Der Markt

geschrieben am 28. Oktober 2012 um 16:39 Uhr

In deepest hollow of our minds
A system failure left behind

Ich schob meinen Kopf nach hinten, damit sich die Kopfhörer lösten

And their necks crane
As they turn to pray for rain

Die Stimme verblasste, die Geräusche der Bahn wurden deutlicher.

Die Gruppe von Menschen, auf die ich aufmerksam geworden war, bemerkte mich kaum. Es war ein seltsamer Haufen, drei Männer und drei Frauen, alle in Kleidung, die für diese Jahreszeit und wohl auch dieses Jahrhundert mehr als ungewöhnlich war. Die Männer trugen Anzüge, aber keine modernen: Alt sahen sie nicht aus, aber der Schnitt und die Details erinnerten an das alte England. An ihren Westen baumelte deutlich sichtbar eine silberne Kette, und mit einer gewissen Regelmäßigkeit blickte einer von ihnen auf eine der silbernen Taschenuhren, die daran hing. Die Frauen – oder besser Damen – waren in aufwendige, in einer U-Bahn offensichtlich sehr unpraktische Kleider gehüllt, die sie trotz ihrer Jugend schwerfällig und ein wenig lächerlich erschienen ließen. Sie trugen aufwendige Hüte, die Herren nicht minder kostbare und anachronistische Dandy-Melonen. Allen gemein war dabei eine authentische Selbstsicherheit, um nicht zu sagen, Arroganz. Als sie in der 42. Strasse zugestiegen waren, hatten sie einige andere Fahrgäste nur mit ihren Blicken von den Plätzen vertrieben. Auf diesen Plätzen saßen nun die Damen in einer anmaßend geringschätzigen Haltung, während die Herren standen. Ich konnte ihr Gespräch nicht hören, aber die Silben, die die Bahn nicht verschluckte, klangen ebenso gestelzt wie es das Auftreten der Gruppe vermuten ließ.

Die Bahn hatte schon zweimal gehalten, seit sie eingestiegen waren: Als die Bahn zum dritten Mal abbremste, reichte ein jeder Herr wie auf ein geheimes Kommando hin seiner Dame eine Hand, und jede der Damen quittierte diese antiquierte Ehrerbietung mit einem kalten Lächeln, dass weniger Dankbarkeit oder Freude auszudrücken schien als vielmehr die Anerkennung von Pflichterfüllung. Als der Zug hielt, stiegen sie aus, in einer wie abgesprochen wirkenden Reihenfolge, erst ein Herr, dann die Damen, dann die beiden anderen Herren. Ich schob die Kopfhörer in die Jackentasche: Ich hätte noch zwei Stationen fahren müssen, doch ich beschloss ihnen zu folgen.

Ich ging in einigem Abstand hinter ihnen, kam ihnen aber schließlich sehr viel näher, als ich beabsichtigt hatte, weil die Drehkreuze der U-Bahn für die Damen mit ihren viktorianischen Kleidern eine gewisse Herausforderung darstellten; sie meisterten sie, ohne ein einziges Mal diesen halb-spöttischen, überlegenen Ausdruck zu verlieren. Als wir schließlich an der Oberfläche ankamen, blieben sie plötzlich stehen, und ich ging, so langsam wie es mir möglich war, an ihnen vorbei; sie starrten auf eins der Hochhäuser, den BoA-Tower. „Die Rendite wird unaufhörlich steigen“, hörte ich einen der Herren sagen. Die Damen kicherten kurz vergnügt, als hätte er etwas beinahe Anstößiges gesagt, und das Kichern verwandelte sich in einen tadelnden Blick. Ich blieb an einem Zeitungsstand stehen, damit sie aufholen konnten. Während ich Kaugummi kaufte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie sie sich ihren Weg bannten. Die Bürgersteige waren voll, aber noch nicht überfüllt: Wenn man ab und zu einem Entgegenkommenden auswich, kam man zügig voran. Sie jedoch machten nicht die geringsten Anstalten, auf andere Fußgänger zu achten. Die Damen waren von zwei der Herren flankiert, der dritte ging einen Schritt oder zwei voran. Alle drei trugen wuchtige Spazierstöcke, die sie demonstrativ schwangen und hier und da einen Passanten zur Seite schoben oder ihn nur drohend erhoben, wenn ihnen jemand zu nahe kam. Niemand echauffierte sich; die Menschen senkten den Kopf und liefen auf die Straße, umgingen die Gruppe. Als sie mich passierten, schob mich einer der Herren barsch beiseite und bedachte mich eines Blicks. „Dort entlang!“, hörte ich einen der Herren sagen, und er wies auf ein Schild, das an einer Laterne angebracht war. „Straßenmarkt“ stand darauf, ein Pfeil wies die Richtung.

Ich folgte ihnen weitere zwei Blocks, bis sie abbogen; die Gebäude wurden hier rasch flacher, und hinter uns ragte der Tower weit sichtbar auf. In der Entfernung konnte ich den Fluss sehen. Ich blickte auf meine Taschenuhr: Es war noch Zeit.

Nur einige Hundert Meter weiter erkannte ich ihr Ziel; es war ein abgezäunter Parkplatz, auf dem der Markt stattfand, zwischen zwei Highway-Auffahrten. Hier und da war der Zaun aufgerissen, und nur noch einige schiefe Schilder wiesen darauf hin, dass der Boden zum Verkauf stand und dass man einstweilen sein Auto hier abstellen konnte, gegen eine für diese Gegend lächerliche Gebühr. Die Straße endete weit vor dem eigentlichen Gelände, und die Gruppe verlangsamte, weil die Damen Hilfe benötigten, um zwei oder drei große Pfützen zu überwinden, in denen das Wasser des letzten Regens stand. Das schien ihre Laune nicht zu trüben, im Gegenteil. Je näher sie dem verwahrlosten Grundstück kamen, desto gelöster schienen sie. Eine der Damen, augenscheinlich die jüngste, lachte mehrfach laut auf und klatschte in die Hände, bis eine der anderen sie offenbar auf die Gepflogenheiten ihres Standes hinwies. Sie beruhigte sich schnell, doch immer wieder kicherten die drei, und ein oder zweimal lachten auch die Männer ihr Ho-ho-ho, das wie aus einem schlechten Film zu kommen schien.

