Kategorie 'Traumhaftes/Abstraktes'

Der Markt

Diesen Artikel drucken 28. Oktober 2012

In deepest hollow of our minds
A system failure left behind

Ich schob meinen Kopf nach hinten, damit sich die Kopfhörer lösten

And their necks crane
As they turn to pray for rain

Die Stimme verblasste, die Geräusche der Bahn wurden deutlicher.

Die Gruppe von Menschen, auf die ich aufmerksam geworden war, bemerkte mich kaum. Es war ein seltsamer Haufen, drei Männer und drei Frauen, alle in Kleidung, die für diese Jahreszeit und wohl auch dieses Jahrhundert mehr als ungewöhnlich war. Die Männer trugen Anzüge, aber keine modernen: Alt sahen sie nicht aus, aber der Schnitt und die Details erinnerten an das alte England. An ihren Westen baumelte deutlich sichtbar eine silberne Kette, und mit einer gewissen Regelmäßigkeit blickte einer von ihnen auf eine der silbernen Taschenuhren, die daran hing. Die Frauen – oder besser Damen – waren in aufwendige, in einer U-Bahn offensichtlich sehr unpraktische Kleider gehüllt, die sie trotz ihrer Jugend schwerfällig und ein wenig lächerlich erschienen ließen. Sie trugen aufwendige Hüte, die Herren nicht minder kostbare und anachronistische Dandy-Melonen. Allen gemein war dabei eine authentische Selbstsicherheit, um nicht zu sagen, Arroganz. Als sie in der 42. Strasse zugestiegen waren, hatten sie einige andere Fahrgäste nur mit ihren Blicken von den Plätzen vertrieben. Auf diesen Plätzen saßen nun die Damen in einer anmaßend geringschätzigen Haltung, während die Herren standen. Ich konnte ihr Gespräch nicht hören, aber die Silben, die die Bahn nicht verschluckte, klangen ebenso gestelzt wie es das Auftreten der Gruppe vermuten ließ.

Die Bahn hatte schon zweimal gehalten, seit sie eingestiegen waren: Als die Bahn zum dritten Mal abbremste, reichte ein jeder Herr wie auf ein geheimes Kommando hin seiner Dame eine Hand, und jede der Damen quittierte diese antiquierte Ehrerbietung mit einem kalten Lächeln, dass weniger Dankbarkeit oder Freude auszudrücken schien als vielmehr die Anerkennung von Pflichterfüllung. Als der Zug hielt, stiegen sie aus, in einer wie abgesprochen wirkenden Reihenfolge, erst ein Herr, dann die Damen, dann die beiden anderen Herren. Ich schob die Kopfhörer in die Jackentasche: Ich hätte noch zwei Stationen fahren müssen, doch ich beschloss ihnen zu folgen.

Ich ging in einigem Abstand hinter ihnen, kam ihnen aber schließlich sehr viel näher, als ich beabsichtigt hatte, weil die Drehkreuze der U-Bahn für die Damen mit ihren viktorianischen Kleidern eine gewisse Herausforderung darstellten; sie meisterten sie, ohne ein einziges Mal diesen halb-spöttischen, überlegenen Ausdruck zu verlieren. Als wir schließlich an der Oberfläche ankamen, blieben sie plötzlich stehen, und ich ging, so langsam wie es mir möglich war, an ihnen vorbei; sie starrten auf eins der Hochhäuser, den BoA-Tower. „Die Rendite wird unaufhörlich steigen“, hörte ich einen der Herren sagen. Die Damen kicherten kurz vergnügt, als hätte er etwas beinahe Anstößiges gesagt, und das Kichern verwandelte sich in einen tadelnden Blick. Ich blieb an einem Zeitungsstand stehen, damit sie aufholen konnten. Während ich Kaugummi kaufte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie sie sich ihren Weg bannten. Die Bürgersteige waren voll, aber noch nicht überfüllt: Wenn man ab und zu einem Entgegenkommenden auswich, kam man zügig voran. Sie jedoch machten nicht die geringsten Anstalten, auf andere Fußgänger zu achten. Die Damen waren von zwei der Herren flankiert, der dritte ging einen Schritt oder zwei voran. Alle drei trugen wuchtige Spazierstöcke, die sie demonstrativ schwangen und hier und da einen Passanten zur Seite schoben oder ihn nur drohend erhoben, wenn ihnen jemand zu nahe kam. Niemand echauffierte sich; die Menschen senkten den Kopf und liefen auf die Straße, umgingen die Gruppe. Als sie mich passierten, schob mich einer der Herren barsch beiseite und bedachte mich eines Blicks. „Dort entlang!“, hörte ich einen der Herren sagen, und er wies auf ein Schild, das an einer Laterne angebracht war. „Straßenmarkt“ stand darauf, ein Pfeil wies die Richtung.

Ich folgte ihnen weitere zwei Blocks, bis sie abbogen; die Gebäude wurden hier rasch flacher, und hinter uns ragte der Tower weit sichtbar auf. In der Entfernung konnte ich den Fluss sehen. Ich blickte auf meine Taschenuhr: Es war noch Zeit.

Nur einige Hundert Meter weiter erkannte ich ihr Ziel; es war ein abgezäunter Parkplatz, auf dem der Markt stattfand, zwischen zwei Highway-Auffahrten. Hier und da war der Zaun aufgerissen, und nur noch einige schiefe Schilder wiesen darauf hin, dass der Boden zum Verkauf stand und dass man einstweilen sein Auto hier abstellen konnte, gegen eine für diese Gegend lächerliche Gebühr. Die Straße endete weit vor dem eigentlichen Gelände, und die Gruppe verlangsamte, weil die Damen Hilfe benötigten, um zwei oder drei große Pfützen zu überwinden, in denen das Wasser des letzten Regens stand. Das schien ihre Laune nicht zu trüben, im Gegenteil. Je näher sie dem verwahrlosten Grundstück kamen, desto gelöster schienen sie. Eine der Damen, augenscheinlich die jüngste, lachte mehrfach laut auf und klatschte in die Hände, bis eine der anderen sie offenbar auf die Gepflogenheiten ihres Standes hinwies. Sie beruhigte sich schnell, doch immer wieder kicherten die drei, und ein oder zweimal lachten auch die Männer ihr Ho-ho-ho, das wie aus einem schlechten Film zu kommen schien.

Als wir dem Gelände schließlich immer näher kamen, sah ich den ärmlichsten Markt, den ich mir vorstellen kann. Es schien mir mehr ein Flohmarkt denn ein Straßenmarkt zu sein: Es waren grob geschätzt vielleicht 100 winzige Stände, an Menschen Dinge verkauften, die andere wohl wegwerfen würden; uralte, abgewetzte Kleidung, altes Werkzeug. Halb geborstene Spiegel; An einem Stand verkaufte ein nervöser dicker Mann mit nur einem Arm verdrecktes Elektrowerkzeug direkt aus seinem Kofferraum. An einem anderen bot eine schäbig gekleidete Frau, die sowohl 20 als auch 50 hätte sein können, Waffeln an, deren Teig sie in einer alten, verkrusteten Schüssel vorhielt. Auf einem aus grober Pappe herausgerissenen Schild vor ihr prangte der Schriftzug ’50 Cent“. Zwei dürre Hunde, die ein trauriges Pärchen abgaben, dass nie so recht zusammengepasst hatte, schlichen geduckt zwischen den Ständen hin und her, bis sie hier oder da einen Tritt bekamen. Die Hunde wie auch der ganze Markt schienen nur eine Farbe zu haben: Grau. Alles war von einem dünnen, aber dominanten Schleier des Gräulichen bedeckt, selbst die fleckigen Bananen, die ein alter Mann in einem ranzigen Rollstuhl an seinem Stand verkaufte, waren grau. Grüne, gelbe, rote Pullover, allesamt wie aus der Altkleidersammlung – grau. Selbst die Menschen hinter den Ständen war auf so hoffnungslose Weise vergilbt, dass ich immer neugieriger wurde, was diese Gruppe von seltsam gekleideten Menschen hier suchte. Und es war nicht nur das Grau; über dem ganzen Ort hing etwas Hoffnungsloses. Kaum jemand bewegte sich zwischen den Ständen, niemand schien etwas zu kaufen. Allein eine Gruppe von verdreckten Kindern in Kleidung, für die jedes einzelne entweder schon zu groß oder noch nicht groß genug war, schlich umher und erwartete wohl, dass hier oder dort etwas abfallen könnte; davon abgesehen waren es nur Verkäufer, die gelangweilt die Auslage der Konkurrenz musterten, und danach wieder zu ihrem Stand zurückkehrten.
Die Viktorianer waren am Rand des Marktes stehen geblieben und schienen angeregt und deplatziert fröhlich darüber zu diskutieren, in welcher Richtung sie den Markt zuerst erkunden sollten. Ab und an wies einer in einer Richtung, dann ein anderer in eine andere: Schließlich zückten einer der Herren eine Münze und warf sie in die Luft. Die Kinder hatten die Neuankömmlinge inzwischen erspäht und hatten sich in einiger Distanz postiert. Ich konnte sehen, wie ihre Augen gierig der Münze folgten. Die Herren lachten vergnügt auf, als sie das Ergebnis ihres Münzwurfs begutachteten, und auch die Damen kicherten wieder. Achtlos warfen sie die Münze in Richtung der wartenden Kinder, die sich mit großes Geschrei darauf stürzten. Amüsiert setzte sich die Gruppe in Bewegung.

ich folgte ihnen in großem Abstand; von mir schienen die Kinder weniger Notiz zu nehmen, aber die Viktorianer behielten sie im Blick. Während wir links und rechts die ersten Stände passierten, warf ich einen weiteren Blick auf die Auslagen. Alte CDs mit kaputten Hüllen wurden angeboten: schlecht kopierte DVDs, billiges, immer blinkendes Spielzeug aus China zu horrenden Preisen. Die Verkäufer schienen alle vom Leben oder vom Schicksal gezeichnet. Einigen fehlten Gliedmaßen; andere saßen im Rollstuhl. Wieder andere wirkten auf den ersten Blick gesund, aber viel zu dünn oder viel zu dick für ihre Größe. Allen gemein war dieser Grauschleier und, prägnanter, der flehende Ausdruck in ihren Augen, den sie mir entgegen brachten. Ich bin mir sicher, dass dieser Markt für viele der einzige Weg war, den Lebensunterhalt zu verdienen, und auch das trug zu dem jämmerlichen Eindruck bei, den die ganze Szenerie bei mir verursachte.

