Kategorie 'Das Tagebuch'

Das Tagebuch – Insekt (3)

Diesen Artikel drucken 8. Dezember 2007

Dritter Eintrag:

Mein letzter Bericht ist noch nicht lange her, zumindest in meinem Empfinden; ich habe es aufgegeben, an diesem Ort ein echtes Maß für Zeit zu suchen .
Ich habe schon vieles gesehen in dieser Wohnung und sehe ständig mehr. Im Moment lese ich – d.h. liest das Wesen, das ich für mein Alter Ego halte – ein Buch, einige Meter entfernt. Er sitzt ganz ruhig da und liest, obwohl ich keine Buchstaben auf den Seiten sehe, nicht einmal einen Titel. Es ist ein dickes, großformatiges Buch, vielleicht ein Lehrbuch. Ich denke, ich habe studiert; sicher bin ich mir nicht, aber ich vermute es. Ich schätze mein Alter auf 20 bis 30; wenn ich mir die Einrichtung der Wohnung dazu ansehe, bin ich wahrscheinlich wirklich Student.
Natürlich sehe ich mir nicht stundenlang beim Lesen zu. Noch vor kurzem fand eine Geburtstagsfeier statt; einer der Gäste hätte sich beinahe auf mich gesetzt, hockte sich dann jedoch wortlos auf den Boden neben der Couch; auch hier bemerkt mich niemand, es ist so, als wäre ich nicht da. Und doch ist es hier anders als in dem Kinderzimmer. Es ist so, als befände sich die Wohnung und die Menschen in ihr in einer Art Fluss – ja, alles fließt. Es gibt eine gewisse Unschärfe in allem, was ich sehe, als wäre da ein durchscheinender Vorhang vor meinen Augen. Die einzelnen Szenen besitzen zwar einen Ort, einen ausgedehnten Moment, aber darüber hinaus ist nichts fest. Alles bewegt sich. Nein, das trifft es wohl nicht ganz; ich denke, mir wird etwas Bestimmtes gezeigt, ohne dass ich erkennen könnte, was es ist. Vielleicht ist es natürlich auch nur Zufall – aber nein, das glaube ich nicht. Manchmal haben die Ereignisse einen speziellen Ablauf, eine bestimmte… Art. Es ist schwer zu erklären; es ist ein wenig so, als kämen die Dinge, die hier geschehen, von einem uralten Band. Manchmal stockt es, bleibt kurz stehen, als wolle es etwas verdeutlichen; manchmal läuft es sogar einige Sekunden vor und zurück. Andere Szenen dagegen erscheinen mir gestaucht, als würde das Band sich schneller abwickeln, so wie die Geburtstagsfeier, die plötzlich schon wieder vorbei war.

