Kategorie 'Kriegerisches'

Die endlose Linie

Diesen Artikel drucken 10. April 2010

Der alte Mann weinte allein, weinte stets allein.

„Das kann doch niemand verstehen, der es nicht selbst erlebt hat.“ so hatte er das Gespräch beendet, wieder einmal beendet.

So war er den Fragen entronnen, doch jetzt war er allein mit einem, der es erlebt hatte und dennoch nicht verstand. Beide sahen sie die Linie in seinem Kopf, den ewigen, stahlgrauen Knoten, der sich von einem Gedanken zum nächsten wand und niemals aufgelöst werden konnte, den rostigen Draht, der ihn durch zwei Deutschlands geführt hatte und den er häufiger verfluchte als die falschen Versprechungen der Dämonen von damals.

Die Linie, auf der sie von Westen nach Osten gezogen waren in ihren Uniformen,
Die gedachte Verlängerung des Gewehrlaufs, der immer in die falsche Richtung gerichtet gewesen war,
Der Strich, zu dem die Lippen der Toten wurden,
Die Reihe, in der sie die Männer und Frauen aufgestellt hatten,
Der Strick, den sie um den Hals der Partisanen gelegt hatten,
Die Verteidigungslinien des Feindes, die zu Angriffslinien wurden,

Der ewige Weg zurück von Ost nach West, schmutzig, kalt und bitter,

Der geradlinige Aufstieg eines deutschen Beamten,
Die Geraden in der Bauzeichnung eines Einfamilienhauses,
Die aufregungslose Abfolge der Jahre,

Die kurvigen Linien im Gesicht eines Alten,

Das endlose Leugnen,
Das ewige Schweigen.

Zu Stecknadelköpfen waren seine Augen geschrumpft: Schwarze Punkte wie die Enden einer langen, langen Linie.

Gute Seelen

Diesen Artikel drucken 20. Juli 2008

Wenn da niemand wäre, der ab und zu zwischen den Betten hin- und hergehen würde, um einen gefälschten Brief unter eine der löchrigen Decken zu stecken oder mit schmutzigem Wasser überhitzte, fleckige Gesichter abzuwaschen, wenn es niemandem mehr gäbe, der sich wenigstens manchmal den fiebrigen Erzählen der vielen Verlorenen erbarmen würde, wenn kein menschliches Wesen noch diejenigen beruhigen würde, die aus ihren wirren, aber schönen Träumen in dieser düsteren Halle mit ihren staubigen Stahlstreben voller Risse erwachten – ja, dann wäre wirklich alles verloren.

Der Kampf nahm vieles, doch es blieben immer noch wenigstens ein paar wenige dieser guten, dieser treuen Seelen, die zumindest ein wenig Trost spenden konnten.

Natürlich gibt es auch die Ärzte, recht viele sogar; in ihren weißen Kitteln huschen sie durch die Lazarette, Geistern gleich. Viele von ihnen hatten ihre Ausbildung kaum beendet, als der Krieg kam, und so kennen sie ihren Beruf nur mit dem Antlitz, den er im Krieg hat – dem einer anderen Art des Krieges, eines aussichtslosen Vernichtungsfeldzugs gegen den Tod und die Kampfunfähigkeit.

Doch was nützen schon Ärzte; Beine können sie abschneiden, Splitter entfernen, aber was ist das schon. Sie sind nur Soldaten, auch wenn sie keine Gewehre tragen. Welchen Trost kann ein Soldat schon spenden? Hier, am Ende aller hehren Ziele und Siegesversprechen? Und: Was ist eine gut genähte Wunde schon ohne Trost, wenn es schon so weit gekommen ist mit der Welt? Nichts, und so braucht es immer noch ein paar gute Menschen, um wirklich zu heilen.
An manchen Orten, in manchen Spitälern gibt es keine mehr; sie sind getötet worden oder an Erschöpfung, am Kummer und am Dreck gestorben. An solchen Plätzen hilft die beste Kunst der Ärzte nichts mehr. Sie behandeln die Verletzten – vorrangig natürlich die Soldaten – sie operieren und amputieren, sie schneiden und schienen, aber die Menschen sterben trotzdem; vielleicht wollen sie es auch nicht anders, die Ärzte wie die Patienten; alles, alles mag geschehen, nur soll dieser verdammte Krieg endlich verloren gehen, der eine wie der andere. Ohne Hoffnung gibt es keine Chance auf Gesundheit.

Trost gibt es nur noch in wenigen Lazaretten und Spitälern; Verwundete schreien und zettern deshalb manchmal, wenn man sie in eins der Lager bringen will, in dem nur noch Ärzte arbeiten. Und so bringt man alle Verletzten im Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern in diese alte Turnhalle, deren nackte Stahlstreben ganz rissig sind von den vielen Einschlägen in der Nähe. Dort arbeitet nur noch eine etwas ältere Frau, von den Ärzten abgesehen. Früher waren sie zu fünft, aber das war, als man dieses Lager eingerichtet hatte, vor vielen Monaten. Ihr Gesicht ist müde, und ein steifes Lächeln hat sich in die Mundwinkel gebrannt; zweimal wäre sie selbst fast Opfer einer der vielen Infektionskrankheiten geworden, die in den Lagern grassieren. Für sie gibt ebenso wie für ihre Kollegen in anderen Lagern keine Berufsbezeichnung; die Ärzte rufen sie meist immer noch Schwester oder Pfleger, aber kaum einer von ihnen hat eine entsprechende Ausbildung. Einen allgemeinen Oberbegriff gibt es nicht; nur die Alten sprechen manchmal von den Seelen, aber so redet auf der Straße niemand. Die Patienten und auch all die anderen nennen die Frau mit dem steifen Lächeln einfach bei ihrem Namen,
Auch sie hat den Beruf der Krankenschwester nie gelernt; sie war Lehrerin. Manchmal erzählt sie einem Patienten von ihren früheren Schülern. Die meisten von ihnen sind gefallen, und so tut sie es nur, wenn sie darum gebeten wird; sie weiß, dass es den Menschen gut tut, von früher zu hören. Doch meist redet sie nicht über ihre Schüler, sondern über etwas Unverfängliches aus der Vergangenheit. Sie hört auch zu, sie wäscht Wunden, kühlt Gesichter, sie tut, was getan werden muss, ohne Sold zu verlangen.

