Kategorie 'System/Kreis: Kapitel 1'

Prelude/Lullaby IV

Diesen Artikel drucken 17. Januar 2005

Mit dem Erschrecken eines Unschuldigen wachte er auf.
Aber sie lag noch neben ihm. Er konnte ihren warmen Körper neben sich spüren. Ihren Atem hören, leise, wie Blätterrauschen in einer Sommernacht. Beruhigt schmiegte er sich an sie, legte einen Arm um sie.
Und schrak wieder hoch, so schnell, dass sein Geist noch für einige Momente in dem Traum verweilte.
Er rief sich zur Ordnung, stand schnell auf von der Couch, als ob sie nun gefährlich für ihn wäre.
Träume. Schon lange hatte er sich nichts mehr aus ihnen gemacht, nicht auf sie geachtet. Sie kamen und gingen, wie Besucher aus einer anderen, fremden Welt.
Einer Spiegelwelt, dachte er, vollkommen anders, aber doch ähnlich, auf eine subtile Weise.
Manchmal zeigten sie ihm Bilder von einem anderen Leben, das nicht seins war, aber auch niemandem sonst gehörte.
Und manchmal war auch die Angst dort, in den Träumen, demonstrierte ihre Macht in schmerzvollen Bildern, dem Tod seiner Mutter, dem Porträt seiner ersten großen Liebe und immer wieder endlosen, menschenleeren Steppen, in denen er alleine war.
Allein. Vielleicht fand seine Einsamkeit noch ein Ende, dachte er und atmete tief ein, immer noch ungewohnt frei. Das Gewicht, das sonst auf seiner Brust lastete, war nicht da. Immer noch nicht wieder da.
Er blickte auf eine Uhr, die auf dem Fernseher stand. Es war noch Zeit. Misstrauisch nahm er wieder Platz auf der Couch, berührte sanft die Lehne. Als wolle er ihr für den Traum danken. Er lächelte. Ein ganz und gar irrationaler, aber schöner Gedanke.
Seine Augen schlossen sich wieder, versuchten wieder zu den Bildern zu finden, die eben so real gewesen waren.
Eigentlich wusste er nicht, ob er so viel Hoffnung haben durfte, warnte ihn etwas, aber er ignorierte es.
Suchte weiter nach den Bildern, nur um sich die Zeit zu vertreiben, erklärte er sich selbst.
Ein Haus, weiß, rote Dachziegeln, die in der Sonne zu glühen schienen, irgendwo auf dem Land. Ein großer Hund auf der Veranda, er erinnerte sich, ein Labrador. Die Tür öffnete sich, er trat ein, wusste, wo er hingehen wollte, die Treppe hinauf, an den großen Fenstern im Flur vorbei, großen, bunten Rahmen mit klaren Scheiben, dahinter weite, grüne Felder, die das Licht zurückwarfen wie blankpolierte Spiegel.
Er trat auf eine Tür zu, sie wich seinem Geist, und dort stand das Bett. Und dort war auch sie, wie er sie verlassen hat, wieder das leise Wispern von Blättern, wenn sie atmete.
Er öffnete die Augen. War das eine mögliche Zukunft? Die Warnung nahm wieder Gestalt an, diesmal ernster. Er durfte sich nicht sinnlosen Hoffnungen hingeben, nicht die Kontrolle verlieren. Doch diese Worte begannen, hohl und blechern in seinem Kopf zu klingen.
Ein weiterer Blick auf die Uhr. Bald müsste er sich umziehen, sich „fertigmachen“, er fand den Ausdruck furchtbar, hatte ihn irgendwo aufgeschnappt. Der schwarze Anzug lag schon seit Stunden neben ihm, sauber gefaltet auf einem Stuhl.
Wann hatte er ihn zuletzt getragen? Es war bei einer Beerdigung gewesen, entsann er sich. Aber bei welcher?
Früher hatte er diesen Anzug oft getragen.
Er lehnte sich wieder zurück, versuchte besorgt zu wirken, zumindest auf sich selbst.
Die Situation war verwirrend. Es fiel ihm schwer, Begeisterung und Optimismus im Zaun zu halten.
Er fragte sich, ob das nur an ihr lag.
Vielleicht war es Vertrauen.
Unschlüssig drehte er sich zur Seite, hatte die Uhr jetzt immer im Blick.
Vielleicht vertraute er ihr oder auch sich selbst plötzlich.
Vertrauen. Er lächelte. Dieses Wort hatte er schon lange nicht mehr benutzt.
Oder vielleicht… vielleicht war das auch seine letzte Chance. Er dachte an heute Morgen, an die Ampel, an seine Gedanken, während er die Straße überquert hatte, an die schwarze Kiste unter seinem Bett. Und begriff.