Den Viktorianern schien das nichts auszumachen; sie lachten vergnügt über dieser oder jenes. An einem Stand mit Spielzeug blieben sie einen Moment stehen und schienen über die Waren oder über den Verkäufer, einen Jungen von vielleicht 17 Jahren zu lachen. Sie setzten ihren Weg fort, und ich konnte keine Regung im Gesicht des Jungen erkennen, bis auf das Flehen, dass ich bei allen sah. Ich dachte darüber nach, ihm etwas von seinen Grässlichkeiten abzukaufen, als die Gruppe vor mir noch lauter wurde: Sie hatten an einem Stand angehalten, hinter dem ein sehr alter Mann saß, ein Barrett auf dem Kopf. Vor ihm ausgebreitet lagen Abzeichen oder Medaillen militärischen Ursprungs, und er selbst trug einige an seiner vergilbten Uniform. Einer der Herren hatte einen der Orden genommen und der Jüngsten in der Gruppe angeheftet. Heftig lachten sie über den Scherz; Ohne den Veteranen auch nur eines Blickes zu würdigen, reichte ihm ein anderer Herr seine Taschenuhr, und der Handel schien damit besiegelt. Und auf eine seltsame Weise schien sich damit eine Verabredung zu schließen, die die Sechs hatten. Plötzlich teilte sich die Gruppe; die Damen gingen an einen Stand, die drei Männer an einen anderen. Einer der Herren tauschte seinen Schal gegen einen gelblichen Pullover; die Damen tauschten ihre Hüte gegen alte Turnschuhe, eine zerbrochene Haarnadel und einen kaputten Plattenspieler, dann ihre Schuhe gegen drei Hosen, und schließlich tauschten die Viktorianer in einer solchen Geschwindigkeit ihre festliche, schillernde Kleidung gegen Altkleider und Nippes, dass ich nicht mehr im einzelnen folgen konnte. Mehr noch, sie zogen ihre Erwerbungen auch direkt an, und hielten das ganze wohl für einen Scherz von gigantischem Ausmaß; jede Scham, jeder altbackene Anstand, den sie zuvor so deutlich präsentiert hatten, schien vergangen. Die Damen tauschten ihre Korsagen, selbst ihre Miederkleider; die Männer erwarben einen ganzen Karton voller beschädigter Elektronik im Tausch für ihre Spazierstöcke. In nur wenigen Minuten war die Gruppe der Viktorianer verschwunden, und ich hatte Mühe, sie noch von den Verkäufern und ihrem Elend zu unterscheiden. Die Damen trugen hässliche Oberteile über Hosen, die ihnen viel zu weit waren; eine hatte sich einen ehemals grell-grünen Minirock über die Hose gestreift. Die Männer sahen nicht minder ärmlich aus. Zwei von ihnen zogen zwei große, dreckige Kartons hinter sich her; die feinen Hemden, die Westen und Oberteile waren verschwunden und gegen dreckige und vergilbte T-Shirts getauscht worden. Der dritte von ihnen aß gierig eine Waffel. Erst als keiner der sechs mehr etwas zu tauschen hatte, endete ihre seltsame Verwandlung. Einer fand noch seine Fliege um den Hals baumeln, und ohne einen Moment des Zögerns warf er sie auf den Boden. Hinter mir schlichen einige der Kinder heran und stritten sich darüber, wer sie behalten dürfe.

Schließlich vereinte sich die Gruppe wieder, und lachend besahen sie die jeweils anderen, zupften aneinander, als könnten sie ihr neues Aussehen selbst noch nicht so ganz fassen. Dann, nach einigen Minuten verstummte ihr Lachen; ohne ein Wort gingen sie weiter, die Damen voran, deren Gang sich geändert zu haben schien, hinter ihnen die Männer mit ihren Kisten. Sie würdigten keinen der Stände mehr nur eines Blickes, und erst als wir beinahe am Ende der Reihe von Ständen angekommen waren, erkannte ich ihr Ziel; dort, hinter den ärmlichsten der ohnehin ärmlichen Stände, war ein rechteckiger Platz frei. Sie hielten dort, und ohne ein Wort der Absprache verteilten die Männer den Inhalt ihrer beiden Kartons dort auf dem Boden. Einer hatte auch eine löchrige Decke erstanden, diese legten sie zu unterst. Die Damen setzten sich auf den Boden dahinter; eine stellte eine winzige Kasse auf. Es dauerte nur wenige Momente, bis sie ihren Stand aufgebaut hatten.

Ich war stehengeblieben, als das Schauspiel begonnen hatte. Nun saßen sie alle dort auf dem Boden, keiner von ihnen sprach. Sie trugen den Blick, den ich auch bei den anderen Verkäufern gesehen hatte; ihre Augen flehten mich an, etwas zu kaufen. Als ich näherkam, tippte ich mir an den Hut. Zunächst reagierten sie nicht, dann drehte einer der Männer den Kopf zu mir. „Die Kurse steigen, die Kurse fallen“, erklärte er, und die Frauen kicherten wieder, nur um dann plötzlich zu verstummen, als hätten sie sich verraten. Ein anderer der Männer deutete mir, näher zu kommen, zog mich ganz zu sich. Scheu blickte er sich um, dann flüsterte er. „Seien sie unbesorgt, Sir. Die Kutsche zum Tower ist bereits auf dem Weg.“

 

 

Die einleitenden Zeilen stammen aus Pray For Rain von Massive Attack. Sie können als Inspiration zu diesem Text betrachtet werden.

Die Krankheit

Diesen Artikel drucken 7. Februar 2010

Der Bus der Linie 8 hielt um 15:03 Uhr am Klinikum. Zweimal schon hatte er auf die Notiz in seinem Mantel sehen müssen, um sich wieder daran zu erinnern: beständig hielt er eine Karte des Arztes zwischen den Fingern, um die Zimmernummer nicht zu vergessen. Er fragte sich, ob es an der Aufregung lag oder ob es Teil der Krankheit war.
In der Klinik angekommen brachte man ihn zu einem Wartezimmer. Nach wenigen Minuten kam eine Schwester mit undurchdringlicher Miene und führte ihn in einen Besprechungsraum: Der Arzt hatte schon begonnen zu reden, bevor er den Raum betreten hatte.

„Ich muss ihnen leider mitteilen, dass die Krankheit noch nicht sehr gut erforscht ist; Es gibt nur wenige Hundert dokumentierte Fälle auf der Welt, und bisher gibt es nur eine verlässliche Untersuchung zu dem Thema. Ich muss gestehen, ich hatte selbst noch nie davon gehört, und wenn es da nicht einen sehr engagierten Assistenzarzt gegeben hätte, der die Arbeit zufällig gelesen hatte, dann wüssten wir vermutlich nichts mit ihren Symptomen anzufangen. Ein amerikanischer Arzt – Bridge – hat vor zwei Jahren Patienten untersucht, die zunächst unter den meisten der von ihnen beschriebenen Symptomen litten. Ich kann es ihnen nur sagen, wie es ist; Bridges Patienten sind alle tot. Sie starben innerhalb weniger Jahre nach Ausbruch der Krankheit, und man kann seine Arbeit leider auch kaum mehr nennen als eine Systematisierung der Symptome in ihrer zeitlichen Abfolge, also ein Phasenmodell. Es gibt keine weitere Forschung auf dem Gebiet, weder laufend noch abgeschlossen. Die Pathogenese liegt völlig im Dunkeln, und keins der Präparate, die üblicherweise bei solchen Befunden verabreicht werden, hatte irgendeinen Einfluss auf Bridges‘ Patienten. Wir können und werden natürlich auch bei ihnen eine Reihe von Medikamenten und Therapien versuchen, aber momentan sieht es, so schwer das auszusprechen ist, sehr, sehr düster aus. Ich kann ihnen auch kaum Hoffnungen auf eine Fehldiagnose machen. Die Blutmarker, die man dem Bridge-Syndrom zuordnet, sind eindeutig und in großer Zahl nachweisbar.“

Er entschuldigte sich bei dem Arzt, der nur stumm nickte, verließ das Besprechungszimmer und ging einige Schritte hinüber in einen der Waschräume. Einige Sekunden dauerte es, bis er begriff, wie man die Armaturen bediente, dann floss das Wasser in ein silbriges Waschbecken. Er tauchte seine Hände hinein und wusch sie ausgiebig; erst säuberte er die linke Hand sorgfältig, dann die rechte. Als er fertig war, fand er nichts, um sie zu trocknen. Schließlich rieb er sie an seiner Hose und dem Pullover. Als er sich zur Tür drehen wollte, sah er den gelben Schein hinter dem Milchglas: Die Sonne schien endlich wieder. Es würde warm werden. Er lächelte still und fast ausdruckslos in sich hinein, dann ging er.

„Das Phasenmodell ist relativ präzise. Es basiert auf einigen Dutzend Verläufen der Krankheit, und die leider äußerst starke Ähnlichkeit zwischen diesen Abläufen motiviert Bridges Einteilung in vier Phasen; ich denke, über die sollten wir jetzt doch sprechen, auch wenn das sehr unangenehm sein wird.
In Phase Eins befinden sie sich, so wie wir das einschätzen, gerade jetzt: Sie ist vor allem gekennzeichnet durch eine Reihe von verhältnismäßig leichten Symptomen, die noch relativ unspezifisch für das Bridge-Syndrom sind, so etwa Konzentrationsstörungen – von diesen haben sie ja auch berichtet- aber auch kleinere Störungen der Kurzzeitgedächtnisses sowie eine gewisse Mattigkeit. In den meisten Fällen wird das Bridge-Syndrom zu diesem Zeitpunkt noch nicht diagnostiziert, viele Patienten suchen nicht einmal einen Arzt auf. Wenn sie es doch tun, so kommt meist gar keine Diagnose zu Stande, bevor nicht Phase Zwei beginnt, oder aber es werden andere neurologische Erkrankungen angenommen, wie etwa Demenz oder Alzheimer. Insofern könnte es möglicherweise von großer Bedeutung für ihre Therapie sein, dass wir das Bridge-Syndrom bei ihnen schon so früh erkannt haben.“

Er bedankte sich für die Offenheit des Arztes, der in mit seltsam stummen Augen ansah und während des Gesprächs immer wieder seinen Blick gemieden hatte, und verabschiedete sich. Zunächst hatte er die Ausführungen des Arztes für unpassend kalt gehalten, aber er verstand, dass auch dieser von der Situation betroffen war. Noch auf dem Weg aus dem Raum wählte er die Nummer seine Frau und erklärte ihr, was man ihm gesagt hatte; dann weinten beide, bis er schließlich wortlos auflegte.