Sie ist, wie ihre Kollegen in anderen Lagern, nur ein Mensch; manchmal hat auch sie soviel Angst und Wut und Trauer im Bauch, dass sie nicht arbeiten kann. Sie trinkt, aber sie ist nicht die einzige, die abhängig ist; die meisten ‚Schwestern‘ sind es auf die eine oder andere Weise geworden, auch wenn sie schon vor dem Krieg abhängig war. Ein Mann etwa, dessen Lager sich stetig mit der Front bewegt, muss von Zeit zu Zeit einen der Leichtverletzten mit einer infizierten Nadel anstecken – nicht um ihn sterben, sondern um ihn durch seine Pflege genesen zu sehen.
Solch absonderliche Obsessionen hat sie nicht, sie trinkt nur. Andere Personen verstehen manchmal nicht, dass auch sie wirklich ein Mensch und nicht nur ein gänzlich selbstloser Engel ist. Der Dienst und der Alkohol zehren sie langsam auf, das stimmt. Sie weiß das und lässt es zu; aber das muss nicht bedeuten, dass sie ihr Leben gern wegwerfen könnte oder wollte; das sehen die anderen nicht immer. Einmal etwa schlug eine Granate in das Dach der Halle; das Gebäude schüttelte sich und schien zusammenbrechen zu wollen. In Panik rannte sie hinaus und ließ die Patienten, die nicht laufen oder gehen konnten, zurück. Dorthin hatten sich schon die Ärzte gerettet; sie jedoch, die immer so hilfsbereit und selbstlos tat, was sie konnte, starrte man mit einer Mischung aus Unverständnis und Überraschung an, als ob man nicht begreifen konnte, dass diese Frau um ihr Leben lief, statt sich um ihre Patienten zu kümmern und im Zweifel mit ihnen zu sterben.

Es dauerte Monate bis der Stabsarzt, der das Lazarett leitet, wieder mit ihr sprach, aber er hegt ohnehin einen Groll gegen sie, zumindest manchmal; sie soll einer verbotenen Partei angehört haben, vor dem Krieg.
Natürlich ist das falsch. Sie war Zeit ihres Lebens ein eher unpolitischer Mensch, zumindest war sie nie in einer Partei. Wahr ist, dass sie vor dem Krieg, schon Jahre davor, auf Demonstrationen gewesen ist. Wahr ist auch, dass man sie wegen ihrer Ansicht über den Großen Konflikt unzählige Male angepöbelt, bespuckt und drangsaliert hat, so lange, bis der Krieg nach der Schlacht bei Krakau kippte und sie mit dem Dienst in den Lazaretten begann. Einmal pflegte sie einen Verletzten, den sie als einen der Polizisten erkannte, der sie am Rande einer Versammlung verprügelte; er erkannte sie nicht, und sie sagte nichts davon, pflegte ihn nur.
Falsch ist dagegen auch, was die Ärzte sich über den Grund ihrer Tätigkeit erzählen; weder ist sie Witwe, noch sind ihre Kinder aufgrund der schlechten Versorgung an der Front gestorben. Sie hatte nie Kinder und war nie verheiratet. Man könnte sie einfach fragen, warum sie tut, was sie tut; warum sie nicht davonläuft, so weit sie kann, wie es all die anderen tun. Aber es fragt sie niemand, zumindest keiner der Gesunden; Man hält sich lieber an die Gerüchte und ansonsten fern. Seit dem Einschlag auf dem Dach erzählt man sich, sie sei eine Politische und werde vom Abwehrdienst beobachtet.
Aber vielleicht würde es auch nichts nützen, sie nach ihren Beweggründen zu fragen. Es gibt keine speziellen, auch keine politischen. Es sind die gleichen, die sie schon seit Jahren umtreiben, die sie zuerst auf die Demonstrationen und schließlich in dieses Lazarett geführt haben.

Natürlich kennt auch sie die Gerüchte; über die meisten der stillen Helfer gibt es ähnliche, von der angeblichen Lebensmüdigkeit bis hin zu den politischen Verstrickungen. Viele von ihnen waren auf den Demonstrationen, fast alle gegen den Krieg. Mehr Frauen als Männer sind darunter, aber das mag dem langen Krieg geschuldet sein. Sie wissen, das diejenigen, die sie heilen, wieder kämpfen, wieder töten oder getötet werden; es ist ihnen gleich.
Die meisten von ihnen haben schon Probleme mit dem Abwehrdienst gehabt, und auch wenn dieser inzwischen zusammengebrochen ist, sprechen sie über ihre Ansicht nur selten, schon gar nicht öffentlich. Das wäre auch unnütz; für Lösungen ist es zu spät, das ist auch ihnen klar. Es gibt in jedem Konflikt den Punkt, ab dem der einzige Ausweg in der Vernichtung des anderen besteht, selbst um den Preis der eigenen Auslöschung, und dieser Punkt war schon lange vor den Bomben auf Paris und Hamburg überschritten worden.

Und so spricht auch sie nur über Politik, wenn sie jemand darum bittet; solche Gespräche beginnen meist mit der Frage, warum es so kommen musste und ob nicht alles anders sein könnte. Meist sind es Sterbende, die solche Fragen stellen.
Dann erzählt sie, was damals schon auf den Demonstrationen gesagt wurde, was sie schon lange vor dem Krieg gedacht hat, und die Augen der Geschundenen hängen an ihren Lippen. Wenn sie darüber spricht, kann man in ihrem Gesicht manchmal den Menschen entdecken, der sie einmal war. Es ist nicht die müde, alte Frau mit den den eingebrannten Falten, die vom Frieden erzählt, sondern der kleine Rest einer viel jüngeren. Vielleicht ist dieser Rest das einzige, was sie noch zum Spenden von flüchtiger, oft falscher und gefälschter Hoffnung befähigt; vielleicht, aber darüber denkt kaum jemand nach, dafür sind die Verwundeten zu gierig auf jeden Tropfen Hoffnung, auf jedes Quäntchen Leben. Aber zumindest hören sie genau zu.
Ganz ähnlich wie auch die ständig angetrunkene Helferin im Lazarett unter dem Dach der abbruchreifen Halle müssen viele der guten Seelen das als bittere, als zynische Genugtuung empfinden, dass man ihnen jetzt, da alles zu spät ist, zuhört. Als sie zum ersten Mal ihre Stimme erhoben, hat man sie zunächst ignoriert und dann belächelt. Als sie erste Demonstrationen veranstalteten, hat man sie als Träumer, als unverbesserliche Idealisten abgetan. Auch als die ersten Versammlungen mit Knüppeln aufgelöst wurden, hat man ihnen nicht zugehört und sie stattdessen angepöbelt, beleidigt, später geschlagen. Als man so begierig darauf wurde, die Brüder und Kinder von Bombenlegern zu ermorden, dass man begann, die eigenen dafür in den Tod zu schicken, hat man zehn von ihnen in einer großen Stadt an einem Pfahl aufgehängt, weil man sie als Verräter sah. Jetzt, wo es doch zu spät ist, hängen wenigstens die Augen der Sterbenden an ihren Lippen; Die Welt musste erst schwarz und leer werden, bevor man ihren Worten Gehör schenkte.