Ich weiß nicht, wann es begann – ich saß eine Weile dort, auf dem Sofa. Ich berichtete schon davon, oder? Ja, ich sehe es, davon habe ich schon geschrieben. Irgendwann hörte ich ein Türschloss leise klicken, dann ein weiteres. Ich wartete – doch es kam niemand. Vielleicht wäre auch nie jemand gekommen, hätte ich einfach nur weiter auf der Couch gesessen, wer weiß das schon; ich jedenfalls stand auf und untersuchte die Türen erneut.
Die Tür zum Bad öffnete sich mühelos. Ich bin mir sicher, sie war zuvor verschlossen gewesen, doch jetzt konnte ich eintreten. Wasserdampf schlug mir entgegen, und das Rauschen von Wasser. Jemand duschte, verborgen durch den Vorhang. Einen Moment lang, das kannst du dir sicherlich denken, zögerte ich. Dies ist sicher wieder ein Spiel – natürlich. Aber dennoch, man beobachtet niemanden beim Duschen, oder? Selbst, wenn er nur eine… ich weiß kein Wort dafür.
Nichtsdestotrotz musste ich, wollte ich erfahren, wer dort in meinem Badezimmer duscht; zumindest lag die Annahme nah, dass es meine Wohnung war. Einige der Poster im Wohnzimmer kommen mir vage bekannt vor, und außerdem habe ich unter der Couch ein Pappschachtel mit ein paar meiner alten Muscheln gefunden. Sie waren nicht so schön poliert wie die gekaufte auf dem Tisch, aber einige von ihnen sind zweifelsohne die selben wie jene aus der Kiste, die ich hierher mitnahm; seltsam, was nur fand ich so besonders an diesen Skeletten.
Wie auch immer, ich schob also den Duschvorhang zurück. Dahinter war – eine Frau. Sie bemerkte mich nicht, aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.
Vielleicht wirst du nicht verstehen, warum ich da blieb und sie beobachtete – unter normalen Umständen wäre es sicherlich absolut verwerflich, aber gewöhnlich sind die Umstände nun sicher nicht. Und so blieb ich; ich kann dir nicht sagen, wie lange. Das ganze dauerte vielleicht zwanzig Minuten, vielleicht vierzig, vielleicht sogar eine Stunde. Ich sagte schon – hier scheint alles im Fluss zu sein.
Die Frau war sicher hübsch, das kann ich sagen. Ich schätze sie auf Mitte 20, höchstens. Ihre Haut war noch makellos, und auch in ihrem Gesicht zeigten sich keine Falten. Ihre Haare waren schwarz, ganz schwarz, ihre Augen braun. Sie hatte eine wunderbare Figur, auch wenn die ganze Szene kaum etwas Sexuelles besaß – versteh mich nicht falsch, sie war attraktiv und nackt, aber eben auch so… weit entfernt. Ich hatte dieses Gefühl schon oft; dass alles so weit entfernt ist. Was ich sehe, das macht eine lange Reise bis zu meinen Augen, und auf dem Weg wird das Licht alt. Ich will nicht behaupten, diese Frau hätte mich nicht angesprochen – das würdest du vermutlich ohnehin nicht glauben. Aber es war etwas Gedämpftes, Leichtes. Etwas Vergangenes vielleicht.
Nun, ich habe sie nicht erkannt. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor; auch ihr Körper. Etwas äußerst Vertrautes war an ihr, ich konnte es fast greifen, aber – ich erkannte sie nicht. Da war auch keine Emotion, kein Gefühl, nichts. Inzwischen weiß ich, dass ich mit ihr zusammen gewesen sein muss, eine lange Zeit sogar, und das stimmt mich traurig. Sollte ich mich nicht daran erinnern? Ein wenig zumindest. Es hätte mehr bleiben müssen als diese zerstreute körperliche Vertrautheit, oder?
Ich blieb also dort neben dem zurückgezogenen Vorhang stehen. Eine ganze Zeit lang musterte ich sie nur, musterte sie ganz, um doch einen Menschen zu finden, den ich erkennen könnte, aber ich fand niemanden, nur diese halbfremde Frau in meinem Bad. Eigentlich fand ich sogar weniger als eine Fremde; je länger ich hinsah, desto verwaschener wurden ihre Züge, desto fratzenhafter ihre Proportionen. Mein Blick war so starr, dass ihre Arme und Beine fast zu Streichhölzern wurden; ihre Brüste zerfielen in zerquetschte Kugeln. Ihre weiche glatte Haut verdarb, wurde zu einem bräunlichen Panzer, der matt glänzte.
Das machte mir keine Angst; vielleicht erkannte ich sie darin, in dieser Karikatur. Etwas ließ mich an ein Insekt denken dabei; ein ungelenkes, dummes Insekt, dass die Beinchen und die Ärmchen hebt und sich mal hier, mal dort schrubbt, als würde das etwas besser machen.
Ich weiß nicht, was mich zu diesem Gedanken trieb; aber am ehesten erkenne ich dieses Wesen in dem Insekt wieder, dass ich mir vorstellte. Irgendwann jedenfalls stellte sie das Wasser ab und stieg aus der Badewanne; ich ging hinaus und hörte die Tür hinter mir wieder zuschnappen; ich denke, ich hatte gesehen, was ich sehen sollte.