Im Lift traf er wieder auf den Arzt mit den stummen Augen, der ihn knapp grüßte.
„In Phase Zwei werden die Störungen des Kurzzeitgedächtnisses schnell drastischer. Der Einfluss der Störungen auf das Alltagsleben der Patienten wird schnell sehr groß. Einigen gelingt es zwar, den Alltag bis zum Eintritt von Phase Drei selbst zu bestreiten, aber Bridges‘ Ergebnissen nach beschleunigt dies den Verlauf der Krankheit. Insofern sollten wir darüber nachdenken, sie aufzunehmen. Es gibt einige sehr charakteristische Symptome, die sich in Phase Zwei einstellen. So nehmen empathische Regungen der Patienten ab; ihr Interesse am Schicksal anderer nimmt ebenso ab wie das an ihrem eigenen. Das mag der Grund dafür sein, dass das Bridge-Syndrom erst in den letzten Jahren als Krankheitsbild isoliert wurde. In vielen Fällen hat man diese Symptome einfach für eine Form von Akzeptanz gehalten, ganz im Sinne der gängigen psychologischen Trauermodelle. Bridge konnte durch neurologische Untersuchungen aber beweisen, dass es sich um eine tatsächliche Aktivitätsabnahme in einigen Hirnbereichen handelt, die sich psychologisch nicht erklären lässt. Ebenso wird eine steigende Reiz- und Schmerzunempfindlichkeit beobachtet: Viele Patienten berichteten davon, dass sich bekannte Gegenstände oder Eindrücke plötzlich anders anfühlten, oder dass sie einige Dinge kaum wiedererkennen, ohne dass dies auf einen Erinnerungsverlust zurückzuführen ist. Es ist völlig unklar, wie dies im Zusammenhang mit den anderen Symptomen steht oder ob es überhaupt einen Zusammenhang gibt.“

Der Arzt begleitete ihn bis in sein Zimmer, wo ein Pfleger schon wartete: er wurde gewaschen, man zog ihm ein Krankenhemd an. Schließlich wurde er in ein Bett gelegt, von wo aus er aus dem Fenster sah, bis seine Frau ins Zimmer kam,
„Ich liebe dich.“ sagte sie und lächelte ihn an. Die Sonne stand hell am Himmel, und sie hatten einige Zeit, bis sie weiter mussten: sie küssten sich innig.

„Du hast nicht angeklopft“ sagte er dann nüchtern. Sie küsste ihn auf die Wange; ihre Augen waren gerötet und von einem dunklen Kranz umgeben. Er schob sich aus dem Bett und stützte sich dabei, so gut es ging, auf die Krücken. Sie wollte aufstehen, um ihm zu helfen, aber er deutete ihr, sitzen zu bleiben. Einige Schritte bewältigte er mit tauben Beinen, dann knarrte eine der Krücken seltsam blechern. Er schlug auf den Boden, ohne eine Ton von sich zu geben, und blieb auf der Schulter liegen: über sich er konnte die dampfende Kaffeetasse auf dem Tisch sehen. Seine Frau schrie auf, und eine Tür wurde geöffnet. Man hob ihn zurück ins Bett.
Die Rosen rochen nicht mehr; Er trank einen Schluck kalten Tee, den ihm seine Frau anreichte. „Was wäre denn anders, was wäre besser, wenn wir uns nicht kennengelernt hätten?“fragte sie so, als ob sie eine Gegenfrage stellen würde, ihre Stimme klang tränenerstickt; „Bald wird es so sein als ob.“ antwortete er kühl. Sie weinte. Er drehte sich zur anderen Seite des Bettes und starrte in den grauen Himmel. Als sie schließlich ging, kam der Arzt und fragte nach seinem Befinden. Er antwortete nicht, und der Arzt redete einige Minuten auf ihn ein.

„Mit Phase Drei beginnen die völlig unverstandenen Symptome des Bridge-Syndroms. Während der Verlust der Kurzzeitgedächtnisses nicht weiter fortschreitet, bilden sich schwere Störungen der Erinnerungskoordination aus, wie Bridge es nennt. Anfangs sind es kleine Episoden, die der Patient sozusagen verschiebt, also die zeitliche Reihenfolge verändert. Ein Patient von Bridge etwa glaubte, erst nach dem Mittagessen gefrühstückt zu haben, und beschwerte sich daraufhin beim Klinikpersonal. Diese Art der Vermengung von Erinnerungsepisoden nimmt stetig zu. Anfangs scheint ein psychologischer Mechanismus noch zu bewirken, dass die Patienten anstatt der eigentlichen Geschehnisse eine andere, zusammenhängende Geschichte erzählen, aber dieser Effekt verliert sich mehr und mehr, je stärker die Fehlordnung wird. Um ein Bild zu gebrauchen, erzählen die Patienten am Anfang der Phase Drei noch stimmige Geschichten, auch wenn sie falsch sind: Es ist ihnen auch wichtig, dass sie stimmig sind und als wahr akzeptiert werden. Im späteren Verlauf dagegen nimmt diese Neigung ab. Erinnerungen werden kaum noch verknüpft, Ereignisse folgen völlig unzusammenhängend aufeinander, Orte, Zeiten und Personen werden unablässig ausgetauscht. “

Er setzte sich einen Kaffee auf und sah in etwas, dass er für einen Spiegel hielt; heute war ein guter Tag zum Wandern. Dann nahm er einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und stopfte sie in den Rucksack. Draußen wartete sie bereits: Die Rose schien sie sehr zu freuen. Er hatte geplant, sie ihr erst auf dem Gipfel zu geben, es aber dann verworfen. Sie umarmte ihn lang, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg in die Klinik.

„Die Patienten scheinen dies nicht mehr bemerken oder korrigieren zu wollen. Damit zusammenhängend entwickelt sich ein weiteres Symptom, welches wir nicht einmal im Ansatz begreifen: die Patienten verlieren sich, um es wenig technisch auszudrücken. Es scheint so, als würden sie sich immer mehr zurückziehen. Neben den schwächer werdenden Reizreaktionen bilden sie auch eine Parese aus. Sie bewegen sich kaum; auf Ansprache reagieren sie nur selten, und wenn, dann nur einsilbig und teilweise geistig klar, teilweise deutlich verwirrt. Im Übergang zu Phase Vier reden sie manchmal, auch ohne jede Veranlassung, plötzlich los und erzählen von sich selbst oder ihrem Leben, stets aber jedoch in der dritten Person, so als ob sie über jemanden anders berichten würden. Auch hier zeigen sich die charakteristischen Episodenverschiebungen. In einigen Fällen wurde festgestellt, dass die Patienten zwar noch auf Fragen antworten konnten, so wussten sie etwa noch, in welchem Krankenhaus sie waren, aber Fragen nach ihrer Person schienen sie überhaupt nicht mehr zu verstehen, sie reagierten verwirrt bis gereizt.“

Er hatte dem Arzt zugehört, dabei aber ein Pärchen beobachtet, welches sich scheinbar unablässig vor dem Fenster des Besprechungsraums küsste. Sie schienen ihn nicht zu bemerken: ein anderer Mann, der schon eine Weile neben ihm saß, schien eine Frage zu haben.
„Wie wird es enden? Was wird mit mir geschehen?“ Einen Moment lang dachte er an das Schicksal des Mannes, der so aufgelöst klang, dann dachte er an das Pärchen vor dem Fenster.

„Phase Vier endet mit dem Tod; die neurologischen Befunde, die bisher erbracht wurden, zeigen eine fortgesetzte Zerstörung wesentlicher Hirnbereiche, die bisher immer zum Tod führte. Wie ich gerade schon sagte, ich kann ihnen auch kaum Hoffnungen machen. Der Verlauf nach Bridge besagt, dass die Reaktionen auf äußere Einflüsse immer weiter abnehmen, gleichzeitig scheinen die anderen Symptome in ihrer Ausprägung erhalten zu bleiben, soweit man das sagen kann. Es mündet schließlich in eine Art Wachkoma, in dem die Patienten für wenige Monate verbleiben, bis sie schließlich sterben. Es scheint so zu sein, als ob sich das Gehirn in Abwesenheit äußerer Reize teilweise regeneriert, was die Zerstörung des Hirngewebes verlangsamt.“

Er saß in einem Bus der Linie 8 und starrte aus dem Fenster: in der Hand hielt er eine Visitenkarte mit einer Adresse darauf, die er unablässig zwischen den Fingern drehte. Neben ihm unterhielten sich andere Fahrgäste.

„Aber was bedeutet das? Wie wird es am Ende sein?“

„Das können wir nicht wissen, eben weil noch nie ein Patient aus diesem Zustand erwacht ist. Man kann nur Vermutungen anstellen; Bridge hat festgestellt, dass die komatösen Patienten für lange Zeit noch rege Hirnaktivität aufweisen, auch wenn sie der in Phase Drei gemessenen gleichkommt. Man kann nur spekulieren; sicher ist, dass sie keine Schmerzen mehr haben. Die Beschäftigung der späten Phase Drei-Patienten mit Erinnerungen deutet daraufhin, dass auch im Wachkoma immer wieder Erinnerungen hin- und hergeschoben, neu verknüpft und anders erlebt werden. Was davon bewusst erlebt wird, ist eine andere Frage; die Patienten ziehen sich, wie ich schon erwähnte, von sich selbst als Subjekt immer stärker zurück. Sie sprechen von sichn ur noch, als würden sie über Dritte sprechen; manchmal erzählen sie ganze Episoden oder Verknüpfungen aus diesen, als wären es Kurzgeschichten, die einem fiktiven Protagonisten geschehen sind. Vielleicht ist es so, Bridge vermutet es jedenfalls; vielleicht bleibt von den Patienten noch ein Rest, so etwas wie ein Beobachter oder ein Leser, der auf das verworren und unverständlich gewordene Leben und Erleben eines Dritten starrt.“

edit: Das ist wohl die Folge, wenn man so spät noch schreibt: zehn Fehler habe ich gerade korrigiert, der eine oder andere könnte aber noch da sein.