89 Bilder

Diesen Artikel drucken 5. Juni 2007

Ein kleiner Baum hatte das Inferno überstanden, stellte er lakonisch fest und betrachtete ihn durchdringend. Viel war nicht von ihm geblieben, von den meisten seiner Äste war nur noch Asche übrig, und selbst an der dem Hang abgewandten Seite hatten seine Arme eine kohlefarbene Schicht bekommen.
Er ging einige Schritte auf ihn zu, ließ sich dabei Zeit, atmete die ozonhaltige, schale Luft langsam ein und aus. Gut möglich, dass der Baum genau an der Grenze von Zone 2 gestanden hatte, zumindest stand er genau an dem Hang, der sie seiner Erinnerung nach begrenzen sollte. Seine Kamera surrte einige Male leise, als er einige Fotos machte.
Er berührte den Stamm des Baumes sanft, und einige Zentimeter Rinde lösten sich unter seinen Fingern ab, wurden vom Wind davon getragen. Erstaunlich, dieser Baum, kein anderer hier oben hatte es überstanden. Ein ganzer Wald war hier einmal gewesen, so hatte er es auf den Bildern gesehen, und ausgerechnet dieser hatte überlebt.

Er drehte sich um, nachdem er noch einige Aufnahmen des Kraterrandes gemacht hatte. Es würde natürlich wieder ein Unfall gewesen sein, was auch sonst. Nicht alle Leute in der Heimat würden das glauben, auch das war nur natürlich, aber selten wagte jemand, dies offen zu sagen, und wenn es doch jemand tat, dann sicher nicht für lange. Aber das waren nicht seine Belange; er machte nur diese Aufnahmen und schrieb die Artikel, wie er angewiesen wurde. Natürlich waren es nie Unfälle, obschon dies denkbar wäre, denn die Kraftwerke der meisten Städte funktionierten wohl in ähnlicher Weise wie die Waffen, die man hier verwendete; wie sie genau funktionierten, wussten nur wenige Menschen, auch er war darüber nie informiert worden. Er setzte die Kamera ab, legte den Trageriemen wieder um seinen Hals, blickte dem Abgrund entgegen.
Weit im Norden, irgendwo in der Zone Null, konnte man noch Rauch sehen, das Gestein dort würde über Wochen glühen. Seiner Beobachtung, die er selbstverständlich für sich behielt, schien den Einschlägen oft vulkanische Aktivität zu folgen, aber er war kein Experte auf diesem Gebiet. Man sagte ihm nicht viel, und das war gut so; je weniger er wusste, desto weniger konnte er zu einer Gefahr werden. Ihn scherte zwar nicht, was hier geschehen war, aber allzu wurden Mitglieder des Journalistenkorps oder der Armee auf einen bloßen Verdacht hin weggebracht.
Nun, viele von ihnen mochten sicher Geheimnisverräter sein, aber er war keiner. Ihm war natürlich klar, was hier geschehen war, selbst wenn es ihm niemand offen sagte und er die schweren Schiffe über der Oberfläche nie gesehen hatte. Aber es ging ihn nicht an, und er kannte keinen der Menschen, die hier vor kurzer Zeit noch gelebt hatten. In anderen Zeiten hatte es ähnliche Ereignisse gegeben, als Massenmorde oder Vernichtungskriege hatte man sie bezeichnet; nun, da war nur eine gewisse Ähnlichkeit, denn es gab einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen historischen Fakten und dem, was hier geschehen war, so dachte er zumindest.
Denn eigentlich starb hier niemand, kein einziger Siedler. Es war viel einfacher, er hatte es gesehen;
Die Granaten schlugen lautlos auf, nachdem sie eine Hyperbel-Bahn vom Himmel herab beschrieben hatten, detonierten – meist – in den Stadtzentren, und dann war da nur ein helles Leuchten, das einen leicht für immer blenden konnte.
Und wenn man den Blick wieder hob, war da nichts mehr. Gebäude, Straßen, Menschen, Beweise, alles wurde in nur einem Augenblick davongeweht wie Nebel vom Wind. Es blieben nur diese schwelenden Krater, die er von Zeit zu Zeit fotografierte, um danach von den Unfällen zu berichten.
Nein, eigentlich starb hier niemand, in einem Moment lebten diese Menschen ihr Leben, im nächsten waren sie und alles, was an sie erinnerte, fort, verschlungen von weißem Feuer.

Er erinnerte sich noch gut an die erste Kriegswelle, oder den ersten Befreiungsfeldzug, wie man es heute nennen musste. Damals hatte es noch echtes Sterben gegeben, jahrelang, er war damals noch neu beim Korps gewesen und war oft auf den stinkenden, verstrahlten Schlachtfeldern gewesen, wenn auch nur ganz hinten. Doch dann hatten sie begonnen, die neuen Granaten zu verwenden, und seitdem hatte das Sterben aufgehört.
Genau wie noch in heutiger Zeit hatte man ihn damals immer häufiger in sein Büro in der Hauptstadt geschickt, um dort alleine die Artikel fertigzustellen. So war es schon lange; anfangs war das Kriegsgebiet noch so nah gewesen, dass er, hätte er aus dem Fenster gesehen, Nachbarstädte mit einem stummen Blitz hätte vergehen sehen können, während er an Berichten über die neuen Golfanlagen auf Kuba schrieb. Doch das hatte sich mit den neuen Waffen schnell geändert, und der Krieg war schließlich auf unbedeutende Welten wie diese hier gekommen, ohne dass er genauen Grund dafür gekannt hätte.