Als wir dem Gelände schließlich immer näher kamen, sah ich den ärmlichsten Markt, den ich mir vorstellen kann. Es schien mir mehr ein Flohmarkt denn ein Straßenmarkt zu sein: Es waren grob geschätzt vielleicht 100 winzige Stände, an Menschen Dinge verkauften, die andere wohl wegwerfen würden; uralte, abgewetzte Kleidung, altes Werkzeug. Halb geborstene Spiegel; An einem Stand verkaufte ein nervöser dicker Mann mit nur einem Arm verdrecktes Elektrowerkzeug direkt aus seinem Kofferraum. An einem anderen bot eine schäbig gekleidete Frau, die sowohl 20 als auch 50 hätte sein können, Waffeln an, deren Teig sie in einer alten, verkrusteten Schüssel vorhielt. Auf einem aus grober Pappe herausgerissenen Schild vor ihr prangte der Schriftzug ’50 Cent“. Zwei dürre Hunde, die ein trauriges Pärchen abgaben, dass nie so recht zusammengepasst hatte, schlichen geduckt zwischen den Ständen hin und her, bis sie hier oder da einen Tritt bekamen. Die Hunde wie auch der ganze Markt schienen nur eine Farbe zu haben: Grau. Alles war von einem dünnen, aber dominanten Schleier des Gräulichen bedeckt, selbst die fleckigen Bananen, die ein alter Mann in einem ranzigen Rollstuhl an seinem Stand verkaufte, waren grau. Grüne, gelbe, rote Pullover, allesamt wie aus der Altkleidersammlung – grau. Selbst die Menschen hinter den Ständen war auf so hoffnungslose Weise vergilbt, dass ich immer neugieriger wurde, was diese Gruppe von seltsam gekleideten Menschen hier suchte. Und es war nicht nur das Grau; über dem ganzen Ort hing etwas Hoffnungsloses. Kaum jemand bewegte sich zwischen den Ständen, niemand schien etwas zu kaufen. Allein eine Gruppe von verdreckten Kindern in Kleidung, für die jedes einzelne entweder schon zu groß oder noch nicht groß genug war, schlich umher und erwartete wohl, dass hier oder dort etwas abfallen könnte; davon abgesehen waren es nur Verkäufer, die gelangweilt die Auslage der Konkurrenz musterten, und danach wieder zu ihrem Stand zurückkehrten.
Die Viktorianer waren am Rand des Marktes stehen geblieben und schienen angeregt und deplatziert fröhlich darüber zu diskutieren, in welcher Richtung sie den Markt zuerst erkunden sollten. Ab und an wies einer in einer Richtung, dann ein anderer in eine andere: Schließlich zückten einer der Herren eine Münze und warf sie in die Luft. Die Kinder hatten die Neuankömmlinge inzwischen erspäht und hatten sich in einiger Distanz postiert. Ich konnte sehen, wie ihre Augen gierig der Münze folgten. Die Herren lachten vergnügt auf, als sie das Ergebnis ihres Münzwurfs begutachteten, und auch die Damen kicherten wieder. Achtlos warfen sie die Münze in Richtung der wartenden Kinder, die sich mit großes Geschrei darauf stürzten. Amüsiert setzte sich die Gruppe in Bewegung.

ich folgte ihnen in großem Abstand; von mir schienen die Kinder weniger Notiz zu nehmen, aber die Viktorianer behielten sie im Blick. Während wir links und rechts die ersten Stände passierten, warf ich einen weiteren Blick auf die Auslagen. Alte CDs mit kaputten Hüllen wurden angeboten: schlecht kopierte DVDs, billiges, immer blinkendes Spielzeug aus China zu horrenden Preisen. Die Verkäufer schienen alle vom Leben oder vom Schicksal gezeichnet. Einigen fehlten Gliedmaßen; andere saßen im Rollstuhl. Wieder andere wirkten auf den ersten Blick gesund, aber viel zu dünn oder viel zu dick für ihre Größe. Allen gemein war dieser Grauschleier und, prägnanter, der flehende Ausdruck in ihren Augen, den sie mir entgegen brachten. Ich bin mir sicher, dass dieser Markt für viele der einzige Weg war, den Lebensunterhalt zu verdienen, und auch das trug zu dem jämmerlichen Eindruck bei, den die ganze Szenerie bei mir verursachte.

Den Viktorianern schien das nichts auszumachen; sie lachten vergnügt über dieser oder jenes. An einem Stand mit Spielzeug blieben sie einen Moment stehen und schienen über die Waren oder über den Verkäufer, einen Jungen von vielleicht 17 Jahren zu lachen. Sie setzten ihren Weg fort, und ich konnte keine Regung im Gesicht des Jungen erkennen, bis auf das Flehen, dass ich bei allen sah. Ich dachte darüber nach, ihm etwas von seinen Grässlichkeiten abzukaufen, als die Gruppe vor mir noch lauter wurde: Sie hatten an einem Stand angehalten, hinter dem ein sehr alter Mann saß, ein Barrett auf dem Kopf. Vor ihm ausgebreitet lagen Abzeichen oder Medaillen militärischen Ursprungs, und er selbst trug einige an seiner vergilbten Uniform. Einer der Herren hatte einen der Orden genommen und der Jüngsten in der Gruppe angeheftet. Heftig lachten sie über den Scherz; Ohne den Veteranen auch nur eines Blickes zu würdigen, reichte ihm ein anderer Herr seine Taschenuhr, und der Handel schien damit besiegelt. Und auf eine seltsame Weise schien sich damit eine Verabredung zu schließen, die die Sechs hatten. Plötzlich teilte sich die Gruppe; die Damen gingen an einen Stand, die drei Männer an einen anderen. Einer der Herren tauschte seinen Schal gegen einen gelblichen Pullover; die Damen tauschten ihre Hüte gegen alte Turnschuhe, eine zerbrochene Haarnadel und einen kaputten Plattenspieler, dann ihre Schuhe gegen drei Hosen, und schließlich tauschten die Viktorianer in einer solchen Geschwindigkeit ihre festliche, schillernde Kleidung gegen Altkleider und Nippes, dass ich nicht mehr im einzelnen folgen konnte. Mehr noch, sie zogen ihre Erwerbungen auch direkt an, und hielten das ganze wohl für einen Scherz von gigantischem Ausmaß; jede Scham, jeder altbackene Anstand, den sie zuvor so deutlich präsentiert hatten, schien vergangen. Die Damen tauschten ihre Korsagen, selbst ihre Miederkleider; die Männer erwarben einen ganzen Karton voller beschädigter Elektronik im Tausch für ihre Spazierstöcke. In nur wenigen Minuten war die Gruppe der Viktorianer verschwunden, und ich hatte Mühe, sie noch von den Verkäufern und ihrem Elend zu unterscheiden. Die Damen trugen hässliche Oberteile über Hosen, die ihnen viel zu weit waren; eine hatte sich einen ehemals grell-grünen Minirock über die Hose gestreift. Die Männer sahen nicht minder ärmlich aus. Zwei von ihnen zogen zwei große, dreckige Kartons hinter sich her; die feinen Hemden, die Westen und Oberteile waren verschwunden und gegen dreckige und vergilbte T-Shirts getauscht worden. Der dritte von ihnen aß gierig eine Waffel. Erst als keiner der sechs mehr etwas zu tauschen hatte, endete ihre seltsame Verwandlung. Einer fand noch seine Fliege um den Hals baumeln, und ohne einen Moment des Zögerns warf er sie auf den Boden. Hinter mir schlichen einige der Kinder heran und stritten sich darüber, wer sie behalten dürfe.

Schließlich vereinte sich die Gruppe wieder, und lachend besahen sie die jeweils anderen, zupften aneinander, als könnten sie ihr neues Aussehen selbst noch nicht so ganz fassen. Dann, nach einigen Minuten verstummte ihr Lachen; ohne ein Wort gingen sie weiter, die Damen voran, deren Gang sich geändert zu haben schien, hinter ihnen die Männer mit ihren Kisten. Sie würdigten keinen der Stände mehr nur eines Blickes, und erst als wir beinahe am Ende der Reihe von Ständen angekommen waren, erkannte ich ihr Ziel; dort, hinter den ärmlichsten der ohnehin ärmlichen Stände, war ein rechteckiger Platz frei. Sie hielten dort, und ohne ein Wort der Absprache verteilten die Männer den Inhalt ihrer beiden Kartons dort auf dem Boden. Einer hatte auch eine löchrige Decke erstanden, diese legten sie zu unterst. Die Damen setzten sich auf den Boden dahinter; eine stellte eine winzige Kasse auf. Es dauerte nur wenige Momente, bis sie ihren Stand aufgebaut hatten.