Danach habe ich sie noch oft gesehen, diese Kreatur, meist bekleidet. Ich denke, wir wohnten hier zusammen; ich habe sie mit mir frühstücken sehen, ich weiß nicht, wie oft. Ich sah mich mit ihr Fernsehen, auch wenn ich die Filme nicht wirklich verfolgen konnte. Einige Male fand ich eine Idee, einen Anflug von Vertrautheit in den verwaschenen Streifen auf dem Bildschirm, mehr nicht. Für mich blieb der Schirm blind. Ich sah mich mit ihr schlafen; ich kann nichts Falsches mehr daran erkennen, es zu beobachten, seit ich dieses Insektenbild im Kopf habe.
Ich sah auch viele andere Szenen, aber die meisten davon schienen sich zu überschneiden; selbst das Sonnenlicht vor den trüben Scheiben wechselt seltsam unregelmäßig mit der Dunkelheit, so dass ich beides manchmal nicht genau trennen kann. Ich sprach schon vom Fließen, oder? – Ja, das tat ich.
Gern würde ich dir genauer sagen, was ich noch beobachtete. Aber auch in mir bleiben die einzelnen Ereignisse seltsam verbunden. Es fällt mir schwer, einzelne herauszugreifen, ohne alle fallen zu lassen. Ich weiß etwa, es gab da einen Streit zwischen meinem Alter Ego und ihr, vielleicht auch mehrere; aber viel mehr kann ich nicht sagen. Überhaupt bleiben mir Dialoge hier ebenso verborgen wie das Bild auf dem Fernsehschirm; ich höre die Personen reden, wie eben auch die Menschen auf der Party vor kurzer Zeit, aber ich verstehe nicht einmal Silben. Es ist so, als würde ich an einer dicken Wand lauschen. In manchen Gesprächen meine ich, einen fernen Inhalt zu erkennen; aber er bleibt nebulös und kaum greifbar.
Es gibt nur eine Szene, von der ich dir noch berichten sollte, solange hier Ruhe herrscht; sie ist mir genau im Gedächtnis geblieben, wohl auch, weil sie so lange anhielt; ja, anhalten ist das richtige Wort.
An einem Abend (ich glaube, es war ein Abend) saß er hier genau wie er es jetzt auch tut. Dann jedoch hörte er wohl ein Geräusch, dass ich nicht genau einordnen konnte, und stand auf. Zunächst dachte ich, dies sie nur ein weiterer Übergang, ein weiterer Wechsel in der Zeit. Doch dann sah ich eine scharfe, rote Sonne durch die Fenster scheinen, und mir wurde klar, dass etwas wichtiges geschehen würde.
Er ging also aus dem Zimmer. Ich blieb sitzen und hörte nach einigen Sekunden das leise Plätschern von Wasser; ich hätte wieder einfach dort bleiben können, abwarten können. Doch so lange ich auch gewartet hätte, es wäre wohl nichts geschehen. Also stand ich auf, um ihm folgen; ich fand ihn im Bad, er stand dort und betrachtete sie, während sie duschte.
Ich weiß nicht warum, aber ich konnte sie nicht mehr ansehen. Zumindest nicht so, wie ich es tat, als ich sie zum ersten Mal beobachtete. Sah ich zu ihr hin, am Duschvorhang vorbei, dann sah ich augenblicklich wieder diese Kreatur, dieses große Insekt.
Er dagegen, soviel kann ich sagen, er starrte regelrecht. Sein Blick war so fixiert, dass ich einen Augenblick fürchtete, es würde wieder so enden wie beim letzten Mal. Für einen Moment glaubte ich, gleich wieder diesen seltsamen Satz zu hören und zu fallen.
Aber so war es nicht – er musterte sie einfach nur durch mich hindurch. Ich wagte es, mich zwischen die beiden zu stellen, um ihm in die Augen sehen zu können; in seinem Blick fand ich nichts besonderes. Er war klar und konzentriert, aber mehr nicht. Da war keine Emotion – wenn doch, dann konnte ich sie nicht erkennen.
Ich hatte einen seltsamen Gedanken, während ich dort so stand: Wenn ich so lange mit ihr zusammen gewesen war, warum war sein Blick dann so leer? Ich konnte keine Zärtlichkeit darin erkennen, nicht mal Begehren, nichts. Er musterte sie wirklich nur, vielleicht ganz so, wie ich es getan hatte, als ich hier ankam.
Ich dachte darüber nach, ich weiß nicht wie lange; ich hörte nur das Wasser rauschen, lange Zeit. Irgendwann griff er an mir vorbei und zog ganz den Vorhang ganz zu. Dann ging er wieder ins Wohnzimmer.
Ich bin mir nicht sicher, warum er überhaupt dorthin gegangen war. Ich glaube nicht, dass sie ihn bemerkt hat; ich verließ das Bad nach ihm und schloss die Tür ebenso leise wie er getan hatte. Ich weiß nicht, was er gedacht hat, als er ihr ins Bad folgte, auch nicht, was er dachte, als er dort so stand und starrte. Vielleicht hat er etwas Ähnliches