Er hörte ein leises Geräusch hinter sich, dass er kaum registriert hätte, wenn die beiden Soldaten der Eskorte vor ihm nicht fast zeitgleich einen ebenso disziplinierten wie dumpfen Befehl ausgestossen hätten. Es blieb keine Zeit, die Situation einzuschätzen, die Lage zu überblicken und rational zu entscheiden, was zu tun war, während die beiden ihre Waffen hoben; doch die Konditionierung seiner Ausbildung funktionierte und griff ein wie ein unsichtbarer Marionettenspieler. In einer kaum wahrzunehmenden Geschwindigkeit drehte sich der Fotograf über die linke Schulter weg, um hinter sich blicken zu können, während er sich flach fallen ließ. Eine schützende Hand griff dabei scheinbar unbewusst nach der Kamera, seine Finger fanden den Auslöser blind.

Dann lag er im Staub, alles war vorbei, alles, und einer seiner Bewacher half ihm mit dem emotionslosen Gesicht eines Frontsoldaten wieder auf.

Was davor geschehen war, das hatte, so konnte er sich später immer wieder und wieder versichern, kaum mehr als eine halbe Sekunde gedauert, und so hatte sein Gehirn, das mit dem Anwenden seiner Ausbildung beschäftigt gewesen war, kaum mehr registriert als Schmemen und Schüsse. Aber auch das war nicht wichtig; er konnte die Szene später auch ohne Erinnerung begreifen, war dazu gezwungen, verdammt.
Ein Junge, kaum älter als acht oder neun, vielleicht auch zehn, hatte sich unterhalb des verbrannten Baumes versteckt, in einer Spalte im Hang, oder vielleicht auch in einem Baumstumpf, er fand es nie heraus. Der Junge musste heraufgeklettert sein, als er sich bereits vom Abhang entfernt hatte, und so hatten er und die Eskorte ihn erst bemerkt, als er über einen Stein gestolpert war, so war es zumindest zu vermuten.

Er bot ein gräßliches Bild; die rechte Seite seines Körpers schien verbrannt oder viel mehr geschmolzen zu sein, denn man konnte noch Reste seiner hellen Kleidung erkennen, die scheinbar mit der verkohlten Haut verklebt war. Auch sein Kopf schien verzerrt, die Haare fehlten, und der Mund besaß eine blaßrote und eine fast teerschwarze Seite, die seltsam herabhing und zusammen mit dem blinden rechten Auge den Eindruck eines furchterregend grinsenden Zwinkerns schuf.
Das Kind war einfach stehengeblieben, als man es bemerkt hatte, ganz naiv. Vielleicht hatte es Hilfe erwartet, vielleicht war der Junge auch schon gänzlich von Sinnen gewesen, in jedem Fall war er einfach so stehengeblieben, etwas schwankend, und hatte die Männer angeblickt, die ihm gegenüber standen.

Die Schüsse trafen ihn in die Brust, zweimal, ein dritter traf die ohnehin zerstörte Schulter. Der Aufprall war so schwer, dass der Junge einige Meter nach hinten geworfen wurde, auf den Boden schlug und den tiefen Abhang hinabrutschte; sein Mund öffnete sich dabei. Vielleicht hatte er geschrien, der Journalist wusste es nicht, würde es nie wissen, auch wenn er Tage damit verbringen würde, darüber nachzudenken.
All das hatte der Fotograf gesehen, in dieser halben Sekunde, aber natürlich konnte er sich an kaum etwas davon genau erinnern, es war zu schnell geschehen. Es war ein wenig wie ein Albtraum, den man vergessen hatte; nur der Grundriss blieb übrig, wenn man ihn nicht nach dem Aufwachen aufschrieb, und so wünschte er sich oft, es gäbe nur diesen Grundriss in seinen Erinnerungen, aber so war es nun einmal nicht.
Er hatte diesen Albtraum aufgeschrieben und somit bewahrt, für alle Zeiten; wie er erst auf dem Rückweg in die Hauptstadt bemerke, hatte er im Sturz 89 Bilder gemacht, 89 Aufnahmen, die die gesamte Szene und all das Geschehene genau eingefangen hatten.
Er hätte sie löschen können, ohne sie anzusehen, denn ihm war nach einem kurzen Blick auf die Anzeige klar gewesen, wann er sie gemacht hatte. Dann er hatte sie doch durchgesehen, und danach dachte er nie wieder ernstlich daran, sie zu löschen.

Einige Nächte nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt verbrachte er nur damit, die 89 Bilder anzusehen, jedes Detail aufzusaugen, um mit dem Jungen abschließen zu können. Aber so sehr er es auch wünschte, der Albtraum blieb in den Fotos eingefroren.
Einige weitere Nächte lang dachte er darüber nach, sie zu veröffentlichen, um sich von diesem Gewicht, diesem Gesicht zu befreien. Doch auch diese Nächte ließen ihn nicht handeln; die Konsequenzen waren ebenso klar wie erschreckend, man würde ihn hängen und die Bilder vernichten, und so siegte sein Überlebenswille.
Doch auch das milderte das Gewicht der Bilder nicht, und so versanken seine Nächte bald in Alkohol, bis er eines Morgens mit dem eigenen Revolver in der Hand erwachte. Er gab ihn weg und trank nie wieder.
Schließlich verbrachte er seine Nächte wieder an seinem Schreibtisch und schrieb seine Berichte, wie man sie ihm auftrug. Er schlief nur noch wenig und wenn, dann nur am Tage. Die Bilder blieben in seinem Schreibtisch verschlossen, zweifach gesichert auf einem Speichermedium, daneben einige sorgsam verborgene Papierausdrucke, wie man sie heute nur noch selten sah. Er betrachtete sie jeden Tag; über die Krater schrieb er nie wieder.

