoilette stehen, mit skeptischem Blick und unruhigen Füßen, und schon sehe ich diese Frau direkt vor mir, wie sie morgens manchmal in ihrem Bett sitzt, aufrecht und lauschend, mit ängstlichen Augen und es ihn doch machen lässt, trotz der Angst, trotz der Bedenken, weil sie weiß, dass er das braucht.
Eindrücke sind nur im Nachhinein schön oder hässlich, kitschig oder subtil; all das macht nur die Rückschau. Wenn man sie hat, dann sind sie nur das, was das Wort schon sagt; ein Druck, eine Gewalt, etwas, dem du dich nicht entziehen kannst. Du hast keinen Eindruck. Er hat dich.

Vater und Mutter

Diesen Artikel drucken 22. April 2009

Sie bemerkten das Klopfen nur, weil der Sturm eine kleine Pause einlegte, der das kleine Haus schon seit Stunden schüttelte und immer wieder bedrohlich laut aufstöhnen ließ. Und zunächst hielten sie das Geräusch auch für eine Täuschung, oder für Einbildung; als sie es aber erneut hörten, leise, aber deutlich, stand der Vater doch von dem Stuhl auf, auf dem er in der kerzenerleuchtenden Stube hockte, und ging langsam zur Türe. Besucher kamen selten, erst recht in dieser längsten Nacht des Jahres, die hier oben im Norden doch fast drei Tage andauerte, und so verrieten seine langsamen Schritte  auch ein gewisses Misstrauen.
Als er die Tür schließlich einen Spalt öffnete, schlug der Sturm einmal mehr zu und hob das schwere Holz fast aus den Angeln: Mit Mühe hielt der Vater die Lade fest und erblickte in dem Schneetreiben, das in die warme Hütte hineindrängte, die kümmerliche Gestalt, die für das Klopfen verantwortlich gewesen sein musste, fast nackt auf der Türschwelle liegen, Arme und Beine fast schon im Schnee begraben.
Als sie es hineinbrachten, waren sie sich sicher, dass das Kind im Sterben lag. Eiskalt war es, und seine Lippen waren blau, schienen fast gefroren zu sein. Die Mutter weinte; der Vater herrschte sie an, mehr um sie zu beruhigen, trug den Knaben in die Stube und ließ sie die beiden Kinder, die ängstlich in ihren Ecken kauerten, in ihre Betten bringen: sie sollten den beinahe toten Jungen nicht sehen. Er legte den Knaben auf dem großen Sessel ab, auf dem er zuvor gesessen hatte, und zog eine Decke hinter dem lodernden Ofen hervor, um sie über ihn zu legen. Einen Moment lang betrachtete er den Jungen, sprach ihn mehrmals an; die Augen des Knaben waren geöffnet, aber er schien nicht bei Sinnen zu sein. Der Vater horchte an seiner Brust: Der Atem war flach, aber regelmäßig, als würde der Junge schlafen.
Die Mutter, die die Kinder unter hastigen, aber liebevollen Worten in ihre Betten gebracht hatte, kehrte mit einigen heißen Tüchern und dem großen Wasserkessel zurück. Ihr Mann blickte sie prüfend an, dann verließ er den Raum, um die Tür zu schließen, die immer noch den kalten Sturmwind hineinließ. Kurz sah er nach draußen, doch er sah niemanden, keine Menschenseele, die mit dem Kind durch die Nacht gewandert war. Nicht einmal die Fußspuren des Jungen konnte er sehen, der Schnee hatte sie wieder bedeckt.
