Kategorie 'Das Meer'

Lauf

Diesen Artikel drucken 25. Februar 2007

Die Tür schnappt auf, du hörst sie leise ächzen, siehst sie aber nicht, siehst du nur deine Hände nach ihr greifen, und dann läufst du auch schon, dein Kopf befiehlt deinen Beinen nicht mehr, muss es auch nicht mehr. Die Autotür hörst du noch fern hinter dir zuschlagen, drehst dich aber nicht mehr um, starrst auf deine nackten Füße, siehst, wie sie sich rhythmisch entfernen und wieder näherkommen, immer wieder, schon bist du über den Asphalt hinaus. Der strohige Untergrund fühlt sich angenehmer an als der rissige Asphalt, denkst du einen Moment, deine Füße schießen weiter ihrem Ziel entgegen, du siehst ihnen zu. Wie Automaten weichen sie Steinen und unsicher wirkenden Stellen aus, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Deine Füße stolpern mal nach rechts, mal nach links und aus dem Lauf wird ein unförmiger Tanz, der an deinem Rückgrat zerrt, doch das stört dich nicht, du siehst weiter auf deine Zehen.

Und für einen Moment werden sie ganz klein, deine Füße, wie die eines Kindes, und du schmeckst etwas Vertrautes in der Luft, das Salz hing schon zuvor dicht über dir, aber erst jetzt kannst du es wirklich riechen, wirklich schmecken, still lächelst du. Dann verfehlt dein linker Fuß einen Schritt, landet in einer versteckten Distel, und mit einem unterdrückten Schrei wirst du nach rechts geworfen, ein Arm schießt hervor, hält das Gleichgewicht. Deine Füße beschließen, das Tempo wieder aufzunehmen, etwas Nasses klebt am linken, aber das ist dir egal, du bist fast da, spürst schon den warmen Sand unter den Füßen. Deine Beine beschleunigen auf dem planen Untergrund noch einmal, ignorieren die kleinen Kiesel jetzt, die deine Fußsohlen unangenehm streifen, ignorieren auch das Brennen deiner Lungen.

Dann, du hast es schon erwartet, berühren deine Zehen plötzlich nur noch Luft, du spürst den auffrischenden Wind hinter dem Abhang, und für einen absurd langen Augenblick glaubst du, fliegen zu können, einen Moment lang schwebst du irgendwie zwischen Himmel und Wasser, doch dann prallst du auf, deine Beine geben elastisch nach, lassen dich auf die Seite rollen, hart schlägst du auf die Schulter. Deine Arme ziehen dich wieder auf die Füße, du stolperst noch fünf Schritte weiter, fällst wieder hin, siehst aufs Meer hinaus. Und kommst an.