Hermetisch

Diesen Artikel drucken 8. Januar 2006

Er spielte seine Rolle, routiniert, ein schelmisches Lächeln auf den trockenen Lippen, ungelenke, künstliche Bewegungen, ein unablässiges Sprudeln von Scherzen und Anzüglichkeiten, er spielte seine Rolle, und die Menschen lachten im Kanon, ein vielstimmiges Brüllen und Juchzen wie Artilleriesalven.
Seine Hände flogen durch die Luft, zeichneten Bilder, verstärkten Reaktionen, die Hände eines Komponisten, der ein großes Orchester dirigierte, ein Orchester aus Lachen und Prusten, hinten das tiefe Gröhlen bärtiger Marineoffiziere, weiter vorne das hellere Kichern von jungen Sanitäterinnen.
Als er noch auf den anderen, großen Bühnen gespielt hatte, da hatte ihn auch dieses Lachen manchmal erfreut, selbst wenn es eigentlich der Applaus war, der ihn als Schauspieler getrieben hatte.
Es hatte sich verändert, schon vor langer Zeit, manchmal dachte er zurück an diese Zeit, an die Zeit vor der Rezession, vor dem Krieg, in manchen Augenblicken dachte er sogar hier auf einer Bühne daran.
Er sprach weiter, immer weiter, persiflierte Engländer, Franzosen, die eigene Luftwaffe, es war seine Aufgabe, die Menschen etwas abzulenken, seine und nur seine Last, oft musste er sich daran erinnern, wenn er in die vielen so verschiedenen Gesichter vor sich blickte, manche grob und von der Front gezeichnet, andere fein, aber dennoch blaß, ja, es war seine Aufgabe, diesen Augen für einen kurzen Moment etwas zu schenken, dass sie ansonsten schon lange verloren hatten.
Er stockte bei diesem Gedanken, machte eine unwillkürliche Pause, schon wieder, erschrak er sich, während er die Hoffnungslosigkeit in den Augen seiner Zuschauer abwog, noch einmal und noch einmal, so als ob es dafür ein präzises Maß gäbe.
Er zwang seine Gefühle zurück, zurück in sein Inneres, seine Stimme hob sich wieder, zunächst etwas brüchig, aber schnell wieder erstarkend, eine kleine Floskel nur, um der Pause ihre Dramatik zu nehmen, er schob sie russischen Kollaborateuren in die Schuhe, einige Sätze aus dem Standard-Repertoire, er grinste wieder krumm, wieder Lachen, sein Redefluß fand zurück auf die Bühne.
Nein, all diese Gedanken, sie mussten dort drinnen bleiben, so tief begraben wie nur möglich, außen durfte nur dieses krumme Lächeln zu sehen sein, nur dieser eine Wesenszug, diese eine Rolle.
Natürlich hatte auch er damals nicht an die Front gewollt, wer hätte das schon gewollt, aber er war naiv gewesen damals, vielleicht wäre es besser so gewesen, auch wenn er wusste, dass er den Menschen gut diente in seiner jetzigen Funktion.
Damals hatte er natürlich ohne Zögern zugesagt, als man ihm anbot, seinen ‚Beitrag‘ hier zu leisten, er hatte nicht an die Front gewollt – niemand hatte das – und sein Theater hatte man wegen der Bomben geschlossen.
Vielleicht war es für ihn persönlich die falsche Entscheidung gewesen, konstatierte er und sah zu, wie Agonie und Gelächter in den Augen seiner Zuhörer miteinander rangen.
Es entbehrte nicht einer gewissen komischen Tragik, als moderner Clown musste er das wohl eingestehen; er hatte in der Tat nie die Front gesehen, dafür aber hatte er zu oft gesehen, was die Front zurückließ, wenn er in den vielen Feldlazaretten auftrat, sie ließ immer nur Zerstörung und Tod, Leichen, die man eiligst beiseite geschafft hatte, die eigenen wie die anderen, Hunderte oder gar Tausende manchmal an einem Orte, inzwischen mussten es Millionen sein, Millionen.
Davon wussten die meisten Menschen nichts, die Presse verschwieg es, aber sie alle hatte eine Ahnung, ein unbestimmtes Gefühl, dass das Ende kommen würde, und, so bekräftigte er sich, genau aus diesem Grund stand er noch hier und spielte seine Rolle, immer seine Rolle, alles andere blieb tief verborgen.
Die Führung sprach immer noch vom Sieg, nur noch hohle Propaganda natürlich, durch die vielen Besuche an verschiedenen Orten hatte er sich ein viel zu gutes Bild machen können, es ging auf das Unvermeidliche zu, bald würde alles zusammenbrechen.
Er kam wieder ins Stocken, diesmal aber hatte er es erwartet und fing die peinliche Stille schnell ab, drehte sie in eine Pointe um, festigte seine Stimme und redete weiter, das gleiche Lächeln auf den trockenen Lippen.
Manchmal erschien es ihm immer noch unfair, wie er hier oben vor allen stand und sie alle zum Narren hielt, obwohl er doch genauer als jeder andere wusste, wie es stand, und zunächst hatte er sich auch versetzen lassen wollen, als er die Brisanz der Lage begriff, doch er hatte einfach nicht aufhören können, er ihnen nicht das auch noch das letzte Stück Leben, das letzte Lachen rauben wollen, auch wenn selbst das schal und ausgemergelt klang an Tagen wie diesen. Natürlich, er könnte aufhören sie zu belügen, ihnen eine Welt vorzuspielen, die nichts mit der Bitterkeit der Realität zu tun hatte, aber was brachte ihnen die Wahrheit schon? Das Ende würde kommen, keiner von ihnen konnte das ändern, ob sie es nun wussten oder nicht, und so spielte er immer noch seine Rolle, stiftete Lachen, wo die Hoffnung schon starb, auch wenn das für ihn bedeutete, all die ungeheuerlichen Dinge für sich zu behalten, nur für sich, sie einzuschließen und zu vergraben, es musste sein, niemand sonst konnte diesen letzten Beitrag leisten.
Seine Schlußnummer kam, endlich, und er legte eine Pause ein, bewusst diesmal, wie er es immer tat seit einiger Zeit, er zählte die Sekunden, blickte in die Runde, verunsicherte Gesichter, aus einem Traum vom Lachen und Leben unsanft geweckt, fast angsterfüllt.
Nein, keiner dieser Menschen wollte wissen, was er wusste, sie bettelten nach Hoffnung, selbst wenn Hoffnung nur ein Lachen bedeutete, dachte er, seine Lächeln taute wieder auf, drei letzte Sätze, der Raum gröhlte wieder, etwas unsicher, aber umso lauter, er trat von der Bühne, immer noch das schiefe Lächeln im Gesicht, alles andere musste tief vergraben bleiben, abgesichert und verschlossen wie in einem Panzerschrank, hermetisch abgeriegelt.

„Das Vergnügen kann auf der Illusion beruhen, doch das Glück beruht allein auf der Wahrheit.“ – Nicolas-Sébastien de Chamfort.