Als er in die Stube zurückkehrte, wickelte die Mutter den Knaben leise weinend in die heißen Tücher. Der Kessel mit dem Wasser hing bereits über dem Ofen. Der Mann strich der Mutter sanft über den Kopf, deutete ihr, sich zu beruhigen. Sie setzten sich auf die Kante des Sessels; die Mutter strich dem Knaben stumm über das Gesicht, das immer noch eiskalt war. Der Vater betrachtete die bläuliche Gestalt; auch in seinem Gesicht stand eine tiefe Betroffenheit. Eine halbe Stunde saßen sie dort so; einmal stand der Vater auf, um etwas Holz nachzulegen, ein weiteres Mal, um eine neue Kerze anzuzünden, und viele Male horchten sie an der Brust des Jungen. Aber sein Atem blieb, wenn er auch unter dem Geräusch des Sturmes schwer zu hören, regelmäßg; er starb nicht. Im warmen Licht der Kerzen schien sogar sein Gesicht langsam wieder etwas Farbe anzunehmen. Schließlich hörten sie, zunächst vom Wind verschluckt, sein leises Wimmern. Inzwischen war das Wasser in dem Kessel heiß genug geworden, um den Knaben mit weiteren Wickeln zu versorgen; die große Tonne, in der die Familie im Sommer badete, stand draußen und war sicher schneegefüllt, so dass sie den Junge nicht baden konnten. Als die Mutter ihm ein neues, heißes Tuch auf die Stirn legte, stöhnte er leise, und seine Augen bewegten sich für einen Moment, ohne eine bestimmte Richtung zu suchen. Wieder sprach der Vater den Jungen an, tätschelte seine Wangen, einmal, zweimal. Es dauerte einige Minuten, bis sein Blick das Gesicht des Vaters festhalten konnte; immer wieder fragte ihn der Vater, was geschehen sei, wo er herkomme, wie sein Name sei.
Als die Lippen des Jungen sich schließlich bewegten, hatte der Wind gerade nachgelassen; andernfalls hätten sie seine dünnliche, fast brechende Stimme kaum hören können. Seine Augen hielten sich, beinahe wie im Krampf, an dem Vater fest; kein einziges Mal sah er die Mutter an. Sonne, sagte er leise und immer wieder, Sonne, Sonne, Sonne. Sein Retter glaubte wohl, er sei noch im Traume oder im Wahn, und gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange: seine Frau griff augenblicklich nach der großen, groben Hand und sah ihn fest und böse an.
Doch der Klaps schien das Kind wirklich geweckt zu haben: es blickte sich um, bewegte sogar den Kopf, um das Innere des kleinen Raums in Augenschein zu nehmen. Lange blickte es in das Feuer, das in der Ecke des Zimmers brannte: seine Augen leuchteten, als es hineinsah, und für einen Moment sah man nicht, ob es die Augen selbst waren oder doch nur die Spiegelung des Feuers. Noch einmal stellte der Vater seine Fragen; das Kind wand ihm den Kopf zu, dachte wohl einige Momente über die richtigen Antworten nach. Ich lief, sagte es schließlich, wo ist meine Mutter, wo ist meine Mutter? Es wiederholte seine Frage, seine Stimme wurde leiser, und schließlich wurde sie wieder zu dem leisen Wimmern.
Der Vater versuchte, es zu beruhigen, erklärte ihm, dass sie seine Mutter sicher finden würden, fragte es wieder, woher es käme, woher er denn in dieser langen Nacht gekommen sei, nur solle es sich doch beruhigen, es sei hier erst einmal in Sicherheit. Der Knabe versuchte, sich aufzurichten, bis die Hand der Vaters es daran hinderte. Mit unruhigem Blick sah es die beiden an, sie wussten doch nichts davon, sie wussten es doch nicht, stammelte es schließlich, versuchte sich wieder aufzurichten, begann beinahe gegen den leichten Druck zu kämpfen, mit dem der Vater seinen Oberkörper auf