Der Alte am Strand

Diesen Artikel drucken 17. Februar 2007

Nienhagen/Rostock, Strand Der alte Mann ging den Strand entlang, wie immer, was hatte er auch sonst noch zu tun.
Das war ein Klischee, er wusste das, aber es störte ihn nicht, im Gegenteil. Sogar Klischees waren in seiner Zeit etwas Wertvolles.
Seine Kleidung war kaum abgewetzt, wenn auch schlicht und von einem leichten Grauschleier bedeckt, bei diesem Licht; einen Beobachter aus früheren Tagen hätte das wohl irritiert, doch die synthetischen Fasern der Wohlfahrt ließen keinen Verschleiß mehr zu, wurden weder schmutzig noch alt. Und so schien es, als ob es die zu weite Hose war, die den dürren alten Körper des Mannes trug und nicht umgekehrt; auch das wusste er, aber er scherte sich nicht darum, denn es schien ihm passend; in gewisser Weise stimmte das sicher auch.
Wurde er müde vom Laufen, dann setzte er sich auf einen Stein in der Nähe des Wassers und ruhte eine Weile aus, während er auf das grau-blaue Meer starrte und einen Proteinriegel der Wohlfahrt zu sich nahm, ohne den penetrant-künstlichen Geschmack sichtbar zu registrieren. Mehr hatte er nicht zu tun; mehr gab es nicht. Mehr als dieser Strand war von der Welt nicht mehr übrig geblieben.
Manchmal dachte er wahrscheinlich auch diesen Gedanken, aber dann hätte er wohl gelacht oder zumindest gelächelt, denn auch das schien ihm klischeehaft.
Außerdem stimmte es nicht; ‚das‘ Meer, ‚der‘ Strand, diese Kategorien hatten nicht einmal in seiner Kindheit wirklich existiert.
Was er heute so bezeichnete, dass war ein kiesiger Sandstreifen voller toter Muschelskelette; ab und an musste er aufpassen, nicht in irgendeine Flüssigkeit zu treten, die in einer verätzten Mulde vor sich hin trocknete, und wenn er einmal eine übersah, begannen seine Schuhe schimpfend zu dampfen.
Das Meer war dagegen wieder besser geworden; offensichtlich hatten die Menschen einen Weg gefunden, es zu reinigen, aber darüber wusste er nichts Genaues, nur dass das Grau im Wasser in den letzten beiden Jahren abgenommen hatte. Manchmal fand er jetzt sogar einen toten Fisch, wenn er so den Strand abging. Sie sahen alle gleich aus, hatten sogar alle die gleiche Maserung; er hatte ein Bild von einem gezeichnet, um sie vergleichen zu können. Wahrscheinlich stammten sie aus einem Labor, vermutete er.
Davon abgesehen war es schön an seinem Strand; so schön, dass ab und zu sogar Ausflügler kamen, wie man sie früher genannt hatte. Sie liefen dann auf dem Kies umher, einige Stunden zumindest, manche badeten sogar in hauchdünnen Anzügen. Der alte Mann hatte nichts gegen sie, manchmal sprach er einige Worte mit ihnen; er war oft wochenlang allein unterwegs und glaubte, das ein wenig Austausch nicht schaden konnte. Doch diese Begegnungen blieben ihm selten im Gedächtnis. Einmal hatte er ein Pärchen getroffen, dass ihm von den großen Restaurationsprojekten im Norden erzählt hatte. Die Küste würde viel schöner werden, hatten sie gesagt, viel schöner sogar als sie früher war. Das würde sie nicht weniger künstlich wirken lassen, hatte er zufrieden gedacht, es aber nicht ausgesprochen; es war ihm im Prinzip gleich, und vielleicht würden die ganz Jungen einen neuen, verbesserten Strand auch ganz authentisch finden – falls er sie überhaupt noch interessieren würde. Nie fragte ihn jemand, wo er herkäme, aber auch das war ihm ganz lieb. Er hätte die Frage ohnehin nicht beantworten können; eine Heimatstadt gab es schon lange nicht mehr, eigentlich für niemanden, es gab nur noch die Städte, durch die man einmal gereist war, und es hätte ihn und die Touristen entschieden zu lange aufgehalten, dass zu erklären.
Und doch, der Stadt seiner Geburt zollte er immer noch einen gewissen Respekt, wenn auch indirekt. Seine Musikauswahl beschränkte sich ausschließlich auf schwere, alte, elektronische Tracks, schlecht synthetisiert von dem Wohlfahrtsplayer.