Feldgrau

Diesen Artikel drucken 27. November 2005

Das war es jetzt also?, denkst du dir.
Das war jetzt also?, jedes Mal, immer wieder und wieder, und dein Blick richtet sich nach innen, weit in die Vergangenheit, du wägst ab, das war es jetzt also?, hast du genug gelebt, hast du getan was du tun wolltest, warst du ein guter Mensch, was wird jetzt werden?
Die vielen Facetten deines kleinen, verbrauchten Lebens tauchen schnell wie das Licht vor dir auf, nicht in der Form eines klischeehaften Filmchens, kein revue deines ‚Werdegangs‘, wie man so schön sagt, nein, es sind kontraststarke, stille Bilder, ein Kinderwagen, ein Gesicht, ein Ort im Süden, ganz erschrockene Fotografien, überbelichtet, wie von einem hellen Blitz eingefroren, überzeichnet und ganz anders in deiner Erinnerung.
Ja, du hast dein persönliches Fotoalbum im Kopf, hast es dir jederzeit schon zurechtgelegt, und während dein Außen über Gräben und Asphalt robbt und dein getriebenes Keuchen im Lärm untergeht, da blättert eine unsichtbare Hand in deinem Kopf die Seiten um, in aller Ruhe, stetig, ohne Unterlass.
Irgendwann fängst du an, darüber nachzudenken, woher kommen diese Bilder, wer hat sie für dich gewählt, manche erscheinen dir weniger passend für einen Nachruf, hast du sie selber ausgewählt, wer war es sonst, deine verdreckten Gliedmaßen krümmen und strecken sich automatisch, dein Verstand dreht sich weit ab um diese Fragen.
Doch niemand hat sie ausgewählt, es dauert nicht lange, bis du das erkennst, es dauert nicht lange, du misst die Zeit anhand der Feuerpausen, niemand hat sie gewählt, das Album bleibt, wo es ist, zeigt weiter stumm seine Bilder, unvollständig komprimierte Ansichten eines ganzen Lebens, der hoffnungslose Versuch deines Unterbewusstseins, dein Leben ganz zu erfassen und damit abzuschließen, damit abzuschließen und auf das Ende zu warten, dass in jedem Moment kommen soll und dich doch wieder und wieder nicht erreicht hat, deine Glieder kümmert das nicht mehr, strecken, krümmen, strecken, krümmen, das Gewehr hinterherziehen, der simpelste Algorithmus, den dein Stammhirn beherrscht, in einer Endlosschleife, ein Reflex lässt dich den Leichen ausweichen, du denkst nicht mehr darüber nach, bist ganz auf das Album fixiert, auch wenn du weißt, dass du unter jedem Helm nur dein totes Gesicht erkennen würdest, nur dein eigenes Gesicht im Dämmerlicht der Leuchtspurmunition, es berührt dich nicht mehr, du blickst nur starr auf deine zuckenden Arme, den Kopf tief gesenkt, und siehst die Bilder in deinem Album, immer wieder und wieder, die Motive werden fern wie die Sterne, der Weg nach Hause eine Ewigkeit, die Kälte des helllodernden Nacht, die du schon lange nicht mehr gespürt hast, sie kriecht in deinen Verstand, von innen, ein langsam wirkendes Gift, dass deinen Verstand müde und träge macht, während dein Körper weiter funktioniert, wie er sollte, wie du es trainiert hast, robben, ducken, schießen, ein gut geölter Roboter, der noch tadellos funktioniert, während dein Verstand nur noch apathisch den Bildern und ihrem Tanz zusieht und wartet, auf den einen Splitter wartet, der nicht verfehlt, den einen Volltreffer, den dir der Lärm der Detonationen schon so lange verspricht.
Aber er kommt nicht, kommt wieder und wieder nicht, immer nur wieder krümmen und strecken, krümmen und strecken, während du in diesem Roboter sitzt und weiter wartest, wartest.
Irgendwann lassen deine Glieder locker, du bleibst im Dreck liegen, eine Weile.
Dann stehst du auf, irgendwie, spürst deine Knochen nicht mehr.
Und fühlst die Stille um dich herum, das Fehlen des Donners und der vielen kleinen Blitze. Für einen Moment bist du frei, du lebst, für einen Moment.
Du gehst nach Hause, siehst all die kleinen Motive wieder, all die Bilder aus deinem Album, doch das Album selbst, die unsichtbare Hand, die die Seiten bewegte, sie bleiben beide verschwunden, verbrannt.
In deinem Kopf bleibt nur die Kälte der brennenden Nacht, das ewig graue Feld aus jener Finsternis, das war es jetzt also?, krümmen und strecken, krümmen und strecken, diese ganzen kleinen Motive, die du in dem Album gesehen und nun wieder lebendig vor dir hast, sie werden fern wie die Sterne, der Weg nach Hause zu einer Ewigkeit, und dein Verstand wird immer nur weiterrobben, ewig, das war es jetzt also.

„Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.“ – Platon

Schwarz auf Weiß

Diesen Artikel drucken 29. Oktober 2005

Er saß wieder, saß wieder an seinem Tisch, wo auch sonst, seine Papiere, wie er sie nannte lagen verstreut darauf herum, ungeordnet für die Augen anderer, doch nicht für ihn, nein, nicht für ihn, jede Seite hatte ihren Platz, ihre wohldefinierte Position, das vereinfachte seine Arbeit.
Auch würde das ungeübte Augen wohl kaum erkennen, woran er da arbeitete, jeden Tag, bis spät in die Nacht hinein, denn viele der Symbole auf diesen seinen Papieren wirkten befremdlich, nur wenige andere Menschen konnten sie deuten.
Es waren Zahlen, endlose Kolonnen von Zahlen, auch andere Symbole dazwischen, manche wie Runen, andere fast wie zufällige Tintenkleckse eines Kindes, auch wenn ihre offensichtliche präzise Anordnung dies unwahrscheinlich erscheinen ließ.
Seine Arbeit war schwer, und sie wurde in keinem Moment leichter, das betonte er gern vor Freunden, aber eigentlich, so musste er bei solchen Gelegenheiten ebenso gestehen, bereitete sie ihm auch eine große Freude, was auch dazu geführt hatte, dass er selten zu Hause mit seinen Kindern aß.
Manchmal vergass er fast, dass er nichts Konkretes über seine Arbeit verlauten lassen durfte, er schmunzelte immer noch manchmal über diesen Satz, es war der Wortlaut eines Uniformierten gewesen, er konnte sich noch genau an die Begebenheit erinnern, sein Gedächtnis war trainiert, „Ich weise sie darauf hin, dass sie nicht befugt sind, konkrete Informationen über ihre Arbeit bei uns verlauten zu lassen.“, das hatte er gesagt, ein älterer Herr mit funkelnden Augen, und dann noch etwas von Kriegsfall und Hochverrat hinzugesetzt, er erinnerte sich nicht mehr genau.
Er selbst verabscheute Krieg, verabscheute Gewalt an sich, dass Menschen anderen Menschen weh taten hatte er nie verstehen können. Auch deshalb war er froh, nicht an die Front geschickt worden zu sein, wo immer die sich auch gerade befand, er wusste es nicht genau, hielt sich von diesem widerlichen Geschehen, wie er sagte, „so fern als möglich“.
Es war sein Glück gewesen, dass er diese Anstellung bekommen hatte, er betonte das stets und fühlte es immer, wenn er mit seinen Kindern am Tisch saß, es war ein Glücksfall gewesen, eine glückliche Fügung. Zwar hatten sie schon zweimal umziehen müssen – die Front war ihnen wohl zu nahe gerückt – aber das belastete nur seine Frau, nicht ihn, nicht, so lange seine Familie mit ihm kam – und natürlich seine Papiere.
Seine Papiere – Wenn er mit ihnen am Tisch saß, so schien ihm der Krieg oft ebenso fern wie seine Kinder. Selbstverständlich wusste er, dass auch sein Werk etwas mit dem Krieg zu tun hatte, aber, so wusste er, nur indirekt, nur indirekt hatte er etwas damit zu schaffen, nur indirekt, er wurde nie müde dies zu erklären.
Und wenn er erst einmal hier saß und die unzähligen Zahlen und Symbole besah, so vergingen seine Zweifel und auch die Gedanken an den Krieg, der draußen irgendwo tobte, ein gräßliches Geschehen, es blieben nur noch schwarze, klare Piktogramme auf makellosem Papier, keine Abwägungen, keine Konflikte, keine unsinnigen Abstufungen, nur noch die Zeichen auf seinen Papieren.
Kaliber, Treibladungsdichte, Detonationsradius, Geschoßbahnkurve, letale Effizienz, kritische Masse, Wirkungsradius – all diese Dinge verloren hier ihre schroffe, debile Ambivalenz, ihre grausam lärmenden Konnotationen, ihr schmutzig-graues Wesen, und was von ihnen blieb füllte seine Papiere, füllte sie Seite für Seite, Buch um Buch, frei von jeder Mehrdeutigkeit.
Er stellte sich seine Gleichungen oft als Skelette vor, Skelette der realen Dinge, und wie auch die Skelette von uralten Sauriern keine Bedrohung darstellten, so waren auch seine Bücher für jedermann ungefährlich.
Und wenn er nach mancher langen Nacht doch einmal zweifelnd auf die Zahlen hinunter blickte, nur für einen Moment, so nahmen sie ihm seine Unruhe schnell wieder, er hatte mit dem Krieg, mit dem Töten, nur indirekt, kaum zu tun, es blieb das Schwarz und Weiß auf seinen Papieren, scharf begrenzt und nie verschwommen, nur Symbole und Zahlen und die ihnen inhärenten abstrakten Strukturen, ungefährlich, unschuldig.
Eigentlich hatte er nie etwas anderes machen wollen, dachte er oft, auch das war sicher ein Glücksfall, ein ganz besonderer sogar. Er liebte seine Papiere, liebte die Art, wie die Piktomgramme miteinander interagierten, sich hinter seinen Augen verbanden zu kühl schwebenden Abstraktionen, manchmal geometrische, fast visuelle Strukturen, manchmal unaussprechliche, nicht zu beschreibende Muster und Verknüpfungen.
Mit Erstaunen nahm er oft wahr, was andere Menschen lasen; Romane, Zeitungen, Biographien, Geschichtsbücher und viel mehr, das er nicht so recht kannte, er hatte das nie verstanden, auch wenn er es oft genug versucht hatte.
Vielleicht waren diese Schriften nicht abstrakt genug, er wusste es nicht, aber diese anderen Papiere bereiteten ihm ein großes Unbehagen, und so las er sie nur selten und widerwillig, auch wenn seine Frau es sicher gern sehen würde, wenn er das ein oder andere Mal die Zeitung aufschlagen würde.
Seine Papiere und Bücher dagegen schienen ihm perfekt, eine makellose Choreographie von abstrakten Modellen, Symbole und Zahlen, die in seinem Geist tanzten wie es kein Mensch könnte, nichts an ihnen verwies auf etwas Reales, und schon deshalb konnten sie wohl kaum mit dem Töten zusammenhängen, so hatte er es -verbotenerweise- seiner Frau erklärt, sie waren nur Schwarz auf Weiß, Buchstaben auf Papier, scharf begrenzt, eindeutig, der Welt abgewandt und unschuldig. Er wusste, dass er Recht hatte.
Nur manchmal in letzter Zeit, da war etwas Unangenehmes geschehen, wenn er lange gearbeitet hatte, er erinnerte sich jetzt nur noch selten daran. Die Piktogramme, sie waren vor seinen Augen merkwürdig verschwommen gewesen, spät in der Nacht, am Anfang nur ein klein wenig, er war nicht mehr Jüngste, dass wusste er, und so hatte er es ignoriert, es beiseite geschoben, sich einfach tiefer über die Papiere gebeugt.
Doch Nacht für Nacht war es schlimmer geworden, die Zahlen und Zeichen wurden immer unschärfer und grauer, und es wurde ihm eine große Last, weiterzuarbeiten.
Eines Nachts dann schließlich, für ihn lag es nun schon eine ganze Weile zurück, da hatte er plötzlich stichiges Rot zwischen seinen ehemals schwarzen Symbolen gesehen, und er war so erschrocken, dass er nach Hause ging und in dieser Nacht nicht mehr arbeitete.
Es musste an der Müdigkeit liegen, hatte er entschieden, er war ja auch nicht mehr der Jüngste, natürlich, eine optische Täuschung.
In dieser Nacht hatte er nicht so gut geschlafen wie sonst, wohl wegen des Schrecks, hatte er am nächsten Tag am Küchentisch gewitzelt.
Am Nachmittag verließ er den Stützpunkt, kaufte sich eine Brille. Und – das war fast wichtiger, hatte er entschieden – etwas Medizin, „damit er länger wachbleiben könne“, wie der Doktor gesagt hatte.

„Lasst mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen, das ist doch so schöne Physik!“ – Enrico Fermi, 1945 als Direktor der Abteilung für theoretische Physik in Los Alamos auf Einwände von Kollegen gegen den Bau der Atombombe.