Ich war stehengeblieben, als das Schauspiel begonnen hatte. Nun saßen sie alle dort auf dem Boden, keiner von ihnen sprach. Sie trugen den Blick, den ich auch bei den anderen Verkäufern gesehen hatte; ihre Augen flehten mich an, etwas zu kaufen. Als ich näherkam, tippte ich mir an den Hut. Zunächst reagierten sie nicht, dann drehte einer der Männer den Kopf zu mir. „Die Kurse steigen, die Kurse fallen“, erklärte er, und die Frauen kicherten wieder, nur um dann plötzlich zu verstummen, als hätten sie sich verraten. Ein anderer der Männer deutete mir, näher zu kommen, zog mich ganz zu sich. Scheu blickte er sich um, dann flüsterte er. „Seien sie unbesorgt, Sir. Die Kutsche zum Tower ist bereits auf dem Weg.“

 

 

Die einleitenden Zeilen stammen aus Pray For Rain von Massive Attack. Sie können als Inspiration zu diesem Text betrachtet werden.

Gescheitert

geschrieben am 1. April 2012 um 19:22 Uhr

Als die Straßenbahn rumpelnd auf dem Marktplatz hielt, fiel er mir zum ersten Mal auf. Ich blickte aus dem Fenster, und da stand er zwischen den anderen Menschen, die an der Haltestelle warteten. Vielleicht hätte ich es gleich sehen müssen; vielleicht wollte ich es nicht erkennen. Andererseits trug er eine Kappe, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, und eine Kapuzenjacke, so dass es schwer war, das Gesicht zu erkennen. Bei diesem Wetter war eine derartige Vermummung nicht ungewöhnlich: viele der Wartenden trugen Winterjacken und dicke Mützen. Ich weiß auch gar nicht genau, warum er mir auffiel: Da war etwas Vertrautes in seiner Statur, seiner Haltung. Und etwas Fremdes, eine irritierende Mischung. Jemand anders hätte vielleicht nur einen weiteren Wartenden gesehen, hätte nicht registriert, wie sehr er sich von den anderen abhob, doch genau das tat er: In dem Moment war er mir nicht wichtig genug, um weiter darüber nachzudenken, aber da war etwas. Irgendwie erschien er mir hier falsch zu sein, er sollte eigentlich woanders sein, nicht hier. Und ich hatte das Gefühl, als ob ich ihn schon einmal gesehen hatte, genau an dieser Haltestelle. Ich registrierte noch, wie er einstieg. Ich sah auch die Tasche, die er bei sich trug: sie hatte eine seltsame Farbe, und obwohl der Name darauf wohl eine Marke bewarb, kannte ich sie nicht. Dann blickte ich wieder auf mein Buch. Die Straßenbahn fuhr mit einem Ruck wieder an.

Das Buch hatte mir ein Freund gegeben; ich las es eigentlich nur, damit ich in meinem beruflichen Umfeld ein wenig mitreden konnte. Ich hatte für Philosophie nie viel übrig gehabt, und mit diesem Buch war es nicht anders. Im wesentlichen war es eine Abhandlung über den Begriff der Person. Der Verfasser, der wohl eine Größe in der akademischen Welt sein musste, argumentierte dafür, dass es eigentlich eine naive Sicht sei, Personen als irgendwie zusammenhängende Wesen zu begreifen. Ich muss zugeben, dass ich die Vorstellung irgendwie interessant fand. Schließlich begriffen wir uns doch stets als ein Wesen, ein Subjekt, an dem die Zeit und die Welt gewissermaßen vorbeiströmten. Natürlich veränderte uns die Zeit; natürlich würde ich nächstes Jahr jemand anders sein als heute. Aber ein Kern, ein zentraler Punkt, der blieb der gleiche, eben das, was wir Person nennen. Der Autor des Buches sah das ganz anders; für ihn war ich in dieser Sekunde eine Person, im nächsten eine andere. Was uns verband und sozusagen zu scheinbar einer einzigen Person zusammenschweißte, das waren nur die gemeinsamen Erinnerungen. Auf einer Feier hatten einige meiner Freunde darüber diskutiert, ich hatte das ganze eher amüsiert verfolgt, und mit der gleichen Ernsthaftigkeit las ich jetzt auch dieses Buch. Am Ende war es ja egal: wir waren, wer wir waren, daran würden Worte nichts ändern.

Ich sah, das meine Haltestelle die nächste war. Ich klappte das Buch zu; es ist wohl eine in gewisser Hinsicht zynische Wendung, dass ich den Satz, den ich gerade gelesen hatte, niemals zu Ende las. Vielleicht sollte man immer, wenn man ein Buch zuklappt, wenigstens den Satz beenden. Nicht wegen des Inhalts, nur wegen der Geste. Ich steckte das Buch wieder in meinen Rucksack, stand von meinem Platz auf und ging die paar Schritte zur Tür. Ich musste niemanden bitten Platz zu machen. Üblicherweise war die Bahn zu dieser Zeit überfüllt, doch nicht heute: Ich nahm das beiläufig wahr, ohne mir etwas dabei zu denken. Als der Wagen die letzte Kurve nahm, lehnte ich mich zur Seite: Es gab da eine kleine Unebenheit der Strecke, die ich gewohnheitsmäßig schon erwartete. Ich hasste es, die Haltestangen der Bahn zu berühren, ich musste mir immer vorstellen, wer und was sie schon benutzt hatte. Es war eine fast unbewusste Handlung, und ich hätte sie gar nicht an mir selbst bemerkt, wenn nicht ein anderer schräg hinter mir die gleiche Bewegung gemacht hätte. Ich sah mich nicht um, konnte ihn nur aus den Augenwinkeln erkennen. Zunächst erschien es mir einfach zu belanglos, um mich deswegen nach dem anderen umzudrehen: Als ich bemerkte, dass es der Mann mit der Cap und der Kapuze war, wagte ich es nicht mehr. Ich weiß nicht weshalb: ich fühlte mich plötzlich wie ein Kind, dass es nicht wagt, unter sein Bett zu schauen. Ich wusste, ich und der Mann, wir kannten uns. Er sprach mich nicht an, vielleicht war es ihm auch sehr lieb, dass ich stur auf die Tür starrte; dreh dich bitte nicht um, ja, ich glaube, so etwas wird er gedacht haben. Die Unebenheit kam, wo wir sie erwartet hatten: das Rütteln zog unsere Oberkörper wieder in die Gerade. Ich sah das Verlagshaus schon. Für einen seltsam gedehnten Moment dachte ich daran, was ich heute alles tun würde, nach meiner beschämend langweiligen Arbeit. Ich freute mich auf das Abendessen mit Anna, auf ihren Körper. Ich freute mich auf mein Bett und den Urlaub in drei Wochen. Dann hielt die Bahn: es dauerte immer einige Sekunden, bis sich die Türen öffneten. Ich hustete, um meine Nervosität loszuwerden; es funktionierte nicht. Der Mann hinter mir stand völlig regungslos, soweit ich das erkennen konnte. Als ich begriff, dass seine Bewegungslosigkeit kein Warten, sondern ein Zögern war, da war es eigentlich zu spät. Die Tür öffnete sich; ich sah den Schlag nicht, aber eine Bewegung. Ich fiel aus der geöffneten Tür; ich fühlte meine Beine zucken. Ich starb.