Ja, das stimmte. Das war seine vielleicht letzte Chance, die Dämonen zu besiegen, die ihn auffraßen. Dämonen. Was für ein geistloser Ausdruck. Aber das war ihm egal, stellte er verblüfft fest.
Noch einmal schloss er die Augen, suchte ihr Gesicht, das immer jeden Zweifel weggewaschen hatte. Ihre Lippen, die ihn beruhigt hatten, ohne ein Wort zu sprechen.
Er hörte ein Geräusch und setzte sich auf.
Ein Mobiltelefon. Sein Mobiltelefon.
Die Zweifel kehrten genau so schnell zurück, wie sie gegangen waren.
Seine Hand zitterte, als er das Telefon hielt.
Eine Kurznachricht.
Sie würde sich verspäten. Sie wüsste noch nicht genau, wann sie kommen würden.
Nein, korrigierte er, sie würde gar nicht kommen.
Er hatte es doch geahnt, oder ahnen müssen. Die Spielregeln, die Regeln, die ihn schützten, er hatte sie verletzt. Er erinnerte sich an die letzten 30 Minuten, wie peinlich. Wie hatte er sich dazu hinreißen lassen. Wieder sah er ihr Gesicht vor sich, diesmal kalt, gehässig, lachend. Wie hatte er nur…
Sein Körper zitterte. Die Uhr zeigte mit großen, grinsend-goldenen Zeigern schon fast auf die verabredete Uhrzeit.
Verabredet, spottete er über sich selbst.
Die Verzweiflung verwischte jeden Zweifel.
Nein, es hatte nie eine Verabredung gegeben. Anders war es nicht denkbar. Aber er musste sich sicher sein, absolut sicher, also las er die Nachricht noch einmal, noch einmal, noch einmal. Erkannte nicht den Sprachstil des gelben Zettels, des lächelnden Gesichts im Büro. Nur die Sprache des immer noch gehässig lachenden Porträts in der Düsternis seines eigenen Schädels. Ja, er hätte es wissen müssen. Menschen waren Verrat. Das Leben war Verrat.
Er ließ das Handy achtlos fallen.
Das war seine Schuld, nur seine. Die Regeln, er hatte sich nicht an die Regeln gehalten. Die Angst, die mit der Verzweiflung zurückgekehrt war, legte eine kalte Hand auf seine Schulter.
Sie hatte ihn beschützt, dachte er, immer beschützt, hatte ihm Regeln gegeben.
Sie hatte ihn die Tage überstehen und die Nächte zumindest überleben lassen, nur sie.
Nicht dieses kalte, gehässige Mädchen, die Angst hatte ihn bis hierher gebracht, niemand anders.
Die Hoffnungslosigkeit schwemmte auch diesen Gedanken weg.
Ein paar Tränen rannen sein Gesicht hinab, nicht viele, wie bei jemandem, der über Tränen weit hinaus war.
Nur einige kleine, runde Tropfen.
Wie die letzten Ratten, die das Schiff verließen, dachte der Zyniker in ihm.
Er hätte sich keine Hoffnungen machen dürfen, jetzt fiel er umso tiefer, er hätte es wissen müssen.
Warum sollte ihn auch jemand mögen? Ausgerechnet ihn, der Nichts war, nicht mal etwas Gewöhnliches?
Still legte er sich wieder auf die Couch, glitt hinab in Dunkelheit, ließ Agonie und Angst wie Geier über und in ihm kreisen.
Jetzt konnte er nicht mehr zurück, wohin auch.
Ein Bild baute sich hinter seinen geschlossenen Augen auf, er kannte es, wollte es nicht sehen.
Zurück ins Büro? Dort war sie, nein, schon den Gedanken ertrug er nicht.
Das vertraute Haus, jetzt verdorben, verfallen, die Ziegeln gespalten, die Felder von der Sonne verbrannt und vom Wind davon getragen. Auf der Veranda der verwesende Körper eines Hunds, der aus toten Augen starrte.
Nein, er hatte Recht gehabt, dass war seine letzte Chance gewesen, er hatte zu viel gewagt, es gab kein zurück. Vertrauen. Seine Lippen formten das Wort. Es klang spöttisch, klang schon immer spöttisch.
Das Bild begann zu verschwimmen, wurde unscharf unter der glühenden Sonne, die herab brannte. Es zeigte keine Einzelheiten mehr, wie ein entferntes Echo.
Nein, falsch. Seine Augen fanden ein Detail. Etwas, das auf der Veranda lag, als wäre es schon immer dort gewesen.
Eine kleine schwarze Kiste aus Holz, solchem Holz, aus dem man Türen herstellte.