Transformation

Diesen Artikel drucken 18. Januar 2010

Ich bin nur ein Mensch; dennoch gibt es drei, möglicherweise vier Personen, die diese Aufzeichnungen abfassen oder wenigstens später glauben werden, sie verfasst zu haben. Ich weiß nicht, wer sie tatsächlich verfasst; womöglich ist diese Unsicherheit auch nicht aufzulösen, vielleicht ist sie dem Menschlichen selbst geschuldet, der Abhängigkeit der Wahrheit von der Perspektive des Subjekts. Es ist mehr eine vage Spekulation, dass die Person, die diese Zeilen gerade schreibt, einen Mischzustand bildet, von dem man nicht sagen kann, ob und wann seine Vieldeutigkeit wieder in die Homogenität eines einzelnen Individuums, einer diskreten Person übergeht, auch wenn ich mir sicher bin, dass der Plan, der alles leitet, dies als letzten Zweck beinhaltet.
Inhalt und Zweck meiner Aufzeichnung aber ist, das ist mir recht klar, eine Erläuterung des Begriffs der Transformation, gleichsam ein Abschied, eine notwendige (wenn auch unvollständige) Erinnerung und eine Rechtfertigung, bestimmt für den Menschen und die Person, die einmal glauben werden, die Zeilen geschrieben zu haben, wenngleich dies in gewisser Hinsicht auch wahr sein mag.

Die Transformation bezeichnet, allgemein gesprochen und vom technischen Terminus befreit, den Wandel des einen hin zum anderen vermöge eines Dritten; Dies mag, wenigstens im Nachsatz, allgemein nicht richtig sein. Wo, so könnte man fragen, ist der Dritte beim Wandel, bei der Transformation des Bäumchens zum Baum? Diesem Einwand gebe ich statt, möglicherweise ist es nur eine facon de parler, wenn ich von dem Dritten spreche. Wenigstens in dieser Form aber mag man mir dann zustimmen; der genannte Wandel würde sich wohl nirgendwo in der Natur vollziehen, wäre da nicht genug Licht, Wasser und anderes, auch nicht ohne den verborgenen Plan der Natur dahinter (wenn man mir diese Metapher gestattet). Im Falle des Baumes mögen wir nichts davon wörtlich den Dritten nennen, es widerspräche auch dem wissenschaftlichen Weltbild und jeder empirischen Erkenntnis, einen solchen zu benennen.

In der Transformation, die das Ding betrifft, dessen Hand diese Zeilen schreibt, gibt es sehr wohl einen solchen Dritten, und dessen Rolle nehme ich zur Zeit ein; es ist eine Rolle, weil ich sie bald, spätestens aber morgen abgeben werden, und weil mich diese Rolle nicht völlig bestimmt. Ich bin eine temporäre Erscheinung, so wie der Eindruck von einer Person, den man im Halbdunkel gewinnen kann, kurz bevor man diese dann als Bekannten erkennt, aber dabei immerhin von solcher Dauer, dass mir diese Aufzeichnung möglich ist.

Ich besitze drei kleine, schwarze Bücher, die voll sind mit Bauplänen, technischen Zeichnungen und Spezifikationslisten. Abgesehen von den ganz offensichtlich unverrückbaren Parametern, die in der Transformation keine Berücksichtigung finden können, weil sie nicht zu ändern sind – so etwa gewisse Maße oder auch Strukturen der äußeren Erscheinung, ist in den Unterlagen alles bis ins Kleinste berücksichtigt. Es finden sich darunter auch naturgetreue Zeichnungen von Brustmuskulatur und Brillenbügeln; diese in ihrem Planungsaufwand paradoxerweise zeitraubenden Merkmale werden in der Realisierungsphase, in der ich mich nun befinde, nur verhältnismäßig wenig Aufwand bedeuten. Arbeitsintensiver werden dagegen die Teile der Transformation ausfallen, die in den endlosen Spezifikationslisten auf- und ausgeführt sind und in ihrer Natur wesentlich funktioneller sind, tiefer liegen, sozusagen. Das soll nicht bedeuten, dass sie für den Beobachter nicht erkennbar sind oder Ähnliches, ganz im Gegenteil, der größte Teil der Spezifikation betrifft ja gerade das Verhalten, welches wie keine andere Größe bestimmt, wer wir für andere sind, wer ich für den anderen bin. Mag es zwar der äußeren Erscheinung nicht zugerechnet werden – und so scheint es Konvention zu sein – stellen die Spezifikationen doch einen Großteil dessen bereit, was wir allgemein den Eindruck von einer Person nennen.
Die Schwierigkeiten, mit denen diese Abschnitte der Transformation behaftet sind, bedürfen wohl kaum einer Erklärung; zu betonen bliebe nur, dass diese, Disziplin, Technik und Opferbereitschaft vorausgesetzt, allesamt mit großer Sicherheit lösbar sind, auch wenn mir die technischen Details – so will es Spezifikation #12 – nicht mehr bekannt sind. Da Spezifikation #12 zu Charge #2 gehört, welche ich also bereits am zweiten Tag in meiner Zelle eingenommen habe, gehe ich davon aus, dass der Person, die ich als Mensch einmal war, gerade diese Veränderung, dieses Vergessen, äußerst wichtig war. Ich kann nur spekulieren, warum dies so ist; möglicherweise hatte diese Person erkannt, dass das Wissen über die Transformation und ihre genauen Gesetzmäßigkeiten, die pharmazeutischen und medizinischen Geheimnisse, die zur Erzeugung der Chargen notwendig waren, zu gefährlich seien, um sie einem nachgerade doch völlig Unbekannten mitzugeben.
Mir scheint es auch nicht nötig, den genauen Prozess zu kennen; die Technik ist meiner Überzeugung nach in sich perfekt (dies gebot schon Spezifikation #2), und der Wandel geht so rasch voran, dass ich diesen Brief trotz der relativen Stabilität meines Bewusstseins zügig abfassen muss. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass ich vergesse fortzuschreiben: Einmal schon muss dies geschehen sein, denn ich erinnere mich nicht mehr an die ersten Zeilen.
Ich akzeptiere diese Beschränkung freimütig, kann ich doch erkennen, dass der Prozess vorangeht. Noch sehe ich viele Brüche, viele sich widersprechende Haltungen und Eigenheiten an oder in meinem Charakter, doch sie lösen sich unter der Behandlung mehr und mehr auf, wechseln zu einer tiefen Harmonie, die nicht einmal die Natur hervorbringt. Bis gestern etwa liebte ich den Jazz, doch verabscheute seine stumpfen Rhythmen (Spezifikation #155), was mir jeden Musikgenuss verleidete und mich tonlos in meiner Zelle sitzen ließ, obschon doch eine Musikanlage darin steht.
Heute nun habe ich entdeckt, dass ich Chopin liebe, und seitdem höre ich ihn mit Genuss. Ich sah in die schwarzen Bücher: es wird bleiben (#196). Ich werde Chopin immer lieben! Es ist nicht die einzige Veränderung, welche die letzte Charge bewirkte: Einige sind mir bewusst, so etwa meine ewige Liebe zu Chopin oder meine weiter gefestigte Haltung gegenüber Fleisch und fettiger Nahrung (heute Mittag ließ ich das Fleisch auf dem Teller, es ekelte mich zutiefst an), andere dagegen sind mir weitestgehend verborgen: Ich habe von ihnen gelesen, aber es erscheint mir nicht, als ob sich etwas verändert hätte. Von den 54 Chargen sind nur noch 22 übrig: Ich bin die Liste von Charge #32, also die Reihe von Eigenschaften, die ich mir noch geben werden, bereits heute morgen durchgegangen. Ich freue mich darauf, Mitleid mit den Armen zu empfinden, und ich freue mich ebenso, morgen nicht mehr zu sein, weil ich jemandem anders, einem anderen Dritten Platz mache. Die kümmerliche eine Person, die in den meisten Menschen wohnt, ist versucht dem Tod zu entgehen, das weiß ich wohl. In meinem Fall scheint es aber anders zu liegen: Ich bin nur ein Zwischenprodukt, und unfertig wie ich bin, wäre das Leben mir wohl eine Qual, wüsste ich nicht, dass es vorbeigeht und einem anderen, harmonischeren Platz macht, welches wiederum unausweichlich dem Ausgang der Transformation entgegenstreben wird (entsprechend Spezifikation #1), so wie ich es tat, als ich die heutige Charge einnahm.

Transformation

Mir erscheinen die Zeilen, die oben von einer Erinnerung, gar einer Rechtfertigung künden, als ein seltsames Artefakt, welches zwar möglicherweise nicht wünschenswert, aber dennoch von dokumentarischem Belang ist: Ich konnte den Autoren der Worte eingrenzen auf den Bereich zwischen Tag/Charge 5 und Tag/Charge 8. Erst #30 und #32 eliminierten jede Form von Schuld und jede Verantwortung für die Person, die diese Transformation vormals geplant und eingeleitet hat, während #18 den Wortschatz etablierte, der sich in den Sätzen zeigt. Sollte ich eine Bezeichnung wählen, so schrieben es entweder Nummer Fünf, Sechs, Sieben oder Acht. Ich bin Nummer 32 in dieser Hierarchie, und damit so gänzlich verschieden von jenen, dass mir ihre Gedankengänge nicht mehr zugänglich sind: man mag mir verzeihen, wenn ich keine Rechtfertigung, nicht einmal eine Erinnerung niederschreiben kann. Ich erinnere mich nicht und es gibt nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste. Der Gedanke daran, dass ich vormals ein anderer war, und dass dieser andere aus Gründen, die mir verborgen bleiben, diesen Weg wählte, um durch Transformation – und durch mich sowie meine Vorfahren und Nachfolger – ein anderer zu werden, schreckt mich nicht, noch weckt es in mir Bedenken (#31 und #33). Sollte ich spekulieren, und dies ist mir aufgrund der bereits verinnerlichten psychologischen Kenntnisse möglich, so kann ich nur vermuten, dass der Erschaffer der Chargen, dem ich mich so nah fühle wie auch einem Hausschwein oder einem Hasen, in höchstem Maße verzweifelt, bei all dem Leid aber auch in technischer (und nicht zuletzt künstlerischer, man denke nur an Chopin!)  Hinsicht begabt genug war, um diesen Weg zu finden. Mir ist nicht bekannt, aus welchen Gründen er nicht sein wollte, wer er war, wohl aber ist mir die Tatsache vertraut, dass es den meisten Personen schwerfällt, nur eins zu sein und daran nur mühsam etwas ändern zu können: Möglicherweise, so denke ich es mir, war er gar nicht so verschieden von all den anderen Wesen. Auf eine Art erscheint es mir grausam, dass er mir, dir und uns die Fähigkeit nahm, auch anderen Menschen derart zu helfen; es gäbe viele, die den Prozess bereitwillig durchlaufen würden, so denke ich es mir, auch wenn ich weiß, dass #212 dies ändern wird. Die Natur, so sagt es bereits die Alltagsvernunft der meisten (#77), schafft nur selten wahrhaft harmonische, weil stimmige Strukturen. Kein Baum, an dem nicht ein Makel der Asymmetrie wäre, kein Vogel, dessen Gefieder nicht die eine oder andere Unstimmigkeit besäße: mit den Menschen und den Personen, die ihnen innewohnen, ist es nicht anders. Der Charakter wächst wild wie Gestrüpp oder Unkraut, ohne dass es je einen Gärtner gegeben hätte, und nur allzu schnell nistet sich der Makel ein, zerstört die Schönheit absoluter Symmetrie. Ich kann mich glücklich schätzen, dass der Mann, der einst die Bücher schrieb, die Technik entwickelte und die Zelle für die Dauer der Transformation einrichtete, uns und vor allem dich, der du am letzten Tag diese Zelle verlassen wirst, nicht diesem Schicksal überließ. Die Natur mag aus dem Nichts das Schöne hervorbringen; doch zu ihrer Perfektionierung braucht es den geschulten Intellekt – und die Transformation.