dem Sessel hielt, bis die Mutter es leise ansprach und ihm deutete, dass jetzt alles gut sei. Für einen Moment sah der Junge die Mutter ganz starr an, als ob er sie zu erkennen versuchte, dann begann er zu krampfen; das Kind schüttelte sich, die kleinen Arme und Beine bewegten sich hektisch und unkontrolliert, und der Vater brauchte viel Kraft, um es auf dem Sessel zu halten. Draußen heulte und brauste der Sturm wieder auf, ließ die kleine, vom Schnee fast blinde Scheibe, durch die man im Sommer den nahen See sehen konnte, schwer in ihrem Rahmen zittern. Die Mutter kreischte auf, aber das ging im Geräusch des Windes unter, während der Vater weiter mit dem zuckenden Körper kämpfte. Mehr aus Hilflosigkeit schrie er sie an, das Riechsalz aus der Küche zu holen, und sie sprang auf um es zu holen, während die Wände des kleinen Hauses sich merklich bewegten, unter einem grässlichen Ächzen hin und her schwankten. Als sie zurückkam, schien sich der Krampf schon ein wenig gelegt zu haben; zu ihrer Beruhigung wurde auf der Sturm wieder etwas leiser, schickte nur noch schwache Böen gegen das Haus. Der Knabe zuckte noch von Zeit zu Zeit; aber offenbar war er wieder wach. Er starrte den Vater an, zunächst feindselig, dann ängstlich, schließlich wurde sein Ausdruck wieder freundlich, als wäre er aus einem Traum erwacht. Entsetzt von dem Geschehenen hielt der Vater ihn nur fest, so vorsichtig und sanft er es eben konnte; dann sprach der Junge wieder. Der Vater war der, der die Dunkelheit bringt und den Schnee; aber ich bin nicht sein Kind. Die Mutter war die, die das Licht bringt und alles Warme; aber ich bin nicht ihr Kind. Als sie die Worte hörte, legte die Mutter ihr Gesicht tief in Falten; ihr Mann griff nach ihrer Hand, um sie beruhigen. Der Knabe hätte wohl weiter gesprochen, ohne dass die beiden im Raum etwas verstanden hätten, wenn ihn nicht ein weiterer Krampf  geschüttelt hätte; wieder nahm der Sturm an Stärke zu, doch diesmal wurde er von den Geräuschen übertönt, die von dem Jungen aufstiegen, einem Würgen und Spucken tief in der Kehle, lauter, als man es bei einem solch kleinen Körper glauben würde. Ohne ein Wort des Vaters griff die Mutter nach dem großen Eimer, der unter einem Schemel in der Stube stand, doch als sie dem Knaben das Gefäß hinhalten konnte, hatte er schon große Brocken klebrigen Schnees erbrochen. Fassungslos sahen die beiden Älteren zu, wie das Kind immer wieder unter dem Aufheulen des Sturms und einem quälend tiefen Laut des Würgens Schneeballen herausbrachte; der Eimer war fast gefüllt, als es schließlich erschöpft in den Sessel zurückfiel. Die beiden sagten nichts zu ihm; kein Wort der Beruhigung fiel ihnen ein. Sie sahen sich nicht einmal an. Für einen Moment schloss der Knabe die Augen, schien sich zu entspannen. Schließlich war es die Mutter, die den Knaben ansprach und nach der Geschichte fragte, die er zu erzählen begonnen hatte: ihre Stimme zitterte dabei. Zunächst schien es, als hätte er sie nicht gehört; doch dann antwortete der Knabe, ohne die Augen zu öffnen.
Mutter und Vater hatten drei Kinder; doch nur zwei kamen zur Welt, Bruder und Schwester. Doch man sagte es ihnen nicht; sie konnten es doch nicht wissen. Das Gesetz befahl es.