Und er wurde sehr ruhig.
Seine Augen öffneten sich. Eine merkwürdige Klarheit breitete sich aus, Angst und Verzweiflung wichen ihr, stützten sogar seine Beine, kannten seinen Weg. Zielstrebig bewegte er sich.
Es war das Beste so. Er zog die Kiste hervor. Sie schabte mit einem Seufzen über den Boden, ließ sich auf das Bett heben.
Nie wieder würde er verzweifelt sein.
Und die anderen, nun, sie müssten nie wieder verleugnen, was sie dachten. Über ihn dachten.
Seine Hände bewegten sich schnell in der Kiste, von etwas geführt, was nur er sehen konnte. Das wusste er, aber es spielte jetzt keine Rolle mehr.
Er schob Munition beiseite, fand die drei Briefe, vor Wochen geschrieben, fein säuberlich adressiert, in großen, roten Buchstaben.
Aufmerksam legte er sie gestapelt auf den Tisch, genau an die Tischkante.
Dann nahm er den anderen Gegenstand aus der Kiste, legte ihn auf den Tisch. Strich einen Moment über das warme Holz der Kiste. Schloss sie dann bedächtig.
Das Gewicht war größer, als er es in Erinnerung hatte. Er hob den Lauf.
Dann zögerte er.
Dankbarkeit hatte sich in den absurden Frieden gemischt, den er empfand.
Die letzte Chance. Dankbarkeit, irrationale Dankbarkeit für Hoffnung, die sie kurze Zeit gebracht hatte.
Es war unhöflich, das einfach zu vergessen, es war unhöflich, sie einfach zu vergessen.
Der Lauf senkte sich wieder.
Er fand das Telefon neben der Couch, wo er es hatte fallenlassen. Einen kurzen Augenblick wusste er nicht, was er schreiben sollte, dann huschten seine Finger einige Sekunden über die Tasten. Das Telefon fiel wieder neben die Couch.
Er lächelte zufrieden.

Und mit einem lauten Knall, der einem Schuss ähnelte, schloss sich die Tür aus schwarzem, schwerem Holz hinter ihm.

An einem anderen Ort steht eine junge Frau im Regen. Blonde, kurze Haare, vom Regen aufgeweicht. Winzige Sturzbäche, in denen der Regen entlang kleiner, abstehender Strähnen nach unten fällt.
Sie mag Regen, eigentlich. Aber jetzt ist sie abgelenkt. Sie hat den Kopf tief gesenkt, wie zum Gebet. Aber sie betet nicht. Sie liest.