Zum einen lieferte ihm dass einen beruhigenden Kontrast zu den Momenten, in denen die Sonne fast klar durch die gelben Wolken fiel und beinahe eine Idylle schuf. Aber auch erinnerte ihn diese Musik an seine Geburtsstadt oder besser, was er dafür hielt; der Ort war im Laufe der Jahre mit anderen Orten zu der riesigen Textur aus Lagerhallen, Industriekomplexen und neon-gelb leuchtenden Roboterfabriken verschmolzen, die man heute nur noch selten Westeuropa nannte. Aber eigentlich dachte er auch nicht viel an diesen Ort, der sich auf so seltsame Art und Weise aufgelöst hatte. Überhaupt dachte er nicht viel; Einige Stunden des Tages schlief er, einige ging er, ein paar Minuten verschwendete er an die Proteinriegel. Den Rest der Zeit starrte er auf seine Füße und die Wellen. Wenn es dunkel wurde, schlief er wieder, das warme Klima und die Wohlfahrtskleidung machten es ihm bequem.
Das einzig Unfunktionale seiner wenigen Habseligkeiten war ein Foto, dass er stets in der linken Hand hielt, zu einer gelangweilten, drucklosen Faust geballt. Aber er sah nur selten darauf, ihm genügte das Wissen, es bei sich zu tragen. Es war aus einem alten Material, dass man inzwischen vermutlich lange verboten hatte, denn es alterte und ließ sich vermutlich kaum recyclen. Er war ein wirklich alter Mann, aber selbst er wusste nicht, wie man das Material nannte; ein Fremder hatte ihn einmal danach gefragt und vorgeschlagen, es zu einer modernen Holografie restaurieren zu lassen, denn das Bild war an den Rändern schon ganz eingerissen und teils unkenntlich. Die Sonne hatte die Farben blass werden lassen, und von der abgebildeten Person war nur noch ein blau-grauer Umriss zu erkennen. Die kostenlose Holografie aber hatte er abgelehnt, nicht weil er nicht verstand, sondern weil ihm das alternde Bild gefiel.
Der Fremde hatte erwidert, dass man ja nicht einmal mehr die Augenfarbe seiner Frau erkennen könne. Blau hatte der alte Mann geantwortet, ohne zu zögern, dann hatte er hinzugesetzt, sie sei nicht seine Frau. Dann war er einfach gegangen.
Und es stimmte wohl, er erinnerte sich genau, auch wenn das Foto nach dieser langen Zeit nur noch zwei blasse graue Pupillen zeigte, sie waren blau gewesen, blau. Nicht das Blau des Himmels seiner Kindheit, dass ihm immer scharf und klar erschienen war. Auch nicht das Blau des großen Ozeans, weder die tiefe, schwere Farbe der alten Aufnahmen noch der warnende Graustich der Gegenwart. Es war das helle, ganz und gar vorsichtig strahlende Blau-Grün einer fernen Bucht, bevor Menschen sie betreten hatten. Ein Blau, in dem kleine Wellen auf- und abrollten, miteinander spielten, einander im Spaß jagten, umeinander tanzten. Kein Blau, dass man leicht fand, weder hier noch irgendwo.
Selbst das Foto hatte sie irgendwann vergessen, diese Farbe, und so blieb nur noch der Alte, der von ihr wusste, wenn auch nicht viel mehr.
Einmal, nur ein einziges Mal hatte einer der seltenen Besucher gefragt, wen das Foto ursprünglich gezeigt hatte. Da war so etwas wie Verlegenheit über sein faltiges, freundliches Gesicht gehuscht, eine seltene Emotion.
Auch das hatte ihm die Zeit genommen, er erinnerte sich nicht mehr; vielleicht war er ihr nur flüchtig begegnet, vor Jahrzehnten, vielleicht hatte er sie auch gut gekannt, eine lange Zeit mit ihr verbracht, er wusste es nicht genau.
Das hätte er erklären können, aber auch das hätte ihn wohl zu lange aufgehalten, und so hatte er es nicht erwähnt, nur einige Sekunden gezögert, die Antwort überdacht.
Ein anderes Leben, hatte er dann gesagt, eine andere Welt, dann war der unsichere Ausdruck in seinem Gesicht wieder gewichen. Die Frau hatte ihm noch einen der ekelhaften Riegel geschenkt, er hatte sich höflich bedankt und war weitergegangen. Seine Augen hatten sich wieder starr an die Wellen geheftet. Und die ferne Verwandtschaft zu der Farbe in seinen Erinnerungen gesucht.