Der Traum und die Anderen

Diesen Artikel drucken 14. Januar 2010

Es war bereits zehn nach fünf, als er zum ersten Mal an diesem Abend – oder besser Morgen – die Zeit fand, eine kleine Pause zu machen. Das war nichts Ungewöhnliches an einem Freitag; der Laden war meist völlig überfüllt, und da er der einzige war, der an der hinteren Theke bediente, hatte er meist alle Hände voll zu tun. Er schenkte aus, kassierte, nahm die nächste Bestellung entgegen, ununterbrochen; es war anstrengend, zumal es in der Nähe der Tanzfläche so heiß war, dass manchmal Kondenswasser von der Decke tropfte.
Jetzt, um zehn nach fünf, lichtete sich die Tanzfläche langsam. Diejenigen, die schon den ganzen Abend bei ihm bestellt hatten, waren entweder auf dem Weg nach Hause oder hatten genug. 30 oder 40 Leute tanzten noch; er kannte einige vom Sehen. Manche schienen direkt von der Spätschicht hierher zu kommen, um noch einige Stunden zu tanzen, bevor sie erschöpft ins Bett fielen. Der Laden schloss in der Regel erst um 7 oder 8; offiziell war natürlich um halb 6 Schluss, aber damit nahm es sein Chef nicht so genau.
Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf einen Hocker, der am Rand der Theke stand. Einen Moment lang schweifte sein Blick über die Tanzenden, versuchte sich an den Namen des Lieds zu erinnern, das gerade gespielt wurde; jemand sang von der Kürze des Lebens und davon, wie sehr uns die Zeit fehlt, den Anderen zu finden. Dann sah er das Buch.

Es lag zwischen Wand und Theke: Wenn die Wände nicht aus spiegelndem Glas gewesen wären, hätte er es gar nicht entdecken können. Es fiel ihm auf, weil es hier sonst keine Bücher gab; wer würde hier schon lesen wollen? Und doch lag dort, versteckt in der Ecke des hölzernen Bartisches ein Buch. Das heißt, eigentlich war es weniger ein Buch als vielmehr eine Broschüre, ein kleines Heft, nur mit Stahlzwecken gebunden: er griff danach und versuchte, den Titel zu lesen, „Der Traum und die Anderen: Eine Warnung“ stand da, auf dünnem Kopierpapier. Er neigte sich ein wenig, so dass die Lampe über der Kasse das Papier etwas erhellte, und legte die Zigarette weg. Es war kein Autor angegeben; in seiner ganzen Ausführung wirkte das Buch auch eher so, als ob es in Heimarbeit erstellt worden wäre. Er sah zu den Gäste, vergewisserte sich, dass er noch Zeit hatte, dann schlug er um.

„Das luzide Träumen ist eine seit Jahrtausenden verwandte Technik, die das bewusste Durchleben und Steuern von Träumen ermöglicht. Viel ist darüber geschrieben worden, auch über spezifische Methoden des Luziden Träumens. Wir werden daher nicht näher auf die Frage eingehen, wie der luzide Traum zu erreichen ist und verweisen stattdessen auf die reichhaltige Literatur zu diesem Thema. In diesem Buch soll es daher um etwas anderes gehen: Wir wollen auf eine Gefahr des luziden Träumens, möglicherweise des Träumens selbst hinweisen. Unsere Botschaft lautet: Wir sind nicht allein im Traum. Dies mag seltsam klingen, gleichsam sicher auch unglaubwürdig, aber es ist die Wahrheit. Einen Beweis kann jedoch nur ein jeder für sich selbst erbringen, und zu diesem Zweck sind Kenntnisse über das luzide Träumen nötig, aber nichts darüber hinaus, abgesehen von einem großen Spiegel (maximal 1,80 mal 0,90 Meter).“

Er blickte auf und sah den Kunden, knickte das Heft und nahm seine gelallte Bestellung entgegen. Geistesabwesend nahm er das Geld, gab zu wenig heraus (aber das bemerkte er erst später) und zapfte ein Bier. Als der Mann gegangen war, wand er sich wieder dem seltsamen Büchlein zu; es war seit langem das interessanteste Objekt, dass er hier gefunden hatte. Natürlich verloren hier viele Menschen das ein oder andere, manchmal sogar Handys oder persönliche Kalender, aber dieses Buch erschien ihm wesentlich spannender, auch wenn er kein Wort glaubte von dem, was darin stand:

„Es sind keine großen Erfahrungen mit dem luziden Traum erforderlich: Erfahrene Anwender können jede Änderung, ja den Traum selbst frei gestalten. Dafür ist einiges Training nötig, doch diese Fähigkeiten sind hier nicht von Belang. Es reicht, wenn sie sich eine der Basismethoden des Luziden Träumens zu eigen machen, so etwa WILD (Wake-Initiation of Lucid Dreams). Von Vorteil ist es, wenn sie diese oder eine der anderen existierenden Methoden einige Male ausprobieren, bevor sie mit dieser Anleitung fortfahren.“

Er blätterte um.

„Nachdem sie sich mit einer Methode vertraut gemacht haben, können sie nun die Anderen treffen. Sollte sich ihr Bett in der Nähe einer Wand oder an einer Wand befinden, so verrücken sie es so, dass es in der Mitte des Raumes steht. Stellen sie den Spiegel (maximal 1,80 mal 0,90 Meter) frontal vor das Fußende ihres Bettes und merken sie sich die Zahl der Schritte, die er vom Bett entfernt ist: Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass sie während des Einschlafvorgangs Sicht auf den Spiegel haben. Versuchen sie nun, einzuschlafen. Fixieren sie dabei immer wieder geistig den Spiegel. Machen sie sich jederzeit klar, dass der Spiegel existiert! Halten sie sich bewusst, wie viele Schritte er vom Bett entfernt ist! Gleiten sie in den Zustand des Träumens hinüber.“

Es war die vorletzte Seite des Buches gewesen; die letzte war fast leer.

„Sind sie sicher, dass sie träumen? Dann treten sie zurück durch den Spiegel!“

Die letzten Gäste gingen schneller, als er es erwartet hatte, und so war es bereits um sieben zu Hause. Das Buch hatte er mitgenommen, zum einen, weil es eine originelle „Trophäe“ war, zum anderen, weil er einige Schlagwörter daraus (wie etwa den „luziden Traum“) doch einmal heraussuchen wollte, um zu sehen, ob es wirklich rein ersponnene waren. Google und sogar die Wikipedia kannten den Luziden Traum, stellte er zu seiner Überraschung fest; er war, wie gewöhnlich zu dieser Stunde, zwar müde, aber auch etwas überdreht, und so überflog er fünf oder sechs Artikel darüber und fand sogar die WILD-Methode, die in seinem Büchlein genannt worden war. Von den mysteriösen Anderen aber las er nirgendwo etwas.

Es war schon halb neun, als er seinen Computer wieder ausschaltete. Er stand auf, ging durch den Flur in die Küche, um noch einen Schluck Wasser zu trinken: Da fiel ihm der Spiegel neben der Garderobe ins Auge. Er hatte ihn geschenkt bekommen, ein Nachbar hatte ihn wohl wegwerfen wollen. In dem kleinen Flur wirkte er immer etwas deplatziert, aber er hatte sich nie dazu durchringen können, ihn wegzuwerfen. Er war riesig und ging fast bis zur Decke, die immerhin fast drei Meter hoch war: An einer Ecke hatte er einen kleinen Riss, aber sonst war er völlig intakt.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb er davor stehen und sah sein eigenes Spiegelbild grinsen. Was konnte es schaden? Die Artikel über das Luzide Träumen hatten ihn neugierig gemacht. Angeblich konnten trainierte Träumer in ihren eigenen Träumen fliegen und vieles mehr; er wollte es ausprobieren.

Der Spiegel war nicht so schwer, wie er es erwartet hatte, und so hatte er kaum Mühe, ihn aus dem Flur ins Schlafzimmer zu wuchten. Er schob die Unterlagen, die sich im Zimmer auf dem Boden verteilten, in eine Ecke, und lehnte den Spiegel an die Wand. Dann schob er das Bett über das protestierende Laminat hinweg in die Mitte des Raumes, so dass es genau drei Schritte davor stand. Er zog sich um und stellte fest,  dass ihn die Anstrengung doch müde gemacht hatte; es würde nicht schwer werden, einzuschlafen.

Die WILD-Methode, so hatte er gelesen, war im Prinzip sehr simpel. Im wesentlichen ging es darum, das Bewusstsein solange wach zu halten, bis der Körper und andere Teile des Gehirns schliefen – dann wechselte man in den Traum, ohne dabei selbst zu schlafen. Er versuchte es; einige Male bemerkte er gerade noch rechtzeitig, wie seine Aufmerksamkeit floh und seine Gedanken verschwanden. Am Anfang versuchte er noch, sich auf einen bestimmten Gedanken, eine bestimmte Sache so sehr zu konzentrieren, dass er nicht wegdämmerte, aber nach einigen Versuchen begriff er, dass es viel einfacher war, die eigene Aufmerksamkeit immer wieder auf neue Dinge zu richten. Eine Zeit lang versuchte er, jeden Gedanken im Geiste auszuformulieren, und jedes Mal dann, wenn er eine bestimmtes Wort dachte, einen neuen Gedanken zu fassen: er wusste nicht, wie lange er das tat, und als er bemerkte, dass auch dieses Spiel ermüdend wurde, fuhr er damit fort und wechselte das Wort selbst, auf welches hin er den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ändern wollte, wiederum auf ein anderes Wort hin, und so weiter und so fort, bis er eine fast unaussprechliche Verschachtelung dieses Spiels dachte oder spielte. Er war es fast leid, als er plötzlich feststellte, dass die Welt hinter seinen Lidern nicht mehr dunkel war.