Warte nicht auf mich.
Kühles, verbleichendes Blau, dass sich in ihrem Gesicht widerspiegelt. Schwarze, grobe Buchstaben, die sich wie kleine Klingen in das Display eingraben.
Warte nicht auf mich.

Eine winzige Träne der Vorahnung huscht durch ihr regennasses Gesicht, unsichtbar.
Sie starrt das Display an, immer länger. Sie sieht auch nicht auf, als der verspätete Bus kommt, auf den sie so lange gewartet hat. Auch nicht, als der nächste Bus kommt.
Sie steht einfach da und starrt auf das Display. Und denkt an die Kiste unter ihrem Bett. Schwarzes, schweres Holz. Wie das, aus dem man Türen macht.

„Man kann nicht für sich allein leben. Das ist der Tod.“ – Leo Tolstoj

Prelude/Lullaby III

Diesen Artikel drucken 14. Januar 2005

Stille. Nur das leise Nachgeben der Tasten unter seinen Fingern. Sie schienen ihm zu dienen, zu gehorchen. Keine anderen Menschen in Sichtweite.
Immer noch war er konzentriert auf die kleinen kryptischen Symbole auf seinem Schirm, die sich veränderten, verschoben, nur durch seinen Willen.
Ein Geräusch drang durch dünne Pappwände.
Er sah auf grässlich-grüne Ziffern einer Uhr. Mittagszeit. Sie gingen alle zum Essen. Alle, bis auf ihn.
Sie fragten ihn nicht einmal. Diese unverwundene Unhöflichkeit verwunderte ihn. Anfangs hatten sie ihn immer gefragt. Natürlich hatte er es abgelehnt, mitzukommen. Sie fragten ja nur, um den Schein zu wahren.
Er sei krank. Oder er habe keinen Hunger. So etwas hatte er geantwortet.
Seine Finger zogen sich von den Tasten zurück, wie ein Krebs, der sich aus seiner Schale zurückzog. Bildeten eine Faust. Entspannungsübungen.
Er kannte sich aus, er kannte die Spielregeln. Immer ein Vorwand auf den Lippen, das war eine Regel. Er wollte ihnen nicht mehr zur Last fallen, als er das offensichtlich schon tat.
Jetzt fragten sie erst gar nicht mehr. Er fragte sich warum. Vielleicht war eine seiner Entschuldigungen nicht gut genug gewesen. So war es bestimmt.
Die Mittagspause mochte er. Er grinste. Wenn er an diesem Ort überhaupt etwas mochte.
Wie allein er jetzt war. Er konnte es fühlen. Für einen Moment wich mit den Menschen auch die Angst, gab einen Blick auf das Büro frei.
Das Sonnenlicht war jetzt fast weiß. Das gefiel ihm. Neutrales, simples Weiß. Solches, das man auch für wissenschaftliche Experimente benutzte. Zumindest stellte er es sich so vor.
Das Auge des Sturms. Der Ausdruck fiel ihm ein. So fühlte es sich an.
War es das, was er vermisste; Einsamkeit?
Er dachte an das Ereignis von heute morgen. Vielleicht.