Über das Meer

Diesen Artikel drucken 8. April 2006

[…] Das Meer war anders. Der Lauf der Welt berührte es nicht und hatte es auch nie berührt, blieb nur eine Spur im Sand, die es mit Leichtigkeit davontrug. Die ewig gleiche Kakophonie der Staaten, Kulturen und Kriege hatten es nur wenig betrübt, und selbst den Lauf der Gestirne nahm es mit dem Achselzucken der Gezeiten, es wich, ohne sich zwingen zu lassen, kehrte zurück, ohne sich aufdrängen zu müssen.
Es brach sich an dieser Küste wie an jenen, die es schon vor Urzeiten verschlungen hatte, mit demselben Kaleidoskop eines Rauschens, und selbst wenn die Wissenschaftler sagten, dass es nicht immer hier gelegen haben mochte, so schien es doch an jeder Küste schon immer gewesen zu sein.
Menschen fanden Begriffe, Ideen, führten Dialoge und Kämpfe, benutzten unendlich viele Worte, um das wenige zu benennen, das sie zu wissen glaubten.
Das war nicht die Natur des Meeres, seine Stimme kannte nicht Tausende Wörter und auch keine Lyrik, keine bücherfüllenden Geschichten, es gab keine Metaphorik oder Allegorie in seinen Tiefen, und vielleicht eilten die Gedichte der Menschen stets nur dieser Ungebrochenheit hinterher, dieser bedeutungsvollen Inhaltslosigkeit. Es musste sich nicht erklären und dennoch erklärte es die Ewigkeit. Es wusste nichts von Moral und dennoch war es nie neutral. Es kannte kaum Worte und klang dennoch immer anders. Rauh etwa, wenn der Sturm es aufpeitschte und kleine Schaumkronen durch die Nacht schlug. Mißmutig und stur an einem verregneten Herbsttag. Oder sanft und liebevoll, wenn es an einem sonnigen Tag vorsichtig einen Sandstrand abtrug, Korn für Korn. All dies kostete das Meer nicht mehr als eine Zeile, keine Bibliothek voller Partituren und Dramen. Es war nur eine einzige Zeile, auf der jede einzelne Welle tanzte. Immer wieder auf die gleiche Weise. Immer wieder anders.

„Was den Menschen am Meer fasziniert?
Du kannst mit dem Meer singen, gegen das Meer, über das Meer. Aber du kannst niemals so laut tönen wie das Meer selbst; deine Stimme bleibt die fast unhörbare Begleitung eines gigantischen Orchesters, und dein Ego muss zurücktreten und anerkennen;
Ich bin wie die Wellen, ich komme, ich gehe, und danach bleibt keine Spur von mir.“