„Das Wasser ist nicht tief. Du kannst darin schwimmen, es wird dich tragen.“, sagte ein alter Mann, der wie ein verlorener Kieselstein auf dem Strand saß und dabei an ihm vorbei blickte. Er erkannte den Mann als jemanden, den er als Kind einmal hatte Angeln sehen, und zu seiner Überraschung erkannte er auch den Strand; es war der Strand, an dem er zwei oder drei Urlaube verbracht hatte. Bei genauerer Betrachtung wurde ihm klar, dass es nicht exakt dieser Strand war. Es war eine gewissermaßen geträumte, irgendwie verdunkelte Variante des Strandes in seiner Erinnerung; es gab Sand, es gab das Meer. Es gab die Brücke, einige Hundert Meter entfernt, und sogar einige Strandkörbe waren dort: aber irgendwie schien alles abgedunkelt, als wäre es Nacht, obwohl doch heller Tag war. Selbst die Wellen schienen zu schlafen, denn sie machten kein Geräusch, wenn sie auf den Strand prallten. „Das Wasser ist nicht tief“, sagte der Mann noch einmal, als hätte man ihn nicht richtig verstanden. Etwas trieb ihn ins Wasser; er wollte, musste schwimmen. Kontrolle, dachte er, die Kontrolle war nicht vollständig. Er konnte bewusst zusehen, aber es war schwer, die Handlung zu beeinflussen. Drei Schritte, es waren nur drei Schritte: Der Spiegel. Er sah auf seine Füße und versuchte, sich auf die Bewegung zu konzentrieren. Einen Schritt machte er nach vorne: es funktionierte. Ein zweiter. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, von dem er nicht wusste, ob er ihn hatte, oder ob es jemand anders war, der ihm den Gedanken einflüsterte: Hinter dem Spiegel. Du bist hinter dem Spiegel. Nicht vorwärts: rückwärts! Es war überraschend schwer, der Anweisung zu folgen, und doch setzte er langsam einen Fuß vor oder besser: hinter den anderen. Ein Schritt, ein zweiter, ein dritter. Der alte Mann saß immer noch im Sand und schien ihn gleichgültig zu beobachten. Der vierte Schritt: Nur noch einer, der schwierigste, der entscheidende. Er blickte auf seine Füße und sah, wie sein Bein sich hob, ein Ruck, dann hörte er ein Geräusch in der Stille des Strandes, als ob man mit den Fingern gegen eine Glasscheibe – eine Spiegelscheibe – schnippen würde.

Er hob den Kopf: Der alte Mann war noch da, der Sand war noch da, die Brücke, das Meer, die Strandkörbe. Doch etwas war anders: der Strand war nicht länger leer. In den Körben saßen dunkle Gestalten, die ihn beobachteten: einige von ihnen standen auch auf der Brücke, manche schienen Ferngläser zu halten. Auch im Sand, den ganzen Strand entlang saßen, standen oder lagen die Männer in ihrer schwarzen Kleidung. Selbst auf der nahen Sandbank, an die er zuvor überhaupt nicht gedacht hatte, sah er einige von ihnen. Zwei standen direkt neben dem alten Angler und schienen flüsternd etwas zu erzählen; vier oder fünf standen ihm selbst so nahe, dass er ihre Gesichter erkennen konnte, ununterscheidbare, pergamentartige Züge, mit tiefen Rillen und Furchen. Sie waren viel größer als er selbst, vielleicht 1,90, vielleicht sogar etwas größer. Ihr Alter konnte er nicht schätzen; sie sahen sowohl jung als auch alt aus, und wenn ihr Gesicht etwas ausdrückte, dann war es eine schwere, lang anhaltende Anstrengung. Der, der ihm am nächsten stand, wand seinen Kopf plötzlich: „Der Träumer sieht uns.“, sagte er überrascht, und so etwas wie Erschrecken schien sich darin wiederzufinden.

Tritt zurück, dachte er, du stehst im Spiegel, tritt einfach zurück und erwache. Er machte einen Schritt und fand sich in seinem Bett wieder, doch es war nicht still und friedlich, wie er es erwartet hatte; Dutzende Leute schienen durcheinander zu sprechen. Er sprang auf und fand sich in einem Gemenge, einem wirren Haufen von schwarzen Ärmeln, schwarzen Hosenbeinen und düsteren Gesichtern wieder, „Er gehört zu den anderen!“ riefen sie, „Macht euch bereit!“, „Ladet die Waffen!“, er wühlte sich durch den Haufen, und der machte Platz, schien von ihm weichen zu wollen wie er von ihm, er versuchte die Schritte zur Tür zu finden, doch es waren zu viele im Raum, die sich dazu noch umeinander und aneinander vorbei schoben, „Auf mein Kommando!“, brüllten zwei, „Bajonette aufpflanzen!“ andere, „Bewahrt die Ruhe, bewahrt die Ruhe!“, die Spannung schien zu einem hörbaren, greifbaren Surren zu werden, während er sich wie die Anderen auch verloren durch das Gemenge kämpfte, mal hier anstieß, mal dort, und schließlich hörte er,

Left to no one
No Space
No time,

Und erkannte seine eigene Stimme, die mühsam die Töne haltend sang, während die Anderen im Chor antworteten,

I’m not to find you,
But if there was just a second,
I would try,
I would try.

Die Männer und er wiederholten den Gesang, immer wieder, und dabei standen sie alle still, konzentrierten sich auf jeden Ton: ihre Stimmen ergänzten seine, und er gab ihnen die Worte, wo sie ihnen fehlten. Das Surren war verschwunden, und in den Augen der Anderen sah er so etwas wie eine friedliche Übereinstimmung. Als sie das Lied einige Male gesungen hatten, begannen sie sich zu der Musik zu bewegen, betont langsam, wohl auch um ihn nicht zu erschrecken, nur um die Anspannung zu lösen, und schließlich wiegten sich alle leise im Takt der Musik. Schließlich hörte einer von ihnen auf zu singen, trat langsam und vorsichtig an ihn heran, ergriff ihn an der Schulter und sagte: „Du bist keiner von uns. Geh lieber in den Flur, dort ist es sicherer.“ Sie ließen ihn zur Tür durch, er ging hinaus, zog den Hocker heran und setzte sich. Die Männer hörten nicht auf zu singen und zu tanzen, im Gegenteil, jetzt, wo der Fremdkörper zwischen ihnen entfernt war, schienen sie mutiger zu werden, und sie bewegten sich schnell und geschickt, nie stießen sie aneinander. Er sah ihnen zu bei ihrem Tanz; dann griff er zu dem Aschenbecher und nahm die Zigarette, die er dort abgelegt hatte. Als er wieder hinblickte, erkannte er plötzlich einige der Männer: sie kamen wohl nach der Spätschicht direkt hierher, um noch einige Stunden zu tanzen. Er blickte auf die glimmende Glut; Wann hatte er sich diese Zigarette angezündet? Plötzlich stand jemand vor der Bar und verlangte lautstark ein Weißbier.
Es dauerte eine Weile, bis er reagierte, dann jedoch tat er, was von ihm verlangt wurde. Es war zwanzig nach fünf; immer noch tanzten dreißig oder vierzig Menschen nur einige Meter entfernt. Er suchte nach dem Büchlein, fand es aber nirgendwo; schließlich blickte er in die Ecke, in der er es gefunden hatte. Einen Moment lang glaubte er, es in der Spiegelwand zu sehen. Doch vor dem Spiegel lag kein Buch.

Avatar ∞

Diesen Artikel drucken 7. Dezember 2009

In einem Moment
Betrachtete er

die elektronische Oberfläche eines einfachen Moleküls, das am Rande eines Protosterns frei durch den Raum glitt
den Kampf zweier Schlangenwesen auf einem Planeten, der zwischen zwei roten Riesen zerrieben wurde
das Wesen einiger Dutzend emotionaler Zustände einer primitiven Spezies, die auf zwei Beinen lief
und vieles mehr

In diesem einen Moment

verschob er 241 Sterne in der Nähe der zentralen Anomalie, so dass ihre Anordnung in stabile Bahnen überging
schuf er eine neue Spezies reptilienartiger Sechsfüßer, deren Proportionen den Fibonacci-Zahlen entsprachen
ruhte er in der Tiefe eines Plasmasees und hörte das Rauschen von ionisiertem Helium

In einem Augenblick
Erinnerte er sich

an die Femtosekunden und Jahrtausende seiner Existenz
an das fremd gewordene Gefühl von Heimweh
an den winzigen blauen Ball, von dem er stammte

Und tanzte

zwischen diesen, jenen, allen Sternen
in der komplexen Ebene
und im Sonnenwind

In diesem einen Moment

dachte er alle Primzahlen mit Ausnahme der Zwei
berechnete er das Ende des Universums und was danach käme
stellte er die Frage nach dem Sinn seiner Existenz,
gab alle Antworten

und verwarf jede einzelne.


Inspiriert von der Figur ‚Doctor Manhattan‘ und Avatar.

Klein Pāradies

Diesen Artikel drucken 25. November 2009

Eine Welle schwappt an den Strand, trägt kein Korn davon, fügt kein Gramm hinzu. Die Wellen kommen und gehen nicht – sie bleiben.

Du siehst hinunter auf den Tisch, siehst das mühevoll zubereitete Essen, das schöne Porzellan, die feinen Gläser. Du siehst auch die Gäste, allesamt Verwandte, Freunde. Und alle zusammen sind sie so – mühelos unbeschwert. Und ja;

Solltet ihr nicht glücklich sein? Könnte es nicht schlimmer sein? Könnte es nicht Krieg sein – könnte es nicht Hass sein?

Nein, nicht Krieg, nicht Hass. Nur Sand. Du weißt, unter den Tellern, unter den Gläsern, unter dem Tischtusch da ist der Sand; warm, weich, jedes Korn so weiß, so weiß, dass es schon fast weh tut – aber nicht weiß genug. Weiß, aber nicht zu weiß, warm aber nicht zu warm, strahlend aber nicht zu strahlend. Könnte es nicht viel schlimmer sein? Nein.