Er wünschte, dass es so wäre, aber andererseits.
Sie störte. Diese Emotionen störten. Es ärgerte ihn.
Er stellte sich vor, wie es wohl ohne sie sein würde. Es war so schwer genug, durch dieses Leben zu kommen.
Warum dann noch das?
Aber nein, sie konnte nichts dafür. Es war seine Schuld, nur seine Schuld. Er würde sich zusammenreißen. Diese irrationalen Reaktionen einfach ignorieren. Wie lächerlich es war.
Er ließ sich tief in den blauen Stuhl sinken, die Hände fast locker im Nacken verschränkt.
Ein Hauch von einem Lächeln zog über sein Gesicht.
Arbeit war entspannend, wenn er allein war.
Er stellte sich vor, wie sie jetzt alle an Tischen saßen, viele Menschen, und redeten, vielleicht über ihn redeten. Und sie, wie sie daneben saß. Mit demselben Lächeln wie heute morgen.
Sie, schon wieder sie. Nie wieder dieser Gedanke.
Ein Geräusch hinter ihm. Wie von selbst schnappte sein Oberkörper hoch, die Schultern weit hochgezogen, der Kopf abgesenkt.
Dann ihre Stimme. Sie? Was wollte sie noch?
Seine Füße fanden den Fußboden, der Sessel drehte sich widerstrebend. Wieder ihre Augen, doch diesmal nicht. Diesmal würde er Widerstand leisten.
Er stellte sich große, dunkle Zellen vor, die die Armada aus seinem Blut rissen.
Das kleine rote Bändchen an ihrer ordentlich gebügelten Bluse bewegte sich mit ihrem Atem, durch ihren Atem. Er zögerte kurz. Oder war es umgekehrt? Ein sinnloser Gedanke.
Ob er heute etwas vorhätte.
Warum wollte sie das wissen?
Er sollte ja antworten, er kannte die Spielregeln, fand immer einen Vorwand.
Doch vielleicht… nein. Er durfte sich nicht wieder gehen lassen, auf keinen Fall. Objektiv. Er versuchte sich daran zu erinnern, was das Wort bedeutete, warum es wichtig war.
Dann huschte ein Nein über seine Lippen, wie ein sich versehentlich lösender Schuss, nur viel leiser.
Zu spät. Spanien siegte wieder. In seinem Geist sah er unscheinbare Moleküle, feiernd, in seinem Blut schwimmend.
Sie legte bedächtig einen Zettel auf seinen Schreibtisch, dann ein Lächeln, sie verschwand.
Was hatte er sich dabei gedacht?
Ein Teil von ihm wusste es.
Der Zettel war gelb, ordentlich beschriftet. Ihre Schrift, er erkannte sie.
Der Name einer Bar. Eine Uhrzeit. Der Hinweis, dass sie sich freuen würde.
Es war unmöglich. Und doch.
Wie konnte das sein?
Er las den Zettel noch einmal. Es konnte nicht sein. Oder doch?
Vielleicht hatte er alles an ihr falsch verstanden, bis jetzt. Vielleicht…
Mit Bedacht faltete er den kleinen Zettel. Vorsichtig steckte er ihn in sein Hemd.

