Die Große Schande (5 – Finale)
16. April 2009Zeitindex +15
Natürlich hörte ich mich um, befragte Arbeitskollegen und Freunde, auch meine Frau. Aber selbst sie sagte mir nicht, wie sie abstimmen würde. Ich las natürlich die streng geheimen Meinungsumfragen aus meinem Verwaltungsbezirk, aber auch die waren allenfalls vage. Es hieß darin, dass die meisten Menschen eine Antwort verweigerten, und die, die antworteten, waren gegen das Vergessen. Das überraschte mich nicht. Auch ich wusste lange nicht, wie ich abstimmen würde: Meine eigene Entscheidung fiel erst am Samstag Abend, als ich erfuhr, dass Dr. Peter Den hingerichtet worden war, wegen angeblicher Verschwörung. Meine Vermutungen und die Gerüchte, von denen ich gehört hatte, setzten sich zu einem Bild zusammen. Ich konnte mit niemandem darüber reden, aber der Tod dieses Menschen, den ich nie getroffen hatte, machte mir endlich bewusst, was geschehen würde. Es gibt keinen guten oder plausiblen Grund, weshalb ich an diesem Abend in das feindliche Lager wechselte. Ich hatte schon lange nicht mehr um Moral nachgedacht, erst recht nicht über den moralischen Wert der Wahrheit. Vielleicht ist die Art von innerem Aufruhr, die auch viele der memento-Kämpfer motivierte, auch bei mir immer schon vorhanden gewesen. Ich glaube nicht daran, dass ich gute, ethische Gründe hatte: eine Laune war es aber auch nicht. Es war eine Affinität zur Wahrheit, die mich trieb. Es ging mir nicht um die Toten, auch nicht um die Verbrechen. Der Grund, weshalb ich zu einem Mitglied von memento wurde, war nur ein Hang zur Aufrichtigkeit. Eine Art Geschmack, den die Wahrheit für mich plötzlich gewann, wo sie kurz vor ihrer Vernichtung stand.
Am Sonntag ging ich zu der Wahl. Fotografen waren da und fotografierten mich und meine Frau bei der Abgabe unserer Stimmen. Auf dem Wahlzettel kreuzte ich „Vergessen“ an und bestätigte damit, wie ein Beisatz erklärte, dass ich jegliche Maßnahmen akzeptieren und unterstützen würde, die die Regierungsstellen zur Auslöschung der Großen Schande für notwendig erachteten. Ich hatte natürlich davon erfahren, dass sowohl Namen als auch Abstimmungsverhalten aufgezeichnet wurden, damit man wusste, wer was gewählt hatte. Die Wahl war nicht nur eine Wahl, sie war bereits ein Selektionsverfahren.
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Das Ergebnis fiel eindeutig aus und war, soweit ich das beurteilen kann, nicht manipuliert worden. Ich weiß nicht, ob sie so etwas erwogen haben, ich denke eher nicht. Es war aber auch nicht nötig. 92,4 % der Bevölkerung stimmten für das Vergessen. Ich hatte damit gerechnet, dass der Erdbund noch einige Vorbereitungen treffen musste, aber offenbar hatte man fest mit dem Ergebnis gerechnet. Die Einsatzkräfte waren auf Abruf bereit. Um 2 Uhr morgens am 6. Dezember 2094 bekam ich einen Anruf aus dem Büro. Man überließ mir zwar die Kontrolle über die Infrastruktur, machte mir allerdings klar, dass eine große Gruppe von Soldaten und Sonderkräften in meinem Verwaltungsbezirk mit dem Projekt begonnen hatte, und dass ich den Kommandeuren jede Unterstützung liefern sollte. Man stellte mir eine Liste zu, die einige Aufgaben benannte, die die Soldaten hatten. Darunter war etwa die Sicherstellung von allen medialen Inhalten mit Bezug auf die Große Schande, ebenso aller Dokumente mit Bezug auf den Zeitrahmen zwischen 88 bis 90. Ein anderer Punkt war das Ingewahrsamnehmen aller bekannten Mitglieder von memento und vergleichbarer Organisation, eben so das Ausfindigmachen aller Personen, die während der Zeit der Großen Schande aus welchen Gründen auch immer handlungsunfähig gewesen waren. Viele andere Zeilen in dem Dokumenten waren geschwärzt worden; selbst ich durfte nicht mehr wissen, worum es sich handelte. Mir war klar, dass man über kurz oder lang alle Menschen verhören würde, die gegen das Vergessen gestimmt hatten. Ein weitere Tätigkeit bestand in der Öffnung der vielen Massengräber, die es in meinem Verwaltungsbezirk und anderswo gab: die Leichen sollten abtransportiert werden, der Bestimmungsort war geschwärzt. Ich erfuhr ihn während meiner späteren Recherchen. Die meisten wurden im Meer versenkt, in einer Mischung aus Beton und Stahl. Nur einen Punkt auf der Liste verstand ich nicht: in Süditalien sollten riesige Mengen an Baumaterial akquiriert werden, um sie nach Norden zu bringen. Der Grund dafür wurde mir erst klar, als ich einen Satz neuer Schulbücher zugestellt bekam. Bisher hatte man in den Schulen das Thema ausgespart, und auch zu Hause wurde, soweit ich das anhand der entsprechenden Befragungsbögen ermessen konnte, nicht viel darüber gesprochen. Dieser Umstand rettete vermutlich Hunderttausenden von Kindern das Leben. Die neuen Schulbücher sprachen jedenfalls nicht von der Großen Schande, aber dafür von einem Meteoriteneinschlag von apokalyptischem Ausmaß. Der Meteorit war der neuen Geschichtsschreibung zu Folge, die ihr wahrscheinlich bisher für wahr hieltet, im Dezember 2088 in der Nähe von Zürich eingeschlagen und hatte Milliarden von Menschen getötet: Ihr Krater bildete dem Buch zu Folge das, was ihr Marquez-Rift nennt.