Der Fischer

Diesen Artikel drucken 30. Juli 2005

Seine Hände zogen kleine, rundliche Linien durch den Sand, schienen etwas zu suchen im nassen Boden, der an einigen Stellen noch schlickige Pfützen aufwies.
Er hatte die Arme weit von sich gestreckt, den Kopf starr nach oben gerichtet, zur Sonne hin, um jeden Strahl aufzusaugen, jeden Schluck Wärme aufzunehmen. Die Ebbe war gekommen, wie sie immer kam, langsam, aber mit einer gewissen Ebenmäßigkeit, und nun saß er neben seinen Netzen, auf einem Stück Meeresboden. Die anderen Fischer lachten oft über ihn, weil er sich während jeder Ebbe hier herunter begab, statt auf der sicheren Hafenmauer oder dahinter zu stehen und seine Netze zu flicken. Er wusste, sie konnten es nicht verstehen.
Ein leises Seufzen ging über seine Lippen, und seine großen, klobbigen Füße gruben sich noch ein Stück tiefer in den Schlick, spürten die Kälte, die von unten aufstieg, ein letzter Abschiedsgruß des Meeres, dass sich zurückgezogen hatte, aber zurückkommen würde.
Oft saß er hier und tat nichts, gar nichts, lag einfach nur da und genoß die Sonne, unbeschwert, in gewisser Weise sogar fröhlich. Er saß auch hier, wenn die Sonne nicht schien, denn wenn auch die Sonne ihm keine Gesellschaft leistete, so blieb doch die Ebbe, blieb für die ihr bestimmte Zeit. Wenn sie wieder ging und mit der Flut tauschte, dann musste auch er wieder fort von diesem Ort, musste zurück, zurück in den Hafen, zurück zu seinem Schiff, zurück aufs Meer, er dachte an die tobende Gischt, die es in mancher Nacht aufwarf, an die tausend prickelnden Nadelstiche, die der Wind dort draussen auf ihn warf, ein großes wütendes Tier, dass sein Revier verteidigte, rachsüchtig, tobend, er blickte hinaus auf den weiten Schlick vor sich.
Noch herrschte Ebbe, erinnerte er sich, er sank tiefer in den kleinen Holzstuhl, den er sich mitgebracht hatte, immer mitbrachte, altes vergilbtes Holz, in seinem Aussehen seiner Haut nicht unähnlich, vom Wetter gezeichnet, aber standhaft.
Oft dachte er an das Meer und auch an seinen Beruf, der doch so untrennbar mit der See verbunden war. Er wusste, nie hätte er diesen Beruf erlernen wollen, doch seine Eltern hatten es so gewollt, und so hatte er die Schule abbrechen und seinem Vater auf dem Schiff helfen müssen. Lange war er danach auf der Flucht gewesen, heute nannte er es Flucht, sehr lange, ein einsamer, wütender junger Mann, der von Hafen zu Hafen fuhr, ohne Interessen oder Wünsche, der immer nur vor dem Meer und seinen Eltern weglief und dabei doch ebendiese See befuhr, weil er nichts anderes gelernt hatte. Viele Städte hatte er gesehen, viele Länder, viele Sprachen gehört, viele Mädchen geküsst. Doch das Meer hatte er nie hinter sich lassen können, immer hatte er es gebraucht, um weiter zu fliehen, immer hatte er es nutzen müssen, um sein Geld zu verdienen. Und das Meer hatte es ihm auf seine Weise gedankt, er dachte an unzählige Stürme, an riesige Wellen, haushohe Wände, die fließende Verwünschungen in die Nacht malten, an den grollenden Wind, der sie vorlas.
Sein Blick fiel auf die Kaimauer, eng gemauerte, riesige Steinquader, die noch neu waren und das Sonnenlicht deshalb etwas stärker widerspiegelten. Er lächelte wieder in die Sonne. In ein paar Jahren, wenn die ersten Sturmfluten gegen diese neuen Steine gedonnert waren, würden auch sie wieder vergilbt und dreckig aussehen, das Sonnenlicht nicht mehr zurückwerfen, nur noch einen matten Schein besitzen. Die anderen Männer hoch über ihm, auf der Mauer, bellten sich Befehle entgegen, und er wusste, dass die Flut bald kommen würde, und er würde wieder mit ihnen fahren. Er dachte an die drei Kinder, drei Söhne, er würde wieder für sie aufs Meer fahren, auch wenn er sie nie sehen würde.