Die Angst flog mit einem entsetzten, aber stummen Schrei hinter die Ränder seiner Wahrnehmung, verweilte dort, beobachtete.
Das Licht war angenehm, plötzlich. Er stand auf.
Wie lange war er wohl nicht in der Kantine gewesen? Er wusste es nicht. Es war zu lange her, fand er, und machte sich auf den Weg.

„Hoffnung ist die zweite Seele der Unglücklichen.“ – Johann Wolfgang von Goethe

Prelude/Lullaby II

Diesen Artikel drucken 11. Januar 2005

Mit leise wisperndem Widerwillen betrat er den Lift. Die Türen schlossen sich mit einem düsteren Geräusch, dem Geräusch einer Patrone, die sich in ein Magazin fügt. Ein Sarg, dachte er, ein stählerner Sarg. So einer, in dem man verstrahlte Leichen transportierte. Die Türen gingen mit einem Ruck wieder auf. Ein Mann stieg zu. Seine Angst lächelte ihm kurz durch das Gesicht des Mannes im Anzug an. Er schob sich, soweit er konnte, in eine Ecke des Sargs, den Kopf starr geradeaus gerichtet. Der Anzug kam ihm bekannt vor.

Ja, er gehörte zu einem der Anzugmenschen aus den oberen Stockwerken. Musste er ihn grüßen? Und warum war er hier, gerade jetzt, mit ihm?
Sein Blick blieb auf die unfreundlichen Dioden über der Tür fixiert. Er war schon fast da. Gleich, gleich, konnte er hier raus. Gleich.
Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Rasierwasser. Seine Augen wendeten sich unwillkürlich zu dem Anzugmenschen hin. Was er jetzt wohl dachte. Wahrscheinlich schmiedete er Pläne. Er malte sich aus, was das wohl für Pläne sein könnten.
Einige dumpfe Silben durchschnitten seine Überlegungen. Sein Blick wurde trüb, als würde er durch Nebel blicken.
Er stellte sich vor, wie die Silben die Wand aus Furcht um ihn lautlos verbogen, sie durchdrangen.
Der Anzugmensch sah ihn direkt an, sein Mund bewegte sich.
Sein Name. Dann eine Frage.
Eine verlogene, verräterische Frage nach seinem Wohlbefinden. Dann seine Stimme, eine Silbe, die Antwort.
Hatte der Anzug irgendwie gehört, was er gedacht hatte? Nein, das war nicht möglich. Die Physik verbat es.
Er spürte den kleinen Splitter des Zweifels, der blieb, der immer blieb. Wie ein kleiner Glassplitter, der im Dunkeln wartet, dass man sich an ihm schneidet.
Die Lifttüren öffneten sich mit einem Seufzen. Endlich. Sein Stockwerk, seine Hölle. Immerhin seine eigene. Der letzte Gedanke entlockte ihm ein Grinsen. Er stellte vor, wie er jetzt aussehen würde. Wie ein grinsender Totenschädel in einem Anzug. Mit einiger Anstrengung zwang er sich, ein professionelles Lächeln aufzusetzen. Eine Maske, eine notwendige Maske.
Das Klingeln hinter ihm rief ihn zurück ins Jetzt. Die Sargtüren schlossen sich. Der Anzugmensch, er musste ihm die ganze Zeit nachgestarrt haben. Er konnte das spüren, genauso wie er sein Lachen hören konnte. Es war leise, aber es war da, er wusste es, er konnte es fühlen.
Dicht an der Wand durchquerte er den Korridor zu seinem Büro. Seine Kollegen hatten einmal gescherzt, seine Haltung deute an, er würde sich auf einem Schlachtfeld bewegen, schlangenhaft, geduckt. Er hatte nichts geantwortet. Hier oben sagte er nie viel.