Als ich die Anweisungen zugestellt bekam, begann ich bereits mit meinen Recherchen. Ich tat alles, was von mir verlangt wurde. Ich versuchte nicht, Zeit zu schinden, sondern übergab alle Daten, die wir über memento hatten, auch fast alle Dokumente in Bezug auf die Große Schande und den gewünschten Zeitraum. Ich stimmte allen Maßnahmen zu, ich unterschrieb sogar Todesurteile, bis es zu viele wurden und man begann, sie maschinell zu erstellen. Das Volk hatte gesprochen, und mir war klar, dass es nicht mehr aufzuhalten war.
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Ich musste vorsichtig sein, und so kooperierte ich vollständig mit der Zentralregierung. Als Männer aus der Nachbarschaft vor der Tür standen, um mich, meine Frau und sogar meine Tochter über die Große Schande zu ‚befragen‘, hätte ich sie mit dem Hinweis auf meine Stellung abweisen können, aber ich tat es nicht. Während der Befragung gab ich sogar zu, dass ich meiner Tochter, die damals bereits 5 war, etwas von den wirklichen Ereignissen erzählt hatte. Das hätte ich nicht tun müssen, aber es bestand das Risiko, dass Widersprüche zwischen unseren Angaben einen Verdacht auf mich lenkten. Damit hatte ich die letzte Grenze überschritten; mein Verhalten mag herzlos wirken, aber früher oder später wäre es sowieso geschehen. Es reichte dem Erdbund nicht, die memento-Anhänger verschwinden zu lassen, normalerweise traf es auch die Familien. Ich hatte meine Wahl getroffen, und ohnehin, ich hatte schon einmal meine Familie im Stich gelassen. Ich tat es nun wieder, und ich empfand keine größere Reue als zuvor.
Die Sammlung von Daten erwies sich leider als schwieriger, als ich erwartet hatte. Dennoch habe ich einige genaue Angaben finden können, was die Position und Lage des ursprünglichen, des echten Kraterrandes angeht. Die kreisrunde Gestalt und die Ausdehnung wird meinen Bericht bestätigen; überprüft sie. Die Daten findet ihr am Ende des Berichts, ebenso wie genau Koordinaten der Massengräber in den Ozeanen. Ich konnte keine genauen Daten darüber finden, wie viele Menschen durch das Vergessen, durch den Erdbund zu Tode gebracht wurden. Selbst die direkte Frage danach hätte mich schon verdächtig gemacht: in meinem Verwaltungsbezirk sah ich etwa eine 200.000 geheime Todesurteile. Ich nehme an, man hat die Dokumente nach der Vollstreckung vernichtet. Auch ich werde bald zu diesen Verschwundenen gehören, wenn ich mir nicht das Leben nehme. Ich glaube, meine Frau hat bereits einen Verdacht, und vermutlich wird sie mich verraten, um unsere Tochter zu schützen. Ich kann es verstehen, auch wenn sie wissen müsste, dass sie damit auch ihr Schicksal besiegelt. Aber das bedeutet nichts; ich bin fertig mit meiner Arbeit.
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Dies ist der letzte Abschnitt meines Berichts: Die Sonde, von der ihr diese Datei erhalten habt, ist bereits fertig und liegt vor mir. Ich habe sie so konfiguriert, dass sie erst in genau 150 Jahren senden wird; falls sich ihre Lage nicht verändert, habt ihr sie in etwa 15 Metern Tiefe in einem Steinbruch bei Avaro, Sizilien gefunden. Ich habe sie selbst dort vergraben: Ich bin nicht wieder nach Italien zurückgekehrt. Die Gefahr, dass man meine Tätigkeit und die Position der Unterlagen aus mir herauspresst, ist zu groß. Es bleibt mir nicht mehr viel zu sagen: Heute ist der 12. März 2095, die Säuberung ist fast abgeschlossen. Die Menschen, die den Prozess schweigend erduldet haben, kehren langsam zu der seltsamen Art von Normalität zurück, die sie gewählt haben. Es macht ihnen nichts aus, an den seltsam leeren Häusern von Nachbarn und Verwandten vorbeizuschlendern. Nach allem, was ich erfahren konnte, funktioniert das Vergessen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dieses Projekt, diese Hoffnung auf Hoffnung zu zerstören, aber ich habe es getan.
Ihr kennt nun die Wahrheit. Lebt damit, wenn ihr könnt: Wir konnten es offenbar nicht.
Ende der Audiospur. Wechsle in den Datenbereich, Codierung binär:
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