Du legst dich nieder in den Sand, hörst die immer gleiche Welle plätschern. Sie streicht über den Sand, verliert ihn wieder.

Weit hinten siehst du ein Boot, ein kleines Ruderboot. Es schwankt von links nach rechts, von rechts nach links.

Du könntest, ja du könntest damit fahren; nicht weit, einige Meter nur. Und dann würdest du zurückwollen und dich matt ins Wasser gleiten lassen. Zurückschwimmen; Schwimmen durch klares Wasser, warm wie der Sand. Durch kleine und große Wellen, kleine ,aber nicht zu kleine, große, aber nicht zu große Wellen. Schließlich lägst du wieder hier; im Sand. Unter einer Sonne, die dich nicht frieren lässt, aber auch nicht verbrennt. In Sand so feinkörnig und weiß und warm, in Sand der dich wärmt, der dich beschützt, der warm ist, weil er keinen Winter kennt und keine Nacht.

Du nimmst ein Stück von deinem Steak, führst die Gabel zum Mund; Oh, wie dieser Sand schmeckt, süß wie Kaugummi. Süß wie die Bonbons, die du als Kind so mochtest. Aber nicht zu süss, nicht zu fett.

Was treibt dich in diesen Sand, an diesen Strand, an dieses über und über vertraute Meer, das Meer ohne Horizont?

Was daran fasziniert, ist nicht sein Ferne; nein. Es ist seine Beständigkeit, es war schon immer da, es wird immer da sein. Du kannst es betreten, jeden Tag, jeden Mittag, jeden Abend. Es ist nie fer,n aber doch unendlich weit von dieser Welt, dieser Welt der Schwierigkeiten, weit von diesen Abgründen; diesen Dingen, die niemand will. Die du nicht willst. Dieser Strand, ja, dieser Strand, liegt dir immer zu Füßen. Du musst nur dorthin finden. Wenn du dort bist, dann legst du dich in den Sand. Du legst dich in Sand, der nie zu warm ist und nie zu kalt; du legst dich in Sand, der so warm ist, weil er keine Nacht kennt und keinen Winter.

Du kennst die Nacht; du kennst den Winter. Und deshalb bleibt er dir immer ein wenig fern, bleibt dir fremd, wie die Umarmung eines Fremden, die zwar zärtlich sein mag und auch gefühlvoll, dich aber niemals kennt; dich niemals verstehen kann, weil sie eben dich nicht kennt. Weil sie den Winter nicht kennt. Und die Nacht.

Du liegst in der Badewanne. Der Schaum ist ganz weich, das Wasser so warm und anschmiegsam. Und wieder ist es Sand: Sand, in dem du liegst an diesem Strand, der nur dir gehört. Es gibt dort keine Fernseher, kein Radio, kein Handy, auch wenn diese Dinge ein Weg zu ihm sein mögen; Es gibt dort niemanden, der dich informiert, belehrt, berät. Der dir sagt, dass diese oder jene Entscheidung notwendig ist oder wichtig. Für den Sand ist nur der Sand wichtig; dem Meer ist nur das Meer wichtig.

Und selbst wenn das Wasser immer das gleiche sein mag, und die Sandkörner, die sich so zärtlich an deinem Körper schmiegen, immer die gleichen Sandkörner sein werden: Ist es nicht richtig so? Ist es nicht dein Ort, deine Heimstatt?

Entspannt liegst du in deinem Sessel, und betrachtest flackernde farblose Bilder aus einer anderen Zeit, die es nie gab. „It will come to you, this love of the land. There’s no gettin‘ away from it.“, sagt ein Mann. Du kennst den Film, kennst sein Ende; du siehst gerne auf deinen Strand. Deine Gliedmaßen werden schläfrig, doch dein Geist reist ohne Mühe zwischen den zwei Welten, an deren einem Ende der Sand wartet. Warmer, weicher Sand. Einen Moment ist da die Fremdheit, das Wissen, dass dies nur Klein Pāradies ist; dann verschwindet jedes Gefühl. Könnte es nicht schlimmer sein? Solltest du nicht glücklich sein? Ja, es könnte schlimmer sein. Ja, du solltest glücklich sein. Dieser – dein Strand – verspricht nicht die Ewigkeit, er ist Ewigkeit.

Partner kannst du verlieren, Jobs, Freunde, Hobbies, Ziele. Der Strand wird immer das bleiben, was er ist; wird immer dort warten, wo er ist. Die Welt, ja selbst Scarletts Welt, ist nicht so weich und warm wie dein Strand. Andere mögen glauben, der Strand könne nicht der Bestimmungsort aller Leben sein. Es ist egal, denn andere gibt es an deinem Strand nicht. Nur dich, das Wasser, den Sand.

Du sitzt auf einem Stuhl in deinem Büro, blickst auf Zahlen und Daten und Aufgaben, auf viel zu wenig Zeit. Einen Moment Pause gestattest du dir, atmest tief ein und hörst das Rauschen der immer gleichen Welle. Denkst an den Strand, den du wieder betreten kannst, wenn die Uhr Sechs zeigt. Du weißt es genau: Um Sechs wirst du wieder da sein, schon auf der Autofahrt, vielleicht, wenn das Radio alte Musik spielt. Vielleicht auch schon auf dem Weg in den Fahrstuhl; die Türen werden sich öffnen, und du wirst lächeln, weil du gar nicht mehr im Lift stehst, sondern bis zu den Knien im Sand. Noch ist es nicht soweit; die Uhr zeigt Vier. Noch weißt du, dass es anderes gibt, andere Menschen, andere Ziele, andere Zwecke, anderen Schmerz. Bald wird eine Welle das Wissen davonspülen, genau wie jeden Gedanken. Als letztes wird ein bestimmter Satz verblassen, immer der gleiche.

Es gibt nur den Strand; mehr als Klein Pāradies kann man nicht erwarten.


PS: Die Notation Pāradies soll andeuten, dass die erste Silbe betont wird.
Dieser Text ist eine Niederschrift eines Improvisationsversuchs, den ich vor einigen Wochen per Mobiltelefon aufnahm. Die letzten vier Absätze habe ich nach der Abschrift hinzugefügt.

Monstrum/Drei Bilder

Diesen Artikel drucken 6. November 2009

Was sie dort wohl tun, fragte er sich. Was sie dort wohl tun. Er zog an einer Zigarette und blickte weiter aus dem Fenster. Die Antwort auf seine Frage lag vor ihm, lag groß und mächtig vor ihm, aber er würde sie nie verstehen, verstehen können, wollen.

Was sie dort wohl tun, fragte er sich, und blickte auf die Fabrik. Sie lag nicht einmal zum Schein verborgen zwischen den Wohnhäusern. Ihre silberne, an einigen Stellen vom Rost zerfressene Haut war eine Beleidigung, ein offener Affront: zwischen ihr und der ansonsten ruhigen Wohngegend rundherum herrschte so etwas wie ein ästhetischer Krieg. Es ließ sich nicht genau bestimmen, wie hoch der ewig dampfende Schornstein war, der mitten aus dem silbernen Panzer herausragte. In der Umgebung gab es kein Gebäude, keinen Fixpunkt, der auch nur annähernd so hoch war, und deshalb schien er bis in den Himmel zu ragen wie ein übergroßer Zeigefinger.

Monstrum Viel mehr wusste niemand über die Fabrik; sie stand da, war wie eine zum Stillstand gekommene Wucherung in die Stadt gewachsen, und blieb. Er hatte die Nachbarn gefragt, um was für eine Anlage es sich handelte, aber auch sie wussten nicht mehr darüber und wollten – so schien es – auch nicht darüber sprechen. Es war so, als wüsste überhaupt niemand irgendetwas darüber. Alle kannten die Stahlhaut, den grotesken Turm, mehr nicht. Den meisten war dieser Fremdkörper ein Dorn im Auge, sicher; aber er hatte nie von offenem Protest gehört, einer Petition oder Bürgerinitiative.  Und niemandem konnte entgehen, wie sehr die Präsenz dieses seltsamen Monstrums die plangenau angelegten Straßen und Häuserblocks, die Vorgärten und Hinterhöfe rundherum zu verzerren schien; wenn man aus einem der oberen Stockwerke auf die Stadt und die Fabrik blickte, schien es so, als sei die Stadt um das Monstrum in ihrer Mitte angelegt worden, als solle jeder Weg dorthin führen.

Und dabei gab es niemanden, der dort arbeite. Das war falsch, natürlich; dort mussten Menschen arbeiten, manchmal sah er auch einige Gestalten über das Gelände huschen, und die Geräusche, die das Ungetüm selbst in der Nacht von sich gab, ließen auf unablässige menschliche Geschäftigkeit schließen. Aber niemand aus der Stadt arbeitete dort, und niemand kannte jemanden, der es tat; sie mussten von weit her kommen.

Er beobachtete, wie ein kleiner Hubschrauber am Horizont auftauchte, sah ihn auf die Fabrik zuhalten. Einige Minuten umkreiste er den stahlgrauen Zeigefinger, schien etwas zu suchen. Es war ein schwarzer, schmaler Helikopter, der höchstens für zwei Personen Platz bieten konnte, wie er glaubte:  die Scheiben waren geschwärzt, und so konnte er die Insassen nicht sehen. Er blickte auf seine Uhr, als der Pilot wieder abdrehte und in die Richtung zurückflog, aus der er gekommen war: die gleiche Zeit wie immer.

Was sie dort wohl tun. Das fragte er sich und schloss das Fenster wieder.

Der Zug hatte Verspätung gehabt, wie so oft, und so stand er viel zu spät vor seiner Wohnung. Er drehte den Schlüssel im Schloss und trat ein: Die Luft roch abgestanden. Einige Sekunden horchte er und genoss die Stille. Dann ließ er seine Tasche auf den Boden fallen, setzte sich. Atmete tief durch. Und befühlte fast unwillkürlich den Riss, den niemand sah.