Durch die Wände konnte er die anderen Menschen spüren. Während er um die scharfen Ecken der Flure steuerte stellte er sich vor, wie er sie durch die Wände fühlen konnte. Jeder einzelne verbunden mit den anderen, jeder einzelne mit einer Bestimmung, einem Zweck. Einer Aura, vielleicht war das ein adäquater Ausdruck, auch wenn er ihm metaphysisch-lächerlich vorkam. Er konnte sie lachen hören, sie lachten immer über ihn. Nicht bösartig, nein. Es war verständlich, er würde oft gerne mit ihnen lachen. Natürlich lachten sie aber nie, wenn er dabei war. Dennoch, er fühlte ihre Verachtung, ihre falsche Höflichkeit. Er fühlte keine Wut, dass hatte ihn früher irritiert. Eine Weile hatte er darüber nachgedacht.
Jäh streifte seine Schulter eine Wand, als er einem Anzugmenschen auswich, der ihn nicht wahrgenommen hatte. Zumindest war er ein Niemand hier, das beruhigte ihn auf eine faszinierende Weise. Seine Konzentration richtete sich wieder nach innen.
Diese Überlegungen hatten zu dem Schluss geführt, dass er gar nicht das Recht hatte, wütend zu sein. Im Gegenteil, sie hatten Recht, er war nichts, er war niemand. Er hatte kein Legitimation, ihre Aufmerksamkeit, ihre Anteilnahme, ihre Akzeptanz zu verlangen. Mit einem vogelartigen Schulterzucken bestätigte er sich die Richtigkeit dieser Annahme. Das Büro lag vor ihm. Das Licht fiel an einem solchen Tag viel zu hell hinein, wie er fand. Seine Gedanken schweiften wieder zu dem strahlungsisolierten Stahlsarg. Nun, er hatte nicht das Recht, sich zu beschweren.
Die anderen Anzugmenschen in dem Büro begrüßten ihn. Zwei, drei, vier. Sie waren alle da. Alle bis auf das Mädchen. Mit der Art von Sanftheit, mit der ein Musiker ein uraltes Instrument vorsichtig stimmt, erwiderte er beiläufig ihre Begrüßungen. Natürlich, sie waren freundlich, taten so, als ob er dazugehören würde.
Sie war nicht da. Vielleicht hatte sie sich versetzen lassen, er könnte es verstehen. Er würde auch nicht gerne in seiner Nähe arbeiten müssen. Vielleicht war sie auch einfach nicht da, um ihn ein wenig zu quälen.
Ein Druck auf einen roten Knopf, sein Computer bootete. Schaute ihn durch seine roten und dunkelblauen LEDs grinsend an.
Hinter ihm ein Räuspern. Langsam drehte er sich um, immer noch in der verschlagenen, geduckten Haltung, ein Boxer, der auf einen Schlag wartet.
Und dort stand sie. Sie blickte ihn aus hellen, grauen Augen an. Blonde, kurze Haare.
Er hasste es. Wellen von Endorphinmolekülen, die durch seine Venen spülen wie eine Armada.
Er hasste es.
Aber er liebte sie.
Ihre Augen fesselten ihn, er hörte nur halb, was sie sagte. Wie schön sich das Licht in dem Büroraum in ihren Pupillen fing. Wie schön das Licht ihr ganzes Gesicht einfing.
Und sie war zu ihm gekommen. Vielleicht…vielleicht… aber das konnte nicht sein.
Wie zum Beweis klingelte mit unverhüllter Häme ein Telefon. Ihr Telefon.
Sie blickte ihn noch mal an, wand sich dann von ihm ab. Noch einmal ihr Haar in der Morgensonne, viel zu helles Licht.
Er hatte es doch gewusst, immer gewusst. Aber er konnte es ihr nicht übel nehmen, er war nun mal, was er war. Und sie war nur ein Mensch wie jeder andere.
Sie war Verrat, Menschen waren Verrat, das Leben war Verrat. Er dachte an das kleine Kästchen unter seinem Bett, schwarzes, warmes Holz, bevor er sich dem leise flüsternden Rechner zu wand. Schwarz und schwer, wie das Holz, aus dem man massive Türen machte. Kurz verweilte er bei dem Gedanken, wohin diese Tür führen mochte, dann war er in seine Arbeit vertieft.