Ich denke, die Ruhe ist vorbei. Er ist gerade aufgestanden und hat den Raum verlassen. Jetzt höre ich laute Stimmen aus der Küche; ich sollte ihm folgen. Bis bald.

Das Tagebuch – Kinder (2)

Diesen Artikel drucken 20. August 2007

Zweiter Eintrag:

Ich denke, jetzt kann ich wieder schreiben; ja, es geht. Ich habe fast schon geglaubt, dass sei das Ende, aber jetzt bin ich wieder hier und kann dir berichten. Gern würde ich dir genauere Erklärungen liefern als zuvor, aber ich fürchte, es ist nur noch verworrener geworden.

Aber ich sollte vorn beginnen, an der Stelle, an der ich auch aufgehört habe; es kommt mir ein wenig verschwommen vor, was ich dir beim letzten Mal schrieb, als wäre es vielleicht doch nicht richtig: ich muss mich wohl entschuldigen, aber du wirst weiterlesen müssen, ohne einen Namen zu kennen. Es ist schwer zu erklären, aber ich las die ersten beiden Seiten meines kleinen Tagebuchs noch einmal, während das Chaos um mich noch glühend heiß war und ich nichts tun konnte, als auf diese beiden Seiten zu starren. Die Schrift ist seltsam, aber ich habe es geschrieben, daran erinnere ich mich. Dennoch, der Name, er kam mir so fremd vor. So als wäre er gar nicht meiner. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber ich musste ihn ausradieren, ich konnte nicht anders. Wenn ich es genau bedenke – Nein, das war nicht meine Name. Er kann es nicht gewesen sein; auch wenn einen das Gedächtnis betrügt, müsste da doch ein entferntes Wiedererkennen sein, oder etwa nicht? So war es doch immer mit Namen, die man lange nicht mehr gehört hatte: Vielleicht schienen sie aus der Erinnerung gelöscht zu sein, aber dennoch blieben sie einem vertraut, wenn man sie wieder sah.
Einen neuen Namen habe ich auch nicht – ich habe darüber nachgedacht, aber mir fällt keiner ein. Keiner, der mir wirklich vertraut wäre, und ich möchte dir nicht irgendeinen beliebigen nennen. Wer wäre ich dann noch, hier, am Rand von allem, wenn ich mir irgendeinen Namen geben würde; auch ich wäre dann beliebig, nicht wahr, und so bleibe ich lieber namenlos.