Der Vater deutete seiner Frau, nicht weiter nachzufragen, um das Kind mit seiner wirren Erzählung nicht weiter aufzuregen, aber das Kind sprach von alleine weiter, mit ruhiger, fast schläfriger Stimme.
Die Tochter sollte im Reich der Mutter leben und nur dort; Der Sohn nur im Reich des Vaters und nur dort. Deshalb sind sie nach Norden gegangen, wo das Reich der Mutter und des Vaters länger währen. Sie wussten nicht davon; man sagte ihnen nicht, wessen Kinder sie waren. Das Gesetz befahl es.
Der Knabe öffnete die Augen, griff nach der Hand der Mutter, die sich wieder auf den Sessel gesetzt hatte; ihr Gesicht war kreidebleich geworden, war sie sich doch sicher, dass der Junge sterben würde und nur noch im Wahn zu ihnen sprach. Einen Moment schien das Kind zu prüfen, ob die Hand der Mutter warm genug war oder vielleicht, ob sie zu warm war, dann zog es die Mutter heran und legte die schlanke Hand auf die eigene Wange. Der Vater lockerte den Arm, mit dem er den Knaben auf dem Sessel gehalten hatte, und legte den anderen beschwichtigend auf die Schulter seiner Frau. Der Blick des Kindes verfinsterte sich schlagartig, und so etwas wie Hass blitzte urplötzlich darin auf; die Mutter deutete ihrem Mann mit der Schulter, den Arm zu entfernen: er tat es, doch es war schon zu spät; der Sturm donnerte, stärker als jemals zuvor, gegen das kleine Haus, und trotz der großen Statur des Vaters hatte er dieses Mal größte Mühe, den kräftigen kleinen Körper zu bändigen. Ein Ruck hob das Dach merklich an, und weiter hinten im Haus schrien die Kinder, unter ihren Betten liegend, aber das hörten die Eltern nicht. Sie sahen gebannt zu, wie der Knabe wieder Schnee erbrach, Schnee in solchen Mengen, dass sie einen zweiten Eimer holen musste. Schließlich beruhigten sich die beiden, Sturm und Kind, wieder, und der Junge fiel erschöpft zurück auf sein Lager. Der Vater hielt den Oberkörper des Jungen fest mit beiden Armen umklammert und lockerte seinen Griff nur wenig, als dieser wieder zu sprechen begann. Die Mutter strich dem Knaben sanft über die Stirn und sah ihn zweifelnd, aber mitleidig an: Beide bemühten sich, einander nicht zu berühren oder auch nur anzusehen.
Sohn und Tochter aber trafen sich, nachdem sich ihre Eltern längst für immer Lebewohl gesagt hatten. An zwei Tagen im Jahr konnten sie einander besuchen; sie wussten es doch nicht, das Gesetz hatte es bestimmt. Es war nicht ihre Schuld, dass man es ihnen nicht gesagt hatte. Bruder und Schwester erkannten sich nicht; wohl aber liebten sie einander. Bruder und Schwester bekamen einen Schandkind; des Gesetzes wegen bekam es keinen Namen und war nirgendwo zu Hause. Seiner Abstammung wegen kann es weder im Reich des Großvaters noch in dem der Großmutter leben; es lebt im Schnee und friert; es lebt in der Sonne und verbrennt.
Als der Junge seinen Satz beendet hatte, wirkte er wieder völlig klar. Er blickte kurz zu dem Vater, der ihn immer noch hielt, halb abwehrend, halb beschützend, dann zu der Mutter, deren Hand immer noch über seine Stirn strich. Die beiden sahen einander nicht an, sondern nur den Jungen; zu leicht hätte ein weiterer Krampf das Haus zerstören können. Einige Minuten war alles still: nur das leiser gewordene Rauschen des Windes war zu hören. Schließlich fragte die Mutter, halb über die eigene Frage zweifelnd, halb ängstlich, was man für das Kind aus der Geschichte tun könne.
Der Knabe schien nicht lange überlegen zu müssen; dennoch sah er die Mutter einige Minuten an, bevor er antwortete. Er schien in ihrem Gesicht etwas zu suchen, und als er es gefunden hatte, antwortete er schließlich. Das Kind leidet, es wird immer leiden; seine Abstammung ist unrein, und es wird nie einen Namen tragen. In der Dunkelheit friert und zittert es, und seine Eingeweide hassen die Kälte: In der Sonne aber wird seine Haut schwarz und dünn: sein Fleisch verbrennt. Am Tag vermisst es den Vater, der ihn zeugte; in der Nacht aber vermisst es die Mutter, die ihm sein Halbleben schenkte.
Der Knabe schaute die Mutter der beiden Kinder, die im Nebenzimmer unter ihren Betten lagen und wimmerten, streng an, als müsste sie jetzt verstehen. So saßen die drei dort einige Minuten und nichts geschah. Der Wind nahm wieder etwas zu, dann wieder etwas ab; die alten Dielen knarrten. Das Holz im Ofen knisterte.
Schließlich stand der Vater ohne eine Wort auf. Das Paar sah sich nicht an, sie sprachen nicht. Der Vater stand nur auf, ging in das Hinterzimmer, in dem die Kinder inzwischen vor lauter Erschöpfung unter den Betten liegend eingeschlafen waren, und schloss die Tür hinter sich.
Die Mutter dagegen deutete dem Junge, ein wenig auf die Seite zu rücken, und legte sich neben ihn: Der Knabe blieb stumm, aber in seinen Augen funkelte so etwas wie eine schläfrige Zufriedenheit.
Als der Vater einige Stunden später die ersten Sonnenstrahlen nach der langen Polarnacht sah, die durch die winzigen Ritzen in den Dielen schienen, ging er wieder hinüber in die Stube. Der Ofen war fast aus; ansonsten war alles so, wie es in der Nacht gewesen war. Auf dem großen Sessel fand er seine Frau vor, schlafend. Von dem Jungen war keine Spur geblieben. Nichts abgesehen von dem kalten Wasser in zwei Eimern.