Und dann herrschte Stille

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Er konnte es fast schon sehen, fast schon berühren, und seine Gedanken schweiften ab, schweiften zu der Zukunft oder besser zu keiner Zukunft, und er sah silberne Vögel in den Himmel steigen, in der Höhe glitzern, Kondensstreifen aus Verbrennungsrückständen hinter sich lassend, eine Kunstturnerin, die lange Bänder hinter sich herzieht, und ihr Flug beschrieb eine wunderschöne Parabel, wie vom logos selbst konstruiert, doch jetzt war es nur in seinem Kopf, nur in seinem Kopf, er musste sich beeilen.
Er huschte um die Ecken, geduckt, die sich warm anschmiegende Waffe in der Hand, und er drückte ab, ein leises Zischen, sonst nichts, und noch ein Körper vor ihm fiel aus der Dunkelheit, ihm entgegengestreckt, die gleiche Uniform, er beachtete sie nicht, er musste weiter, musste zu seinem Ziel, und er würde es erreichen.
Sie hatten es nicht anders verdient, alle, und er würde sich retten, aber er hatte es auch nicht anders verdient und er würde sie alle retten, ein paradoxer Gedanke, natürlich, aber es schien ihm wahr, nein, es war wahr, sie alle hatten es nicht anders verdient und deshalb würde er sie alle retten, sie befreien, und er dachte an die Gräßlichkeiten, die er gesehen hatte, Bilder huschten durch die dunklen Korridore seiner Seele, eine Landmine, ein hungerndes Kind, mit schwarzem Haar und ebensolchen Augen, ein Huhn in einem Käfig, ein Mann in einem Büro, die Krawatte weit heruntergezogen wie ein Richtschwert, weinend, ein Blatt Papier in der Hand, das Gesicht einer Nachbarin aus früheren Tagen, die spöttisch und verachtend über den Zaun blickt, nein, es ging nicht anders. Der Mensch war so, er war so, er war immer so, und er dachte an Kindersoldaten und kleine Mädchen mit wunden Fingern, die Teppiche knüpften und an ältere Kinder, die ihren Krieg in einer Diskothek austrugen, nein, in einem Büro, er verwarf beide Bilder, alle Bilder, sie alle waren äquivalent, sie zeigten das gleiche, etwas, dass er ohnehin kannte, die Grausamkeit und die Schmerzen der Menschen, jedes Menschen, aller Menschen, und er schlich weiter, nicht mehr so verstohlen, es waren keine Wachen mehr da, er hatte gezählt, wusste wieviele es waren, und er wurde sicher, sie hatten ihn nicht bemerkt, nicht gehört, der Alarm war nicht losgegangen, es hatte funktioniert, doch er blieb weiter geduckt.
Seine Füße stoppten vor der Stahltür, und er zog ein Kabel und ein Werkzeug aus seinem schwarzen Rucksack, tat irgendetwas mit der Türsteuerung, er wusste nicht genau, was, achtete nicht darauf, seine Hände taten es selbstständig, und die Tür öffnete sich und schloß sich hinter ihm.
Und er lachte. Lachte, weil er an die Bibel dachte, an den Tag des Jüngsten Gerichts, es war so naiv, so dumm, nein, es würde keinen ewigen Richter geben, es gab ihn nicht, und selbst wenn, sein Lachen wurde träge, selbst wenn, es gab keine Erlösung, kein Mensch würde die Probe bestehen, freigesprochen werden, die Menschen waren alle gleich, er wusste es, hatte es gesehen, und die Bilder spannten sich wieder um seinen Kopf wie ein Strick, er lachte wieder, um sie zu vertreiben, Humanismus, was für eine absurd-zynische Idee, diese Welt und den Menschen in ihr verbessern zu wollen.
Seine Hände berührten das Terminal, entfernten Schrauben, verbanden es mit dem System in seinem Rucksack, lang würde es nicht mehr dauern, er hörte die Sirenen heulen, aber es war zu spät für sie, die ihn aufhalten wollten, nicht auf ihn hören wollten, nichts verstanden, auch wenn es so einfach war. Schmerz und Tod und Grausamkeit herrschten nur dort, wo Leben war, sie waren machtlos ohne Leben. Er würde die Welt verbessern, ihr den ewigen Schlaf schenken, den sie nicht anders verdient hatte und der sie retten würde, das Terminal war fast bereit. Seine Gedanken schweiften wieder zu den Stahlvögeln, es waren nur noch Augenblicke, bis sie ihre imaginären Schwingen ausbreiten würden, auf einem Strahl aus Feuer in den Himmel reiten würden, achttausendeinhundertachtundsiebzig Brüder, die sich nur durch ihre Seriennummern unterschieden und alle auf die gleiche Weise in der Sonne glänzten, und er konnte sehen, wie sie ihre bedächtigen Parabeln am Himmel zogen, um darniederzustürzen, ein jeder auf eine Stadt, pflichtbewusst und in Selbstaufopferung. Und wie gefallene Engel würden sie herabstürzen und die Menschen retten, indem sie niemanden verschont ließen, nur noch Ruinen und Asche und eine unermeßliche Stille ließen.
Sein Finger ruhte schon aus dem Auslöser, er lächelte wissend, ein Klischee, der Auslöser war tatsächlich rot, und er war stolz auf sich, er hatte diese Anlage ausgewählt, sie lange observiert, und er hatte alles funktioniert, er sah nicht nach, ob es die richtigen Sprengköpfe waren, seine Informationen waren zuverlässig, es würde funktionieren. Sein Kopf begann in Trance zu rechnen, Achttausendeinhundertachtundsiebzig mal zweihundertfünzig Megatonnen, es würde reichen, die Erde würde lichterloh brennen, so hell brennen, dass jeder es sehen könnte.
Ein letztes Bild gestattete er sich, das Antlitz einer Frau, alt und vergilbt, tot und begraben, dann vollendete er es.
Heute war der Tag des Jüngsten Gerichts, und ein jeder würde vor dem Richter versagen und gerettet werden.
Achttausendeinhundertachtundsiebzig Stahlvögel schoßen in den Himmel, flogen davon. Und dann herrschte Stille.

„Alles Leben ist Leiden“* – Siddhartha Gautama

post scriptum: /single shot sind kurze, einprägsame Geschichten, die keinen direkten (wohl aber indirekten) Bezug zu den zusammenhängenden Texten haben.

* Interpretation des Autors. Buddhas Intention war mit großer Sicherheit nicht so absolut, wie es im Kontext der Geschichte erscheinen mag.