Ich brauchte drei Anläufe dafür: beim ersten Mal brachte ich es nicht einmal fertig, in die Bahn einzusteigen. Ich redete mir ein, es habe an der Menge von Leuten gelegen, aber das war natürlich Unsinn. Die Leute waren mir egal: Ich war einfach kein Mörder, das war alles. Ich suchte nach einer anderen Gelegenheit: Anderthalb Jahre später bot sich eine, in einer Hütte in den schottischen Bergen. Auch dort brachte ich es nicht fertig. Ich stand vor dem Bett, mitten in der Nacht. Ich hätte nur zuschlagen müssen, aber ich konnte es nicht. Dieses Mal war es nicht der Mut, der mich verließ; ich hatte nicht bedacht, dass sie auch dort war. Natürlich hätte ich alles dort beenden können, aber es wäre nicht richtig gewesen. Es wäre ein zu großer Schock für sie gewesen. Letztlich kehrte ich doch zu dem Tag zurück, den ich ursprünglich ausgewählt hatte. Ich hatte ihn mit Bedacht ausgesucht; die Bahn war nicht sehr voll gewesen, und die Videoüberwachung wurde in dieser Woche gewartet, so dass man es nicht aufzeichnen würde. Niemand war dort ausgestiegen, von mir einmal abgesehen. Aber zwischen dem Zusammentreffen in Schottland und dem in der Bahn vergingen einige Jahre; ich hatte erkannt, dass ich mich nicht von Hass leiten lassen durfte. Soviel hatte ich verstanden; Sich selbst zu hassen war im Grunde die gleiche Art von arroganter Selbstgefälligkeit, die sich auch im Hass auf andere fand. Es war einfach, es war billig zu hassen. Die Dinge wurden dann ganz einfach, weil sich der Versuch das Falsche im Anderen – oder eben in einem selbst – zu heilen von selbst verbat; es blieb nur die Auslöschung des Falschen, zusammen mit dem Anderen. Also versuchte ich es auf andere Weise: Ich passte mich auf einem langen Spaziergang durch den Wald ab. Stundenlang redete ich mit mir selbst; ich erklärte, was geschehen würde, welche Abzweigungen er in seinem Leben auf gar keinen Fall nehmen durfte. Ich versprach mir, es anders zu machen; ich schwor es. Ich glaubte mir, und das war der Fehler; es änderte sich nichts, gar nichts. Ich beließ es nicht bei dem einen Versuch; zweimal, dreimal besuchte ich ihn/mich noch, einige Jahre vor dem Spaziergang im Wald, einige Jahre danach. Am Ende erkannte ich, wie unausweichlich es blieb. Egal, welchen Zeitpunkt ich wählte; diese Falschheit, diese Brutalität, diese Verlogenheit war schon immer in mir gewesen. Natürlich hatte ich mir jedes Mal geglaubt als ich schwor, ihr niemals ein Leid anzutun, und mit ebensolcher Selbstverständlichkeit hatte ich es am Ende doch getan. Mich und meine vielen Alter Egos trennte die simple Erfahrung, sie wirklich zu Grunde gerichtet zu haben, und das war ebenso unaufhebbar wie unvermittelbar. Ich konnte, ich wollte es auch nicht ein viertes, ein fünftes Mal versuchen. Bei meiner Rückkehr hatte ich jedes Mal gehofft, ja gebetet, dass ich es dieses Mal geschafft hatte, mich zu überzeugen, und jedes Mal stand ich doch erneut an Annas Grab. Es kam mir der Gedanke an dieses Buch, und an das, was ich damals darüber gedacht hatte; wir waren, wer wir waren, und Worte konnten daran nichts ändern. Also kehrte ich zu meinem ursprünglichen Plan zurück. Es gab, das war mir klar geworden, keine andere Möglichkeit, und demnach war es auch kein Hass, der mich dieses Mal in die Bahn einstiegen ließ. Ironischerweise war mein Antrieb sicher der Charakterzug, dessen Wirken ich stoppen wollte; wenn ich keine andere Möglichkeit sah, meine Ziele anders zu erreichen, war ich fast beiläufig dazu bereit, mich mit Gewalt durchzusetzen – mir zu nehmen, was ich wollte. Ich rede mir ein, dass diese Grausamkeit in mir in diesem einen Fall etwas Gutes bewirkt hat. Ich weiß, dass sie noch lebt; ich weiß, dass ich ihr nichts mehr antun kann. Aber natürlich ist das eine Lüge. Etwas Gute hätte nur der Mann tun können, den ich in der Straßenbahn erschlagen habe; was ich dagegen getan habe, das war nur der Exzess einer Schwäche, die man sehr treffend als das Scheitern an sich selbst bezeichnen könnte.