„All the ill that is in us comes from fear, and all the good from love.“ ~ Eleanor Farjeon

Prelude/Lullaby I

Diesen Artikel drucken 10. Januar 2005

Warte nicht auf mich.
Kühles, verbleichendes Blau, dass sich in ihrem Gesicht widerspiegelt. Schwarze, grobe Buchstaben, die sich wie kleine Klingen in das Display eingraben.
Warte nicht auf mich.

Aufwachen ähnelte der Vertreibung aus dem Paradies.
Jeden Morgen schlug er die Augen auf und für einen kurzen Moment fühlte er sich unberührt, unberührt von heute und von morgen. Es war dieser winzige Augenblick, indem er nicht wusste, wer er war, welchen Weg er hinter sich hatte – oder vor sich.
Er schlug den Wecker mit Wucht aus, nur um den Gedanken daran zu vertreiben.
Als er die Augen wieder schloss dachte er benommen darüber nach, warum er nicht aufsprang an dem grellen Tag, der durch die Rolläden schien.
Im Bad kam ihm wieder der Gedanke.
Aufwachen war wie geboren werden und sterben. Man wachte auf wie ein Neugeborenes, wie eine leere Diskette, frisch, neu, ohne Identität, ohne Inhalt.
Doch mit derselben Routine, die ebenso die Morgenwäsche der meisten Menschen beherrscht, kehrte all der Schmerz, all die Trauer, all die vergebene Hoffnung zurück ins Bewusstsein.
Er lächelte den Spiegel schief an. Weiße, tiefe Schluchten, aus denen sich braune, scheinbar weit entfernte Flecken selbst betrachteten. Ironie. Ein überaus vertrautes Konzept. Sicher keine Waffe des Geistes, mehr eine der Verzweiflung.
Das metallische Surren des Elektrorasierers zerriß den Gedankengang. Vor langer Zeit schon hatte er jede Rasierklinge aus dem Bad verbannt.
Er duschte ausgiebig.
Warum war Duschen so entspannend?
Sein Geist verhakte sich kurz an dieser Frage.
Es war ein Symbol der Reinigung, und zwar nicht nur der Reinigung von physischem Schmutz. Dennoch, Wasser vermochte nun mal objektiv gesehen nur Dreck zu entfernen.
Objektiv. So sah er sich gerne. Objektiv. Er formte das Wort mit den Lippen und versuchte, selbstzufrieden auszusehen. Es funktionierte nicht, aber immerhin lenkte es seinen Geist von dem Gedanken einer absoluten Reinigung ab.
Die Haustür schloß sich hinter ihm. Den ersten Teil Routine hatte er hinter sich, jetzt begann der nächste. Er kniff die Augen zu, als er sich in Richtung der tiefstehenden Sonne wand. Die Nebelfäden, die sich am Horizont entlangzogen, bildeten ein blutrotes Halo am Himmel. Die Sonnenbrille hatte er schon in der Hand gehabt, als er das Badezimmer verlassen hatte, jetzt setzte er sie auf.
Lichtstreuung in der Atmosphäre. Nichts besonderes, nichts Ästhetisches. Nur Physik.
Die Gartenpforte knarrte verschwörerisch hinter ihm. Er hatte schon oft gedacht, dass das Haus nicht in die Straße passte. Irgendwie hob es sich ab, aber auf eine subtile, konspirative Weise. Wie eine Krebszelle unter gesunden Zellen. Eine interessante Analogie, wie er fand, auch wenn er wusste, dass ein Teil von ihm darüber lachte. Genauso gemein lachte wie die roten Ziffern des Weckers, der ihn morgens aus dem Schlaf riss.
Seine Füsse berührten vorsichtig die Straße, wie ein Blinder, der Angst hat zu stürzen.
In gewisser Weise stimmte das auch. Zwar konnte er sehen, aber das für ihn wirklich Bedeutsame und Gefährliche an diesem Ort, an jedem Ort, konnte er nicht sehen. Er legte den Kopf schief, während er den nächsten Block erreichte.
Nein, so stimmte das nicht. Er wusste ja, dass sie da war, die Angst. Es war so, als ob sie ständig am Rand seines Gesichtsfeldes stand und ihm zusah. Eigentlich war es mehr ein Gefühl der Präsenz als ein visueller Eindruck. Wie das brennende Stechen im Nacken, wenn man den Blick eines anderen dort fühlt.
Wie irrational von ihm. Ominöse Gefühle. Er lachte innerlich wieder über sich selbst, aber diesmal war es ein nervöses, ein peinlich berührtes Lachen.
Das Lachen half etwas, das Gefühl wegzuwischen, besser, zu betäuben.
An einer Ampel musste er stehenbleiben. Er blickte nach oben. Gleich würde er wieder da sein, und die Angst würde dort schon warten.
Vielleicht war heute der richtige Tag, es zu tun. Noch einmal lächelte er, dann sprang die Ampel auf Grün.

… to be continued.

„Die Seele nährt sich von dem, an dem sie sich freut.“ – Augustinus von Hippo