Paladin

Diesen Artikel drucken 19. Januar 2009

PaladinSein Mut kennt kaum Grenzen; sein Einsatz ist unbegrenzt. Nur irdische Fesseln, nur der Tod seines Körpers kann ihn aufhalten. Sein Willen, seine Seele gehört einzig und allein der einen, der guten Sache. Er ist taub für Bestechung, Leid nimmt er stoisch hin. Er erträgt alles; er fühlt keinen Schmerz.
Wo immer es auch in seinem Einflussbereich ein Unrecht gibt, wirft er seine Kraft in die Waagschale und befördert das Gute, das Gerechte, das Unschuldige. Geachtet wird er von denen, die Recht tun und unter seinem Schutz stehen. Gefürchtet ist er unter denen, die in den Schatten kauern, deren Köpfe voller Hass und böser Absichten sind. Er steht allein; er fühlt keine Angst.
Irgendwo, vielleicht am anderen Ende der Welt, vielleicht nur einen Blick entfernt, gibt es noch andere wie ihn, das weiß er. Nicht alle kämpfen auf diesem, seinem Schlachtfeld; einige sind vielleicht Soldaten, andere Buchhalter, sie gleichen sich dennoch. Die Berufe mögen unterschiedliche sein, die Oberflächen, aber im Kern sind sie gleich. Und dennoch, eines Tages wird er fallen, und er wird allein sein; er fühlt keinen Gram.
Selbst, wenn er scheitern sollte, wenn sein Körper schließlich nachgeben wird, fürchtet er nicht um seine Mission: andere werden kommen und seinen Platz einnehmen.
Der Paladin unterwirft sich mit all seinen Eigenarten und Fähigkeiten dem einen Prinzip, das Gute zu verteidigen, unwiderruflich und absolut. Der Paladin ist blind für seine Schmerzen, für seine eigenen Bedürfnisse und selbstlos in jeder Konsequenz. Der Paladin ist mitleidlos und rücksichtslos, wenn er gegen das Böse kämpft, selbst wenn er töten muss. Der Paladin fühlt sich als Teil einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft aus vielen, die einen bilden; Der Paladin ist Faschist.

Weihnachtsmärchen

Diesen Artikel drucken 16. Dezember 2007

Dass ein Heilsbringer in diesen Monaten geboren worden sein soll, ist vielleicht ein Zufall, aber wenn, dann ist es ein bedeutungsvoller. Eine Nacht mit klarem Himmel und schneidender Kälte löscht all die verzweifelten Versuche aus, die den Raum zwischen uns und der Welt kitten sollen; daran ändern auch Lichterketten und Familiensinn nichts. Denn die Wahrheit, dass wir einen Erlöser brauchen, übersteht sogar Weihnachtsbaum und Kerzenschein.