Die falsche (die wahre) Wüste

geschrieben am 24. Januar 2012 um 09:37 Uhr

Zwischen den Kakteen blühten einige Pixel. Manchmal wechselten sie ihre Farbe: Die meiste Zeit über waren sie grau, aber in einigen Momenten, da blitzten sie auf. Man konnte nicht genau erkennen, welche Farbe sie dann annahmen. Nicht etwa, weil man diese Farbe nicht benennen könnte (ganz im Gegenteil, die Farben dieser Bilder waren nummeriert), sondern nur weil die Wechsel so abrupt waren und so schnell wieder vergingen. Vielleicht war es ein Rot, oder ein Blau, wahrscheinlicher aber ein Rot, gefolgt von einem Blau, gefolgt von einem […], in einer Geschwindigkeit, die ein Erkennen unmöglich machte. Es gab wohl niemanden der wusste, welche Farben es waren. Es gab die Maschine, die sie erzeugte: Es gab die Menschen, die die Maschine dazu gebaut hatten, genau dieses Grau (und keine anderen) Farben zu zeigen, exakt an jener Stelle, aber sie waren nicht hier. Hier war nur er, der die Maschine und ihr Bild betrachtete. Und selbst wenn diese Programmierer hier gewesen wären: dieses seltsame Flackern, dass sich hier und da einschlich, es war sicher nicht von ihnen beabsichtigt worden, und so hätten auch sie nicht sagen können, welche Farben aufblitzten.
In der wirklichen Wüste, das wusste er, gab es diese Farbspiele nicht, ebensowenig wie das Rätsel um sie. Ganz gewiss, die reale Wüste war in einem Sinn geheimnisvoller, nicht zuletzt auch weniger beherrschbar als diese. Wirkliche Wüsten endeten nicht am Bildschirmrand. In der Sahara oder Atacama wuchsen auch Kakteen nach anderen, dunkleren Gesetzen. Im Bild war es einfach: es gab einen Teil der Maschine, der sich nur mit den einfachen Gesetzen der falschen Wüste beschäftigte. Wenn er dem Gerät befahl, ihm einen anderen Teil der Wüste zu zeigen, dann wählte jener Teil der Maschine, der unentwegt und nach eigenen Gesetzen würfelte, einen bestimmten Fleck und schuf dort einen Kaktus. Einen neuen Kaktus, einen, der an dieser Stelle noch nicht gestanden hatte und vielleicht nie wieder dort stehen würde, wenn er einfach den Stecker aus dem Gerät ziehen würde. Was für ein seltsamer Ausdruck: Dort und dort stand ein Kaktus. „Zwischen diesem und jenem Stein (den ein anderer Teil der Maschine erwürfelt hatte), „…am Rand dieses oder jenes Abhangs […]“: Am Ende lag doch alles in einer endlosen Reihe in den Registern und Speicherzellen der Maschine. Jeder Ort (und auch jede Zeit), ja jedes Ergebnis der endlosen Würfelei lag in Reihe und Glied, wie auf einer endlosen Linie, ohne ein einziges bisschen Fläche oder Raum. Ein anderer Teil der Maschine war nötig, um diese abstrakten Enge, die man nicht beschreiben konnte, ohne doch wieder auf falsche Analogien zum Raum zurückzugreifen, in den Betrug eines offenen Plateaus zu verwandeln.
Er blickte auf eine Illusion von Osten, wo der Himmel einen dunkelblauen Kranz bekam.
Es gab einen einfachen Grund, warum sich einige oder sogar sehr viele Menschen große Mühe gegeben hatten, die Maschine das Erzeugen einer falschen Wüste zu lehren. Er war praktischer Natur: Die meisten Menschen sahen niemals in ihrem Leben die anbrechende Dämmerung in der Wüste, und die Menschen, die dies erlebten, zollten diesem Ereignisse entweder wenig Aufmerksamkeit, oder aber sie waren zu beschäftigt damit, das zu fotografieren, was die Augen schon kaum wahrnahmen. Kein Mensch aber, und das war entscheidend, hatte je die Wüstensonne über einer untergegangenen Welt aufgehen sehen. Vielleicht wird es, wenn es einmal soweit ist, einen oder zwei Menschen geben, die es erleben. Für sie wird es dann keine Maschine geben, die sie nach Belieben an und ausschalten können. Sie werden jenen Augenblick erleben, ohne dass das leise Surren der Lüfter sie sanft davon abhält, zu tief darin zu versinken. Auf jeden Fall, da war er sich sicher, würden sie nicht das gleiche erleben wie ein Besucher dieser falschen Wüste.
Er befahl der Maschine das Bild zu drehen, um die beiden Personen zu betrachten, die wie gebannt gen Osten blickten. Ihre Kleidung hatte noch die Farbe der Wüste, aber hier und dort konnte man bereits die Reste anderer, lebendigerer Töne erkennen. Der Mann trug einen gealterten, heruntergekommenen Anzug: Überbleibsel einer Krawatte baumelten karg in der Windstille. Die Frau neben ihm trug einen Hosenanzug, der nicht weniger verödet und deplatziert wirkte. Zwischen den beiden war nur wenig Platz, aber angesichts der erdrückenden Wüste mit ihrer Ausdehnung waren sie fast fern voneinander. Ein Kaktus wusch zwischen ihnen halbhoch und verschwand augenblicklich, als er nach ihrer Hand griff. Wären diese Figuren real, dachte er, so würden sie dort nicht stehen, nicht minutenlang. Nicht, ohne sich umzusehen oder zu weinen. Er fuhr die Kamera etwas näher heran und betrachte die beiden. Ihre Augen zeigten keinerlei Gefühl, glänzten nur leer und starr: Eine größere Tiefe der Details lag außerhalb der technischen Möglichkeiten.
Es blieb am Beobachter, also an ihm hängen, die Lücke zu füllen; jedenfalls war es wohl so gedacht. Er sollte die Lücke schließen, die in der falschen Wirklichkeit klaffte, wenn einige Pixel wieder ein Eigenleben zeigten. Er sollte sich die Endlosigkeit der Wüste hinzudenken, wenn der Platz für Wüste, der Platz für Kakteen und für Farben oder Orte in den Speichern der Maschine erschöpft war. Die zerstörten Städte, die verwesenden Körper; die zerschlagenen Gebäude und die verendenden Tiere musste oder sollte er sich hinzuwünschen, damit die Illusion wenigstens in seinem Kopf perfekt wurde. Natürlich war es eine Utopie, die Dystopie im eigenen Schädel komplettieren zu können. Er dachte darüber nach, während die Sonne am Horizont sichtbar wurde und der Anzug der hohlen Figur an einigen Stellen zu dampfen begann. Könnte man sich hinzudenken, wie sich die Wüste hinter den Bergen am Rand der Simulation weiterzog? Sicher. Könnte man sich einige zerstörte Siedlungen hinzufantasieren? Ganz bestimmt. Aber den wahren Ausdruck, dessen Platzhalter diese Puppenaugen waren, würde man ihn je erahnen? Es blieb aussichtslos. Diese Fiktion, alt wie sie auch war, lag und liegt außerhalb dessen, was Empathie zu leisten imstande wäre. Es war und blieb eine falsche Wüste.

Die Wüste war voller Schluchten, Hügel und Abhänge, die sich zwar nicht glichen, aber dennoch eine fatale Ähnlichkeit zueinander aufwiesen, weil sie ein und derselbe Vorgang in endloser Wiederholung generiert hatte. Kakteen sprießten hier und dort, mal auf diese, mal auf jene Weise texturiert, doch wenn man es aus einem bestimmtem Winkel oder aus einer bestimmten Höhe überblickten könnte, so würde man das Muster ihrer Wiederholungen erkennen können: Ihr Variantenreichtum war ein kluger, aber doch ein durchschaubarer Einfall, der leicht als billiger Trick entlarvt wurde. Schwerer war abzusehen, wo der Rand dieser Welt verlief: vielleicht könnte man die Hügelkette im Norden noch erreichen, vielleicht auch nicht. Es war egal, früber oder später würde man die Grenze erreichen, ohne sie je queren zu können. Die beiden Puppen standen in der gleißenden Sonne, die ihre Kleidung entzündete.
Er sparte sich die Mühe, nach Sand zu greifen, den die technischen Beschränkungen ohnehin nicht zuließen: Es  war eine glatte, grob texturierte Oberfläche, die den Sand auf so kümmerliche Weise darstellen sollte, und wenn man darauf trat, konnte man hören, wie hohl es darunter war. Einige Meter ging er, um den seltsamen Tanz der Figuren zu beobachten: Er war allein mit zwei Puppen, die im roten Sonnenlicht verbrannten und sich dabei auf seltsame Weise krümmten, ohne einen Laut von sich zu geben. Es gab nicht mal das: nicht einmal Luft. Er sah zu, bis die Puppen ganz in Rauch aufgegangen waren. Ein Kaktus entstand an der Stelle, an der die beiden gestanden hatten, dieses Mal mannshoch. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass die fingierte Sonne ihm nichts anhaben konnte: Er würde hier ewig bleiben. Erst als er begriff, dass dies die wirkliche Wüste war, zog jemand den Stecker.

PS: Nun geht es also wieder los! Mit diesem kleinen Text setze ich mein Weblog fort. Ich hoffe, ich werde in der nächsten Zeit wieder mehr schreiben, und freue mich über Kommentare.

Pause

geschrieben am 15. Mai 2011 um 16:57 Uhr

Liebe Leser, da mich meine Diplomarbeit z.Zt. vor allem geistig und auch zeitlich sehr stark bindet, lege ich erstmal eine Pause ein. Bis bald!

Unter dem Dach meiner Kirche

geschrieben am 3. Februar 2011 um 22:55 Uhr

Unter dem Dach meiner Kirche
Da steht eine kleine Statue, die ich sehr mag. Es ist die Jungfrau Maria, die den kleinen Jesus vor sich trägt: Die Arme hat sie ganz um ihn gelegt, sorgfältig, schützend. Nichts, nichts soll ihm geschehen: Und es wird ihm nichts geschehen, denn er ist der Sohn Gottes.

Unter dem Dach meiner Kirche
Wurde ich getauft: Ich kann mich nicht daran erinnern, aber ich habe schon so oft getauft, dass es mir so vorkommt, als wäre meine Erinnerung daran ganz klar. Der alte Pfarrer hielt mich sanft in seinen großen Händen, und Wasser floss über meine Stirn.