Doch genug davon, ich wollte berichten. Da waren diese Schritte vor meiner Tür, ich habe es dir geschrieben. Kaum hatte ich den Stift beiseite gelegt, da kam wirklich jemand herein. Er kam herein, ohne anzuklopfen, ein kleiner Junge von vielleicht acht Jahren. Ich denke, ich war es selbst; sicher bin ich mir freilich nicht, aber er trug einen gelben Schlafanzug mit einem Muster, das mir bekannt vorkam. Ja, ich denke, so einen hatte ich auch schon einmal. Männchen in bunten Anzügen waren darauf, ich glaube, sie gehören zu einer Fernsehserie; so wird es sein.
Der Junge ging an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Ich sprach ihn an, doch er reagierte nicht; ich bin mir sicher, dass er mich auch gar nicht hören konnte. Jedenfalls war da nicht das geringste Anzeichen einer Reaktion, als ich sein Gesicht im Halddunkeln sah. Er ging zu seinem Bett und setzte sich darauf, als würde er auf etwas warten. Ich stand auf, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen. Jetzt weiß ich gar nicht mehr genau, warum ich das tat; eigentlich war ich mir absolut sicher, dass auch das nichts ändern würde. Dies ist nur eine Bühne, dachte ich, und ich bin nur ein Zuschauer. Dennoch stand ich auf. Vielleicht wollte ich nur sehen, ob er wirklich real war, dieser Junge, ob sein Herz schlug. Fast schon war ich mir sicher, dass ich einfach durch ihn hindurchfassen würde, dass ich nur Luft berühren würde. Das auch er nur ein Geist war. Ich hielt den Atem an, als ich neben ihm stand. Er sah immer noch irgendeinen Punkt auf dem Fußboden an.
Und dann spürte ich ein Herz unsicher und hart schlagen, als meine Hand kurz auf seiner Schulter ruhte; ja, er war ein Mensch, das weiß ich nun sicher; ich weiß nicht, was seinen Puls so trieb, aber es war Blut, das durch seinen Körper strömte.
Dann nahm der Junge meine Hand. Für einen Moment glaubte ich, ich hätte eine Art Zauber gebrochen, und gleich würde er zu sprechen beginnen, mich erkennen. Doch nichts dergleichen geschah. Er blickte weiter starr irgendwohin, stand auf und führte mich wieder zu dem Platz, an dem ich zuvor gekauert hatte; es schien, als bewege er sich nicht bewusst. Es war mehr so, als würde er ein Insekt verscheuchen, ganz automatisch und ohne darüber nachzudenken. Dann ließ er meine Hand los. Ich versuchte, noch einmal in seine Augen zu sehen, doch sein Blick ging ganz natürlich an mir vorbei; ich denke nicht, dass er mich bemerkt hat. Du wirst dich fragen, warum ich ihn nicht geschüttelt habe, warum ich ihn nicht angeschrieen habe. Aber irgendwas in der Berührung seiner Hand ließ mich in dieser Ecke stehenbleiben, während der Junge zurück zum Bett ging. Nun denke ich, dass das auch das Vernünftigste war. Es hätte nichts gebracht, zu toben: Er konnte mich nicht sehen oder hören.
So setzte ich mich wieder in meine Ecke, und dieser kleine Junge – ich bemerkte, ich hatte damals schon diese fast grauen Strähnen im Haar – setzte sich wieder auf das Bett. Es dauerte nicht lange, vielleicht nur Sekunden, dann hörte ich wieder Geräusche von draußen; der Junge seufzte, das konnte ich hören, dann flog die Tür fast aus den Angeln.
Ich schrak zusammen, der Junge blickte nur zu der Gestalt, die dort im neonfarbenen Gegenlicht stand. Sie war groß, vielleicht so groß wie ich. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen, wohl aber den Stock in seiner Linken, dicker als zwei oder drei Finger. Der Mann atmete schwer und lehnte sich ganz leicht gegen den Türrahmen. Ich konnte nicht sehen, wohin er blickte, aber ich denke, er sah den Jungen an, zwei, vielleicht drei Sekunden. Dann trat er vor, ganz langsam, bis in die Mitte des Raumes, blieb dort stehen.
Und für einen Moment fühlte ich etwas Seltsames; nun, da es schon eine Weile her ist, verschwimmt die Empfindung: Aber ich denke, ich habe noch nie so sehr gehasst wie in diesem Augenblick. Während er sich mit seinen langsamen, fast lässigen Schritten durch den Raum bewegte, schossen mir die Tränen in die Augen. Ich wollte aufstehen, ich musste, hätte ich es gekonnt, ich hätte die Welt in Stücke gerissen. Aber ich konnte nicht, der Griff des Jungen hatte mich gebannt; schreien wollte ich, schreien und toben, aber nur ein ersticktes Pfeifen kroch über meine zerbissenen Lippen. Jetzt, wo ich es aufschreibe, komme ich mir hysterisch vor: versteh mich nicht falsch, aber ich kannte diesen Mann nicht. Lange habe ich darüber nachgedacht, aber ich kenne ihn nicht, soweit ich mich erinnere. Nichts an ihm hat mich an irgendetwas erinnert, aber in diesem kurzen Moment glaubte ich, ihn und seine Absichten erkannt zu haben; Das ist merkwürdig. Auch wusste ich, dass ich ohnehin nichts tun kann, und es war nicht nur der Wunsch, den Jungen zu beschützen, der mich in diesen Augenblicke packte. Ich würde dir auch gern das erklären, aber ich kann nicht; ich kannte den Mann nicht, und ich möchte auch nicht länger über ihn sprechen. Während ich mich also auf dem Boden wand, ging der Mann einen Schritt auf den Jungen zu, unendlich langsam und gedehnt. Ich sah durch den Tränenschleier, dass der Junge auf den Boden direkt vor sich blickte. Ich sah auch, wie er den Blick langsam hob, als der Mann ruhig und ohne einen Ton ausholte; sein Blick traf mich für einen Moment, und ich erkannte eine klare, überschäumende Kälte darin, die mich meine Wut fast vergessen ließ.