Der alte Kutter seines Vaters war noch gut in Schuss, wie sie hier sagten, und das war gut so, denn viel brachte die Fischerei nicht mehr ein, das wussten sie alle, nur drei Fischer fuhren noch hinaus, mussten, hatten nichts anderes gelernt. Seit 22 Jahren fuhr er mit dem alten Schiff, er dachte an den Tag, an dem er sich entschieden hatte, zurückzukommen, den Tag, an dem ihn der Brief erreicht hatte, in irgendeiner der großen Hafenstädte, deren Namen er heute kaum noch wusste. Der Pfarrer hatte ihn aufgesetzt, denn seine Mutter konnte ihn nicht schreiben, war zu schwach gewesen.
Es war eine stürmische Nacht gewesen, er hatte es sich immer gut vorstellen können, war er doch hier aufgewachsen, und sein Vater war hinausgefahren, alleine, wie immer. Drei Tage später hatten sie das Boot gefunden, nur leicht beschädigt, auf der Seite liegend, in einer kleinen Bucht nicht weit von hier. Viele der Menschen hier schrieben der See einen Charakter zu, und viele hatten damals gesagt, die See hätte ihnen etwas zurückgeben wollen, als Trost, als Erinnerung. Schon damals hatte er es anders empfunden, obwohl er es nie gesagt hatte, wohl um seine Mutter zu schonen, die dennoch bald darauf gestorben war.
Da war keine Entschuldigung, kein Trost, den die See spenden wollte, nur Hohn, grenzenloser sadistischer Hohn, davon war er überzeugt. Und er dachte an das alte kleine Schiff, das er immer noch befuhr, die Botschaft war klar gewesen, es war Zynismus gewesen, mörderisch kalt wie die harten Wellen, die hier wie überall an die Küste schlugen. Er hasste das Meer dafür, und dennoch würde er bald wieder hinausfahren. Doch noch herrschte die Ebbe, noch einen kurzen Augenblick lang, seine alte Verbündete, der einzige menschliche, mitleidige Zug der See.
Nach 22 Jahren wusste er nicht mehr genau, warum er sofort zurückgekehrt war, sein weniges Erspartes für einen Flug, seinen einzigen Flug ausgegeben hatte, er wusste es wirklich nicht mehr, vielleicht war es ein Funken Übermut gewesen, den er damals noch hatte, vielleicht war es die Sorge um seine Mutter gewesen, eine alte Fischersfrau, die nie jung oder schön gewesen zu sein schien.
Als er erst einmal hier war, konnte er nicht mehr gehen, der Blick auf die See hatte ihn gebannt, und er hatte ohnehin kein Verlangen mehr nach der Welt da draußen verspürt, hatte sie gesehen und für sich seinen Frieden mit ihr gemacht. Nur seine Kinder verbanden ihn noch mit der Welt, sie lebten immer noch in großen Städten, dem Meer sehr nahe, auch wenn sie nicht viel mit der See zu tun hatten.
Und so war er hiergeblieben, überwies jeden Monat auf drei Konten, er verstand nicht viel davon, ließ das einen Freund bei der Bank im Dorf erledigen, und er fuhr zur See, jeden Tag, und manchmal kam ihm das wie ein beständiges Duell vor, ein Duell mit dem Meer, auch wenn es das nicht war, denn das Meer war ungleich stärker als er selbst. Viele der älteren -überlebenden- Fischer erzählten, dass sie immer Respekt vor dem Meer gehabt hatten, doch er wusste, das war keine Versicherung. Er begnetete dem Meer mit der selben Art von Respekt, den er den Piraten entgegengebracht hatte, die ihn früher einmal mit dem Gewehr in der Hand unter Deck gezwungen hatten, vor langer Zeit, irgendwo im Pazifik.
Doch er musste aufs Meer hinaus, konnte nicht anders. Umso glücklicher war er, dass keins seiner Kinder auf dem Meer arbeiten geschweige denn leben würde, sie alle hatten eine gute Ausbildung vor sich, er wusste das, und in gewisser Weise machte ihn das glücklicher als alles andere, auch wenn seine Kinder für ihn nur Fotos waren.
Kleine, konstant auf- und abschwingende Wellen schlossen sich um seine Füße, hatten sich unbemerkt angeschlichen und erschraken ihn nun, auf eine vertraute Weise. Die Flut kam. Er blickte ein letztes Mal in den Himmel, dann stand er auf und ging, ging zu seinem Schiff, aufs Meer. Er würde wiederkommen und wieder in der Sonne liegen, wieder und wieder und wieder. Bis es auch ihn holen würde.

„Das Meer ist salzig wie die Träne, die Träne ist salzig wie das Meer. Das Meer und die Träne sind sich durch die Einsamkeit verwandt. Das Meer hat sie schon, die Träne sucht sie.“ – Karl Gutzkow, Gutzkows Werke, Bd. 4