Unter dem Dach meiner Kirche
Wird seit 267 Jahren gepredigt. Schon als ich sehr jung war, hörte ich die Predigten, immer die gleichen.
Sie sagten:
Die Welt ist ein Hort des Bösen.
Euer Schoß
Eure Lenden
Ja, eure Augen
Sind Horte des Bösen
Doch dort oben
Seht!
Seht Euren Heiland
Seht die Vergebung
Die er euch zu teil werden lässt
Euch die ihr doch an einem Ort des Bösen lebt
Und Böses denkt und Böses tut
Euch und uns
(Und mir)
Es wird euch vergeben werden,
Auch wenn ihr es nicht wert seid

Ihr seid es nicht wert.
Glaubt nicht, er sehe eure Missetaten nicht:

Es geschieht nichts

Unter dem Dach seiner Kirche
Es Geschieht nichts
Es geschieht nichts, dass er nicht sieht, dass er nicht hört
Dass er in seinem Glanz und seiner Macht nicht bemerkt
Dass er nicht straft.

Es geschieht nichts
Nichts.

Unter dem Dach meiner Kirche
(Wo ich doch so sehr gelitten habe)
Predigen sie so seit 267 Jahren: So werden sie es immer tun, so werden wir es immer tun. Und es ist wahr: Die Welt ist ein Ort des Bösen. All dies, verdorben, schlecht: Ja selbst unsere Körper. Nutzlose, beschämende Hüllen, die uns wie Würmer über die Erde kriechen lassen, um Böses zu tun, Böses zu denken.

Unter dem Dach meiner Kirche
Predige ich jetzt schon seit Jahren. Ich sage
Die Welt ist ein Hort des Bösen
Ich sehe in ihre Gesichter und sage ihnen
In euch, ja in euch, auch dort ist das Böse
Ich sehe sie frösteln und hebe die Arme
Doch seht
Seht dort oben Euren Heiland
Er wird euch retten
euch alle trotzdem retten
(Jeden und keinen)
Obwohl ihr es nicht wert seid.
Ihr seid nichts wert

Unter dem Dach meiner Kirche

Unter dem Dach meiner Kirche
Steht immer noch diese kleine Statue der Jungfrau Maria, die ich so mag: Sie hält den kleinen Sohn, den großen König, ganz sanft und schützend vor sich. Nichts, nichts soll ihm hier geschehen. Und ihm wird nichts geschehen: Denn er ist der Sohn Gottes.
War ich nicht auch ein Sohn Gottes?

PS: Dieses Mal mit Podcast!

Musikvideo: Adobe Flash Player (Version 9 oder höher) wird benötigt um dieses Musikvideo abzuspielen. Die aktuellste Version steht hier zum herunterladen bereit. Außerdem muss JavaScript in Ihrem Browser aktiviert sein.

Der Tänzer

geschrieben am 9. Januar 2011 um 17:40 Uhr

Einen Schritt macht er, einen weiteren – er taumelt, stolpert, streckt das andere Bein vor, findet wieder Halt und macht wieder einen Schritt, der nur sicher wirkt, bis er wieder zu fallen scheint: Aus einiger Entfernung könnte man glauben, er tanze, wenn auch etwas ungelenk, und in der Tat hat es etwas von einem hässlichen Tanz. Nur, wenn man genau hinsieht, kann man es sehen; nichts läge ihm ferner als das Tanzen: Was ihn unruhig wandern und immer wieder stolpern lässt, das sind die Löcher im Parkett.

Er sieht sie nie genau an, diese Löcher, und das erklärt auch, warum ihm ihr Mangel an Tiefe nie auffällt, obwohl sie doch jedem Außenstehenden sofort als etwas Aufgemaltes, ja gar von ihm Hingezeichnetes auffallen würden; Er ist so sehr mit seinem seltsamen Schwindel befasst, dass es ihm entgehen muss. Aber natürlich weiß er, wer verantwortlich ist: Das wechselt zwar, aber stets berichtet er – schwärmt beinahe – von den Zionisten, dem Bankertum und der Pharma-Industrie, den alten Geheimbünden und neuen Eliten, kurz,  von der ganzen großen Verschwörung, in deren Zentrum er seinen Weg zwischen den ausgehobenen Gruben sucht und nicht findet. Da wären etwa etwa die Biochips, mit denen die Regierung ihre Gedankenkontrollexperimente in die Tat umsetzen will; da sind auch die Jetstreams, mit denen sie den Himmel vergiften; die große Lüge über die Erwärmung der Erde; die Nachbarn von gegenüber, die für die arbeiten, ohne dass er weiß, wissen will oder wissen kann, wer die nun genau sind, aber das ist auch egal, es sind die, die, die es immer sind, nur stets in anderer Form, es sind die Reptiloiden, die den ganzen Planeten unterwandern, es sind Geheimagenten und Killerkommandos, es ist George W. Bush und es sind die Zusatzstoffe im Müsli, alle wollen sie ihm ans Leder, alle reißen Löcher in den Boden, gerade da, wo er eben noch sicher stehen konnte, gerade dort, wo er gehen wollte. Kaum ist er einem Anschlag entgangen, lauert unter seinen Füßen schon der nächste, der nächste Angriff auf seine Autonomie, auf das freie Denken an sich, die Menschheit als ganzes, von irgendwoher, Attacken aus der Nichts in das Nichts für nichts als die Interessen der wenigen Herrschenden, Planenden. Cui bono, wem nützt es, seine Lieblingsfrage, der einzige Garant, die einzige Konstante in dieser Welt der unsichtbaren Mächte, Freund in der ständig drohenden Dämmerung.

Leicht hätte man ihn fällen können, ihm den verzweifelten Lebenswillen rauben können, der ihm die Kraft für den seltsamen Tanz gab, hätte man ihn nur gefragt, was er denn wolle (und wem das nütze), ob er nicht wolle, was sie wollen – oder umgekehrt – (und wem das nütze) und ob er wolle, was er will, oder will, was er wolle (und wem das nütze), alles Fragen, die ihn in endlosen Pirouetten nicht mehr auf dem Parkett, sondern im Kreise um sich selbst gehalten hätten. Schließlich bliebe nichts als die endlose Drehung der Teile um sich selbst, einer Kommunikation unfähig, und das stille Eingeständnis:

Die Glieder haben sich gegen den Kopf verschworen; der Kopf gegen den Magen; der Magen gegen die Gedärme, und so fort, bis jeder gegen jeden spielt und keiner von keinem etwas weiß außer, dass ihm nicht zu trauen ist. Stealth-Panzer überrollen das Lymphsystem; Schläfer lauern im Thalamus. Die Großmächte schlagen ihre Schlacht um den Cortex nur noch zum Schein, ihre Vereinbarungen richten sich längst auf anderes: Während der Zionismus in meinem Kopf siedend-heiß zündet, kündet das Thermit in meinen Adern von einem neuen, größeren Staat.

Die Kanonenkugel

geschrieben am 15. Dezember 2010 um 21:18 Uhr

Die meisten Menschen lebten ihr Leben auf sehr kurvigen, teils holprigen Bahnen: Sie wollen dies, dann aber jenes, und zwischen diesen beiden Zuständen und dem Handeln, dass sich daran – wenigstens manchmal – anschließt, steht meist nicht nur die Reflexion, sondern auch der Einfluss anderer Menschen. Manchmal mag man das bedauern, und letztlich gilt es unserer Gesellschaft doch auch viel, wenn jemand sehr geradlinig ist und eine Richtung unabänderlich einhält, bis er genau dort ist, wo er hinwollte.