Und dann geschah etwas Seltsames. Zunächst dachte ich, der Schläger würde nur noch einen Moment warten, den Augenblick bis zum letzten auskosten, bevor er zuschlug. Aber dann begriff ich, dass ich seine Atemzüge nicht mehr hören konnte. Er stand nur noch da, wie erstarrt, den Arm zum Schlag ausgeholt.
Ich weiß nicht, wessen Stimme es war, die ich hörte; meine war es nicht, auch nicht die des Jungen, auch wenn es seine Lippen waren, die die Worte ausstießen. Ich hörte sie auch nicht sofort, sie schien sich mehrmals zu wiederholen. Als ich die Worte jedoch bewusst hörte, da stand der Junge plötzlich neben mir: Der große Mann war immer noch in seiner Haltung verharrt, er musste an ihm vorbeigegangen sein. Ich blickte in die Augen des Jungen, ich konnte aber auch nicht anders; zum ersten Mal hatten sie mich fixiert, mich wirklich wahrgenommen. Aber es waren nicht seine; vorher waren sie blau gewesen wie meine, jetzt jedoch hatten sie eine unbestimmte Farbe und einen schwer zu lesenden Ausdruck. Es war wohl Trauer, die ich sah, doch das erkannte ich erst, als ich die Stimme des Mädchens, das dort zu mir sprach, zum zweiten Mal hörte; sie sagte nur dieses, mit einem fernen Klang:
„Warum, Vater? Warum?“
Ich hörte diesen Satz wohl noch einige Male und sah, wie eine Träne durch des Gesicht des Jungen, der ich einmal war, lief. Dann wurde es wirklich verrückt.
Die genaue Reihenfolge kann ich dir nicht mehr nennen, es ist alles so verschwommen. Relativ sicher bin ich mir, dass es die Wand hinter dem Bett war, die als erstes explodierte. Zuvor hörte ich eine Maschine oder etwas ähnliches, dann wurde die Wand einfach zerrissen; ich sah dahinter nicht viel, nur Schwärze und einige blendende Lichter. Es ging zu schnell, aber ich denke, es war ein Splitter aus dieser ersten berstenden Wand, die den Jungen am Kopf traf. Er ging sofort zu Boden, und eine Sekunde später konnte ich ihn nicht mehr sehen. Ich glaube, er war sofort tot.
Im Schreck hatte ich mich an die Wand hinter mir gedrückt; diese zerriss als nächstes, ohne mich zu verletzen; wahrscheinlich wäre das auch gar nicht möglich gewesen. Ein Stück des Fensterbrettes traf den unbeweglichen Schläger, der immer noch ungerührt in der Mitte des Raumes stand, und riss ihm den Bauch auf. Danach schien es mir für einen Moment, als wäre es wieder ruhig; doch dann zerstoben auch die anderen beiden Wände, die Decke, zuletzt der Boden, und ich fiel.
Wie lange ich fiel, kann ich nicht sagen. Es könnte lang, aber auch kurz gewesen sein. Ich denke, eine Zeitangabe würde auch keinen Sinn machen; für mich fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Auf dem Weg sah ich nicht viel: Einmal noch sah ich den Jungen, er sagte wieder diesen seltsamen Satz mit der falschen Stimme. Dann wurde es ganz dunkel; das Denken fiel mir schwer. Eine Sache noch kann ich aus dieser Zeit berichten; ich hörte ein Rauschen, ein rhythmisches Rauschen. Fast wie Atemzüge, aber irgendwie dumpfer.
Schließlich stand ich in einem anderen Zimmer; es gab da keinen Übergang, im einen Moment fiel ich, im nächsten stand ich hier. Während ich schreibe, sitze ich auf einer roten Couch in diesem Raum, in dem ich wieder zu Verstand gekommen bin. Einige Stunden lag ich wohl auch darauf und schlief; ich musste mich eine Weile sammeln. Als ich erwachte, fand ich diesen seltsamen Kasten voller Muscheln neben mir und mein Tagebuch.
Meine Umgebung kann ich nicht einordnen; es sieht ein wenig aus wie das Wohnzimmer in einer Mietwohnung; die Möbel wirken recht billig und modern. An den Wänden hängen Poster mit karibischen Sonnenuntergängen und leicht bekleideten Frauen. Über einem Schrank voller Bücher hängt eine Flagge, ich glaube, sie gehört zu Kuba. In die Bücher habe ich schon hineingesehen; sie sind unleserlich. Manche Seiten sind zwar bedruckt, aber die meisten sind leer. Bei manchen hört der Druck mitten im Satz auf. Die anderen Zimmer habe ich noch nicht gesehen; die Türen sind verschlossen. Auch hier fand ich übrigens eine Muschel; sie lag auf dem Tisch, als Dekoration.
Ich habe übrigens beschlossen, diese Papiere in die alte Kiste aus meinem Kinderzimmer zu legen, die Sammlung werde ich wegwerfen; du wirst das nicht verstehen, weil ich schrieb, wieviel sie mir bedeutet hat. Ich erinnere mich daran; auch erinnere ich mich daran, wie ich sie sammelte, zumindest teilweise. Aber dennoch, die Sammlung kommt mir fremd vor, als hätte ich sie einem anderen gestohlen. Sie bedeutet mir nichts mehr, und ich brauche die Kiste ohnehin, wenn ich mein Tagebuch nicht wieder verlieren will.
So. Ich denke, mehr kann ich dir im Moment nicht berichten. Ich werde noch eine Weile hier sitzen und über den seltsamen Satz nachdenken, den das Mädchen ständig wiederholte. Du musst mir glauben, ich habe nie einem Kind etwas angetan. Du hast Recht, ich kann mich an so vieles nicht erinnern, aber bitte glaub es mir dennoch. Die Stimme des Mädchens kannte ich einmal, da bin ich mir fast sicher; aber ich habe ihr niemals etwas angetan.
Ich werde wieder schreiben, wenn es etwas zu berichten gibt.