Nun, in jedem relevanten Sinne des Wortes war er geradlinig: Er bewegte sich auf seiner Bahn ebenso unnachgiebig wie eine Pistolenkugel im Flug. Es war keine aufgesetzte oder erzwungene, keine irgendwie zu brechende oder zu bestechende Unnachgiebigkeit, die ihn auf seiner Bahn hielt, und in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit einer Pistolenkugel vielleicht der falsche. Nein, es brauchte keinen Zwang oder Ausbruch, um ihn auf die Reise zu schicken. Er war schon immer in dieser Bewegung, und er würde es immer sein. Ebenso, wie es einem Schmetterling das leichteste schien, von dieser zu jener Blüte zu fliegen, in so geschwungenen Schleifen, war es für ihn nur natürlich und in diesem Sinne unabwendbar, in einer im Wortsinn geraden Linie durch das Leben zu schießen. Manchmal streifte er natürlich Menschen; berührte sie, durchbohrte sie. Vielleicht passierte er einige manchmal ganz dicht, und es schien, als ob er das Leben dieser wenigen ein wenig teilte, eine Zeit lang. Und so klang es auch manchmal in den Erklärungen, die er sich selbst gab: Ja, das sei ein wichtiger Mensch; ja, hier könne er bleiben; ja, dies sei der Ort, um den man kreisen müsse.Aber eben so schnell, wie die Menschen und die Erklärungen kamen, verschwanden sie auch wieder: Nein, es sei nicht recht gewesen; nein, hier wolle man ihn nicht; nein, er müsse weiter.

Es brauchte eine Weile, man musste schon eine Zeit lang genau hinschauen, vielleicht musste man sich eine Zeichnung machen oder nur genau zuhören, erst dann erkannte man es: Die Menschen passierten ihn nur zufällig, und er sie. Da ist diese charakteristische Wendung, die Krümmung der Person in der Anwesenheit anderer, die ihm fehlte; Andere Menschen bleiben uns nicht nur wichtig, weil wir einmal im Leben nebeneinander liefen. Sie bleiben uns wichtig, weil es da eine Art der Annäherung, eine Art von Spiegelung gibt. Ein wenig werde ich zum anderen, und ein wenig wandelt sich der andere in mich. All das fehlte ihm, bis hin zu einer Tiefe, in der er sich dessen nicht einmal mehr bewusst werden konnte. Er kannte die Namen all der Beziehungen, in denen Menschen stehen konnten, und er benutzte diese Worte. Er hatte Erklärungen für das, was er tat, und manchmal auch für das, was andere taten, jedenfalls wurde er nicht müde, sie zu geben. Aber all diese Dinge blieben in seinem Munde leer: Es waren rein theoretische, nach einem inneren Bedürfnis konstruierte und deklarierte Spiele, die er nur für sich und nur mit sich spielte. Alles andere blieb Staffage. Ihn berührte die Sorge eines Freundes nur seinen Worten nach: ihn erfasste der Kummer eines anderen nur, wenn es sein Kummer war: ihn verstörte Feindseligkeit nur als bloßer Reflex.Er könnte selbst diese Geschichte lesen und verstehen, seine Reaktion bliebe wieder nur ein Spiel der Oberflächen. Er würde ihn passieren, diesen Text, an ihm vorbeirasen. Entlang einer geraden Linie, die von einer ungeheuren Leichtigkeit zeugt.

Die Auswegsverkäufer

geschrieben am 22. September 2010 um 12:16 Uhr

Glaubt Ihnen kein Wort
Das war sein Lieblingssatz, und er wiederholte ihn oft, wenn er wie jeden Morgen am Rande der Fußgängerzone seinen üblichen Platz bezogen hatte,
Glaubt Ihnen kein Wort
Damit leitete er seine Rede ein, die stets etwas variierte, in ihrer Aussage doch gleich blieb,
Kauft nicht Ihre Auswege, Ihre Irrtümer, so redete er heute weiter,
Sie mögen euch gerecht erscheinen, sogar notwendig, aber das ist Unsinn. Sie sind es doch, die diese Probleme erschaffen, um euch dann für teures Geld ihre Lösungen zu verkaufen,
Und damit meinte er nicht nur die Politik, nein,
Alle wollen sie euch erzählen, sie würden die Antworten kennen auf Fragen, die sie selbst gestellt und als unausweichlich dargestellt haben, aber das sind Lügen, Lügen,
Glaubt Ihnen kein Wort,

Und dann ließ er oftmals sehr dunkle Passagen einfließen, die er sich selbst gar nicht so recht erklären konnte, heute etwa sagte er,
Die Wirklichkeit ist ein offener Raum, die Welt dreidimensional, und in einer solchen Welt gibt es keine Sackgassen,
Die Wissenschaft sagt euch, alles sei vorbestimmt,
Die Politik behauptet, es könne nur Kompromisse geben,
Die Wirtschaft meint, es sei alles nur eine Frage des Gelds,
Und die Religion schließlich erklärt euch, wir seien ohnehin nur auf der Durchreise
Dabei wollen sie alle nur das gleiche,

An dieser Stelle wurde seine Stimme immer etwas höher und dünner,
Sie wollen ihre Auswege loswerden und fett werden von eurem Geld, eurer Zeit, eurem Leben
Sie wollen euch gegen einen Obolus aus den Sackgassen führen, die sie selbst erst geschaffen haben,
Und euch Lösungen verkaufen, die ihr gar nicht brauchen würdet, wenn ihr ihnen nur nicht zuhören würdet.

Auch heute blieb kaum jemand stehen, während er seine Ansprache mit dieser oder jenen Variation wiederholte, bis er fast ein wenig heiser wurde. Als schließlich doch jemand stehen blieb und eine Weile seinen Ausführungen lauschte, sprach er umso lauter und redete über das
Großkapital, das selbst die Kinder schon in die Fänge des Konsumwahns führte,
Vom Papst, dessen lebensverachtende Ideologie nur dem Zweck diene, die Menschen von wirklichkeitsfremden Heilsversprechungen abhängig zu machen
Als der Passant immer länger dort stand und interessiert zuhörte, ging ihm schließlich das Material aus, und so begann er sich zu wiederholen: Schließlich gelangte er zum dritten Mal an die Stelle, in der um das Großkapital ging, und der Mann stand immer noch dort und hörte zu. Die Stimme des Redners war schon etwas ärgerlich geworden, und man hätte glauben können, er echauffiere sich über seine Ausführungen, habe sich in Rage geredet: Dann jedoch nahm er den Mann, der ihm scheinbar so fasziniert zuhörte, fest ins Auge, als wolle er ihm etwas mitteilen, und schob dabei mit einem Fuß den Hut nach vorne, in dem er die Münzen sammelte.

Mir ist bewusst, dass ich in den letzten Monaten weniger häufig etwas veröffentlicht habe. Ich werde mich bemühen, das zu ändern, bin aber gerade ‚beruflich‘ sehr stark eingespannt.