Das Tagebuch – Prolog (1)

Diesen Artikel drucken 27. Januar 2007

Erster Eintrag:

Hallo, ich grüße dich, wer immer du auch bist. Vermutlich wird niemand das hier jemals lesen können – es liegt zumindest aus meiner Sicht nahe, dass es nie jemand lesen wird. Aber offensichtlich hat jemand dieses Bündel gefunden, der meine Geschichte lesen kann.
Warum ich dies jetzt schreibe, wirst du dich jetzt fragen. Nun, ich weiß das nicht so genau. Genau genommen weiß ich sogar eine Menge nicht, aber dazu später mehr.
Ich habe diesen Stift, mit dem ich schreibe, und diese Blätter, die du gerade in Händen hältst, gefunden; vielleicht wirst du sie auf die selbe Weise finden wie ich. Offenkundig bringt mich Zettern und Toben hier nicht weiter, an diesem Ort, wo immer das auch ist, da scheint es mir einfach logisch, die Geschichte aufzuschreiben. Etwas anderes bleibt mir nicht zu tun, und untätig bleiben möchte ich nicht.

Ich sollte an dieser Stelle warnen; es ist möglich, dass dich dieses – mein – Tagebuch, wie ich es nennen werde, schockieren wird. Du solltest dir wirklich überlegen, ob du weiterlesen möchtest. Bitte, überleg es dir gut; ich meine das ganz ernst. Überleg es dir.

Nun, ich beginne am besten mit den wichtigen Dingen; Mein Name ist [geschwärzte Stelle], ich bin etwa 40-50 Jahre alt, genau weiß ich das nicht (merkwürdig, nicht? Sowas sollte man nicht vergessen, oder?). Meiner Erinnerung nach habe ich einen Beruf ausgeübt, der viel mit den großen Maschinen auf Baustellen zu tun hatte, auch das kann ich nicht präzisieren. Ich habe nur noch einige Bilder im Kopf, auf einem ist ein Mensch abgebildet, der ich wohl sein könnte (es gibt hier keine Spiegel), mit einen Helm, neben einem Kran; daneben sehe ich einige große Gebäude, Wolkenkratzer, deren Architektur mir fremd ist. Auch sehe ich mich selbst neben einer Frau, die in meinem Alter sein könnte; vielleicht ist das meine Frau. Ja, sicher sogar, da ist ein merkwürdig vertrautes Gefühl, wenn ich an das Gesicht dieser Frau denke, als hätte sie mir einmal viel bedeutet. Ich weiß nicht, ob wir Kinder haben, vielleicht.
Gut, jetzt weißt du, wer ich bin, und keiner der Sätze oben sollte schwer zu glauben oder nur zu verstehen sein. Viel mehr kann ich dir auch nicht sagen, vieles scheint mir geschwunden zu sein.
Nun sollte ich wohl erklären, wo ich bin; aber ich fürchte, das ist mir unmöglich, ich weiß es einfach nicht genau. Ich kann dir nur sagen, dass hier die unglaublichsten Dinge geschehen. Viel wesentlicher und schwerer zu akzeptieren dürfte allerdings sein, wie oder was ich bin. Deshalb werde ich es jetzt ganz direkt aufschreiben, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich es selber glaube.

Ich bin tot.

Tja, das ist es. Ich bin tot. Erledigt. Mausetot.
So. Glaub mir, nicht nur du stellst dir jetzt einige sehr wesentliche Fragen; ich bin auch nicht ganz sicher, ob ich dieses Ungeheuerliche für wahr halten darf.
Ich kann dir nur versichern; es stimmt. Ich habe das sichere Gefühl, tot zu sein. Woher ich die Gewissheit nehme? Ich weiß nicht genau. Wahrscheinlich ist das ganz einfach; genau so, wie ich mal wusste, dass ich am Leben bin, weiß ich jetzt eben, dass ich tot bin.
Vermutlich fragst du dich jetzt, wie das ist, tot sein, sterben; aber weißt du, dazu kann ich dir nur sagen, dass beides vollkommen überschätzt wird. Aus meiner Sicht ist es ziemlich überzogen, was wir im Leben alles auf den Tod verwenden. Ich zumindest habe weder ein helles Licht gesehen, noch habe ich mit Petrus gesprochen; ich erinnere mich nicht an große Schmerzen, und auch nicht an irgendwelche Unannehmlichkeiten. Es ist einfach so, als würdest du durch eine Tür treten; du trittst über die Schwelle, machst einen Schritt – und bist tot. So einfach ist das. Wie sich das ‚Tot sein‘ anfühlt, darüber bin ich noch nicht ganz sicher; eigentlich fühlt es sich wie immer an. Andererseits ist es hier ziemlich einsam, wo auch immer ‚hier‘ ist.
‚Hier‘ – das ist Moment ein recht dunkles Zimmer, eins, in dem ich aufgewachsen bin, wenn ich mich recht erinnere. Die Tapete kommt mir auf jeden Fall bekannt vor, es sind kleine Affen und Zebras darauf, die mich in der Dunkelheit trübe anglotzen; ich erinnere mich auch den Ball in der Ecke des Zimmers, und als ich einer Intuition folgend unter das Bett sah, da fand ich meine alte Muschelsammlung, ganz ordentlich sortiert und abgedeckt. Es ist seltsam – ausgerechnet daran erinnere ich mich. Du musst wissen (ich hätte es schon am Anfang bemerken sollen; ich hoffe, du störst dich nicht am ‚Du‘.), ich war als Kind sehr stolz auf diese Sammlung; ich habe sie alle selber gefunden. Oft war ich mit meinem Vater (oder war es meine Mutter?) draußen, am Wochenende, und habe die gemusterten Schalen im Schlick gesucht, bis ich fast so durchnässt war wie meine Muscheln – eine schöne Erinnerung. Vielleicht ist sie mir deshalb geblieben.
Sonst erinnere ich mich nicht an viel in diesem Zimmer, aber ich glaube nun fest, das es meins sein muss – oder besser, es einmal war. Ich weiß nicht genau, wie lange ich hier schon sitze, selbst während ich dies schreibe; vielleicht kennt dieser Ort im herkömmlichen Sinne auch keine Zeit. Aber das Schreiben hilft, die Gedanken zu fokussieren; mir ist, als hätte ich nie einen Gedanken wirklich gedacht, in diesem Zimmer, bevor ich damit anfing.
Nun, so stellt sich mir jetzt auch die Frage nach dem Warum, die ich vorher nicht einmal in Erwägung gezogen habe; warum bin ich hier?
Ich bin tot, soviel steht fest. Aber irgendwie erwartet man.. etwas. Etwas anderes als ein ewiges Kinderzimmer. Aber andererseits habe ich das Gefühl, das noch etwas geschehen wird. Es ist nur Intuition, vielleicht auch nur Wunschdenken, aber mir scheint, dieser Ort… wartet auf etwas. Als müsste jemand den Prolog verlesen, bevor das Schauspiel beginnen kann.
Die Kiste mit meinen Muscheln habe ich übrigens jetzt immer bei mir; ich werde sie behalten. Nenn es Nostalgie, aber sie ist eine schöne Erinnerung, eine der wenigen. Hier ist ja auch niemand, der sie beanspruchen kann; sie gehört mir.

Ich höre Geräusche! Ich kann mich nicht erinnern, etwas gehört zu haben seit ich hier bin, also kannst du dir sicher vorstellen, wie aufgeregt ich bin. Zuerst hörte ich eine Tür klappen, zweimal, dann Schritte über mir (ich glaube, wir wohnten in einem Haus, damals), und jetzt sind es Alltagsgeräusche, eine Kaffeemaschine oder etwas Ähnliches hörte ich gerade eben. Warte, ich glaube jetzt sind es wieder Schritte; sie werden lauter.
Sie hören sich jetzt ganz nah an, als wären sie fast direkt vor der Tür der Zimmers, ich werde besser aufhören und später weiterschreiben…

Bis bald, mein unbekannter Leser.

Beginn einer neuen, fortlaufenden Erzählung mit bisher unbekannter Länge (4-6 Teile, so weit ich das bisher abschätzen kann).