Der Flüchtige

geschrieben am 17. August 2010 um 02:46 Uhr

7:15 Arbeitsbeginn

Mit dem Gedanken daran wachte er auf

8:00-10:50 Projektplanungsgespräch (Indochina)

Nicht, dass er die Zeit hätte, auch nur einen einzigen schweren Gedanken lange zu halten

11:00-12:00 Videokonferenz (Mr. Wan)

Aber für einige Sekunden befiel er ihn dennoch, wenn er erwachte und sich an den ewig gleichen Traum erinnerte:

12:15-14:00 Außentermin VDA (Rüsselsheim) (Zusage steht, wenn A auf die Konditionen der RA eingeht)

Die Schlange kroch aus ihrem Nest, und ihr teflonglatter Körper berührte kaum den Boden

14:00-15:00 Vorstandssitzung

Das Wasser türmte sich hoch und holte noch einmal tiefen, donnernden Atem, bevor es in den Fall überging

15:00- ? Gespräch mit Herrn Dr. Höpfer

Der Boden öffnete sich zischend, während der Berg ins Rutschen geriet

16:15-17:20 Präsentation der neuen Produktlinie (Rüninger Dampf machen!)

Und vor allem war da er selbst

17:30-18:15 PK Schadensfälle (=> Watters unbedingt vorher informieren!)

Er, der der Schlange entfloh –

18:00-19:00 RA abklären (=> wird geschoben, Vogel erledigt es)

Er, der selbst die größten Wellen meisterte –

18:30-19:30 Essen mit Herrn Maich, Projektfinanzierung (!!!)

Er, der dem Berg entkam

20:00-21:00 Gespräch mit Rüninger (=> Doku muss auf den neuesten Stand!)

Und sie in jeder Nacht erneut bezwang

22:00- ? (23:40?) Telefonkonferenz (GUS)

Bezwingen musste

7:15 Arbeitsbeginn

Die Angst war schon lange einer seltsamen Anziehung gewichen

7:30 Rüninger!

Der Bestie noch näher zu kommen und doch immer ein Stück vor ihrem Maul

8:00-10:45 Treffen mit Aufsichtsrat (Jahresabschluss!!)

Dahinzurasen

11:20- ? (13:00?) Post endlich erledigen (Präsentkorb => Mr. Wan!)

Die Angst war ihm fremd geworden

13:30-16:00 Marketingabteilung (Verkaufszahlen?)

Gehörte sie doch nicht mehr ihm, sondern den Dämonen

16:00-18:00 Mitarbeiterversammlung (Ansprache!!)

Die sich fürchteten

18:30-20:00 Treffen mit Rüninger, Vogel (Vertragsabschluss Indochina!!)

Zu langsam zu sein.

20:30- ? Telefonkonferenz Indochina

Der Spiegelmacher

geschrieben am 11. Juli 2010 um 03:55 Uhr

Er liebt seine Spiegel: Er betrachtet sie stets mit großer Sorgfalt. Er sieht sie an mit Augen, die dafür gemacht worden sind, Spiegel anzusehen, vielleicht bald nicht mehr zu sehen als Spiegel. Sein Lieblingsstück ist ein ganz schlichter, ohne Rahmen. Die rechteckige Grundfläche reicht bis zur hohen Decke: So groß ist er, dass er nicht nur sich darin erkennen kann, sondern auch den ganzen Raum. Doch sieht er überhaupt noch etwas? Oder nur den Spiegel? Und was sonst?

Er pflegt sie auf eine ganz besondere, ihm eigene Weise: Zuerst trägt er die Politur auf, mit größter Konzentration. Er vermeidet es, die Oberfläche mit den Händen zu berühren: Zwar trägt er Handschuhe, aber das scheint ihm nicht zu genügen. Ein oder auch zwei Stunden kann es (bei dem großen Spiegel) dauern, bis er mit der Auftragung zufrieden ist. Dann nimmt er jedes Mal ein ganz neues, frisches Tuch, und beginnt zu polieren. Drei weitere Stunden vergehen manchmal, während er dies tut. Stets hält er die Lupe bereit, mit der er die ganz kleinen Verunreinigungen erkennen kann, und das spezielle Werkzeug, mit dem er sie entfernen kann. Währenddessen achtet er nicht auf das, was er im Spiegel sehen könnte. Man könnte hinter oder neben ihm stehen; er würde er nicht bemerken, für Stunden nicht. Seine ganze Konzentration gilt der Oberfläche, nicht dem Bild.

Wenn er seine Arbeit getan hat, verlässt er das Zimmer und schließt für einige Minuten die Augen. Manchmal legt er sich dazu hin; Oft aber bleibt er aber in der Tür stehen, bis er sich wie auf ein Signal hin wieder umdreht und zurückgeht, noch einmal die Lupe zückt, noch einmal nach den Makeln sucht, die ihm so zu schaffen machen. Dieses Spiel kann sich tagelang wiederholen. Viele Male ist er mit seiner Arbeit nach dem ersten, zweiten oder dritten Durchgang so unzufrieden, dass er ganz von vorn beginnt, wieder die Politur hervorholt, wieder ein neues Tuch: Irgendwann jedoch gelangt er immer an ein Ende. Dann geht er nicht wieder hinaus, er bleibt vor der spiegelnden Fläche stehen. Er legt die Handschuhe in aller Ruhe ab, und sieht sein Bild an, nicht mehr die Oberfläche, sondern das Bild, dass ihm der Spiegel zeigt. Wenn er eine Weile so in das Bild geschaut hat, entspannen sich seine Züge; fast lächelt er. Vielleicht erkennt er sich selbst gar nicht mehr in diesem Bild; vielleicht sieht er etwas gänzlich anderes als wir, wenn wir neben ihm stünden. Aber das ist schon eine sinnlose Spekulation. Es wäre ja nicht das gleiche Bild, wenn wir neben ihm stünden; nein, es wäre ein anderes, so wären eben etwa wir darauf, und nicht nur er und sein Zimmer.

Man mag sich oder ihn fragen, woher diese Gründlichkeit, diese große Anstrengung ihren Reiz bezieht; Man mag sich fragen, was ihn an seinen Spiegeln, und speziell an diesem Spiegel so sehr fasziniert. Aber er wird keine Antwort darauf wissen: Er braucht auch keine. Wir freilich können uns viele Deutungen denken, viele Aspekte benennen, von denen jeder einzelne und vielleicht dennoch keiner das trifft, was den Spiegelmacher so sehr fasziniert, beinahe erregt.

Einer könnte sagen, das Faszinierende an der Spiegelung sei, dass sie etwas zeige, was nicht da ist, und dabei doch sogar zwei Dinge: eine Oberfläche und ein Bild. Ein anderer könnte bemerken, man könne Menschen und auch sich selbst im Spiegel erkennen, und obwohl es eine enge Verbindung zwischen Bild und Abgebildetem gebe, sei doch das eine lebendig und das andere tot. Ein verwandter Aspekt ist der, dass ein Spiegelbild so weint und lacht wie der Mensch, der vor ihm steht, ohne dabei das Geringste zu empfinden. Ein dritter und interessanter Gedanke wäre der, nach dem die eigentliche Faszination von der Unnahbarkeit der Spiegelung ausgeht: Obwohl sie uns etwas zeigt, dass doch nah zu sein scheint, können wir dieses Nahe nie berühre. Unsere Fingerspitzen treffen nur auf das kalte Glas, nicht auf ihren Gegenpart.

Wenn man ihn lächeln sieht, während er vor dem blank polierten, rechteckigen Spiegel steht, den er am liebsten pflegt und deshalb manchmal eine ganze Woche lang poliert, kommt man auf eine andere, kühnere Idee: Vielleicht geht es ihm, bewusst oder unbewusst, gar nicht darum, diese Seite des Spiegels mit größter Sorgfalt zu putzen, sondern seine.