Ja, er war wieder größer geworden: aber wen hätte das verwundern sollen? Es würde sich nicht mehr ändern. Das Loch würde wachsen, auch wenn er nicht sagen konnte, wohin: es würde seine Organe auflösen und Platz für die Leere schaffen, auch wenn er sich nicht einmal sicher war, wo der Riss genau verlief. Manchmal dachte er, er oder es wäre in seiner Brust; dann war es wieder der Bauch. Manchmal glaubte er, ihn mit den Fingerspitzen zwischen zwei Rippen zu spüren. Dann wieder war er sicher, dass der Riss quer über seine Stirn lief. Wenn er aß, dann schien alle Nahrung durch den Riss zu sickern und er blieb hungrig, immer hungrig: war ihm nach Weinen zu Mute (und das geschah oft), so schienen die Tränen in dem Loch zu verschwinden.

Sie hätten es erklären müssen, dachte er oft. Natürlich hatte er den Vertrag gelesen, und natürlich hatten sie ihn in gewisser Weise darüber informiert, dass es Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde. Aber sie hatten ihm nichts von dem Riss erzählt. Die Einspeisung war irreversibel gewesen, das wusste er; er hatte es in Kauf genommen, weil die Bezahlung gut war.

Er stand auf und ging zum Kühlschrank, fand nichts Essbares vor. Sinnlos, dachte er, und setzte sich wieder. Das Schlimmste an der Einspeisung war, dass sie niemand sah. Früher hatte er sich nicht einmal getraut, bei Tageslicht auf die Straße zu gehen, weil er dachte, die Passanten würden erschrecken. Aber niemand sah ihm an, was mit ihm geschah, wie ihn die Arbeit langsam auffraß. Einmal hatte er den Kassierer im Supermarkt angesprochen; er hatte nicht gewusst, wie er es sagen sollte, und so hatte er alles auf einmal und dabei doch gar nichts gesagt, als ob selbst die Worte in dem Abgrund zwischen seinen Schultern verschwinden würden. Der Mann hatte ihn einige Sekunden angestarrt und dann gelacht: Das kennen wir doch alle, hatte er gesagt, und nicht das Geringste verstanden. Sie sahen den Riss nicht; sie sahen ihn einfach nicht.

Er seufzte leise, und für einen Augenblick glaubte er, so etwas wie ein tiefes, fast stummes Echo zu hören. Es war bereits halb eins; nur an der Tankstelle würde er noch etwas zu Essen bekommen, und dann blieb zum Schlafen kaum noch Zeit. Wenn er noch etwas zu sich nehmen wollte, dann musste er jetzt losgehen; einen Moment lang versuchte er, sich an den Weg zu erinnern, den er nehmen musste.

Aus dem Haus heraus, dann über die Straße. An der Ecke vor der Schule musste er links abbiegen auf den Zubringer; dann immer geradeaus, zwischen den beiden Brücken hindurch, immer entlang der großen Straße, auf der ein beständiger Strom von silbrigen Fahrzeugen in jedwede Richtung fuhr. Vorbei an den stahlgrauen Bürokomplexen, in denen um diese Zeit kein Licht mehr brannte, immer weiter parallel zur Leitplanke, die im Licht der Scheinwerfer so vertraut funkelte, funkelte wie ein Zeigefinger in dunkler Nacht. Irgendwo hier hätte er noch einmal abbiegen müssen, aber wo, wo nur, es half nichts, er musste zunächst weiter geradeaus, hin zu dem Ungetüm, silbrige Haut und ein 50 Meter messender Stachel, immer weiter darauf zu, kein Weg zurück, er musste weiter, er hörte schon das unablässige Klopfen, konnte den Rauch aufsteigen sehen, fühlte, wie der Riss von seinem Bauch in die Brust und dann in den Kopf wuchs, sah sich selbst, ein Fleck Nicht-Anwesenheit zwischen Bordstein und Häuserwand, ein Riss mit einem Stachel, der 50 Meter in die Nacht wuchs.

Als er erwachte, fand er sich auf dem Stuhl wieder, auf dem er eingeschlafen war. Er blickte auf die Uhr, es wurde Zeit. Ein letztes Mal atmete er tief ein. Es mißlang ihm; der Riss gestattete es nicht. Dann nahm er seine Tasche und lief durch die Dunkelheit zum Zug.

Er blickte auf die Zigarettenschachtel, dann nahm er die letzte Zigarette heraus und fröstelte. Es war kalt um diese Uhrzeit: er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so früh noch wach gewesen war. Seine Uhr zeigte 4 Uhr 22, und es war noch immer niemand in Sicht. Vor einer halben Stunde wäre er fast schon nach Hause gegangen, und je früher es wurde, desto verlockender erschien ihm sein Bett. Seine Neugier war groß genug gewesen, um sich in der Nacht aus dem Haus zu schleichen; jetzt stand er schon fast fünf Stunden in dieser düsteren Ecke zwischen zwei Häusern in der Nähe der Fabrik. Irgendwann mussten sie hier vorbeikommen; er wusste, manche kamen mit dem Zug, vielleicht sogar alle. Er trat die Zigarette aus; jetzt konnte er nicht einmal mehr rauchen. Lautlos fluchte er. Wie war er nur auf diese Idee gekommen? Es war eine Fabrik, jeder konnte es sehen. Wen scherte es schon, was sie genau darin taten? Und wer würde so dumm sein, die ganze Nacht frierend zu warten, nur um einen der Arbeiter aus der Nähe zu sehen? Er selbst, dachte er und musste fast lächeln, auch wenn er seine Lippen kaum noch spürte. Noch einmal sah er auf die Uhr; 4 Uhr 33. Um halb fünf kamen sie also auch nicht. Er gab seinem frierendem Körper nach, schüttelte seine Füße einige Momente aus, um wieder etwas Wärme hineinzubringen, dann trat er aus der Ecke heraus und machte sich auf den Weg nach Hause. Er war erst einige Meter gegangen, da bemerkte er, wie sehr es ihn erleichterte, von dort verschwinden zu können: Nachts und aus der Nähe wirkte die Fabrik noch seltsamer, nicht nur befremdlich, sondern fast beängstigend. Er fragte sich immer noch, was darin vorging: aber das musste warten, vielleicht auf den Sommer. Ja, im Sommer würde er es vielleicht länger dort aushalten.

Er sah den Mann in Arbeitskluft erst, als er in eine Seitenstraße einbog, und prallte fast gegen ihn. Es war ein Arbeiter, dass war ihm sofort klar; er trug den Overall mit dem seltsamen Emblem, das auch den Turm zierte. In der Hand trug er nur eine dünne Aktentasche, und es wirkte so, als wäre sie sehr leicht.

Er starrte den Arbeiter an: „Verzeihung“ murmelte er  „Mein Fehler.“ antwortete der andere. Einige Sekunden blieb er stehen und musterte den Mann in dem Overall; der tat es ihm gleich.

Die ganze Nacht lang hatte er gewartet und sich Fragen zurecht gelegt; er war sich ganz sicher gewesen, was er fragen musste und in welcher Reihenfolge. Doch jetzt fiel ihm kein Wort mehr ein. Einige verirrte Silben entflohen ihm, ziellos, aber der Arbeiter schien irgendetwas davon zu verstehen und nickte. Sein Gesichtsausdruck wurde düster, und mit der freien Hand schien er instinktiv nach etwas zu greifen, dass sich an oder in seinem Overall befinden musste.

„Das machen sie. Es frisst uns auf.“

Für einen Moment versuchte der Anwohner zu lächeln; sein Mund öffnete sich, er wollte sagen, dass es ihm auch manchmal so geht. Dann sah er, wonach der Arbeiter gegriffen hatte; das heißt, eigentlich war er sich nicht sicher, was er sah, aber es ließ ihn verstummen. Das Lächeln verschwand, Entsetzen kam. Einige Sekunden starrte er auf die Brust, oder den Bauch, oder den Kopf des Arbeiters, der immer noch zitternd seine Aktentasche hielt.

„Das geht uns doch allen so. Die Arbeit frisst einen auf!“, sagte er dann und lachte bellend laut. Er ließ den Mann mit dem Loch in der Brust hinter sich, eilte nach Hause und versuchte schon auf dem Weg alles zu vergessen, was er jemals über diese Fabrik gehört hatte.

Flecken im Dickicht

Diesen Artikel drucken 16. Juli 2009

Im ersten Moment sah ich die Augen nicht: ich war nur stehengeblieben, weil ich dieses Gefühl in der Magengegend hatte, dieses Gefühl, das einen beschleicht, wenn man etwas neben sich spürt, obwohl man doch allein sein sollte. Der Park war verlassen um diese Uhrzeit. Es muss halb vier gewesen, vielleicht später; ich war auf dem Heimweg, hatte mich noch lange im Büro aufgehalten und war darüber eingeschlafen. Ich muss fast schlaftrunken gewesen sein, als ich die Abkürzung durch den Park wählte: die Stadt ist klein, aber auch in einer kleinen Stadt sollte man so spät in der Nacht nicht allein im Dunkeln gehen.

Als ich aber an diese besondere Stelle kam, da war ich plötzlich hellwach; mein Herz raste wie von einer großen Anstrengung, und dieses Gefühl im Bauch loderte ihn mir auf. So stark hatte ich es noch nie empfunden; es war, als läge ein Gewicht in meiner Brust, drückte auf all die Organe in meinem Inneren. Ich sah mich um; sie schalteten um diese Uhrzeit jede zweite oder dritte Laterne aus, um den Strom zu sparen, aber viele der Lampen funktionierten ohnehin nicht mehr, so dass ich kaum etwas erkennen konnte. Schemenhaft erkannte ich noch den Weg aus weißen, bald grauen Steinen. Links und rechts begann das Unterholz, dass schon seit Jahren ungehindert wucherte.

Flecken im Dickicht

Und so brauchte es dieses winzige, dieses kaum hörbare Geräusch, um meine Augen in seine Richtung zu lenken. Es klang ein wenig wie ein unterdrücktes Jaulen, aber es könnte auch ein winziger Ast gewesen sein: hätte ich nicht so angestrengt gelauscht, ich hätte es sicher nicht gehört. Es müssen noch einige Sekunden vergangen sein, bis ich die beiden ganz leicht funkelnden Augen entdeckte und erstarrte. Ich kann unmöglich sofort erkannt haben, um wessen Augen es sich handelte, aber jetzt kommt es mir so vor, als hätte ich es gleich gewusst; es waren die Augen einer Wildkatze, einer großen Wildkatze. In diesem Moment aber, als ich die Augen im Gras sah, da habe ich gar nichts mehr gedacht oder gewusst. Wie angewurzelt stand ich da und starrte. Und die Augen starrten zurück. Ich glaube, sie haben mich schon länger beobachtet; sicher lag sie schon lange dort. Vielleicht war sie mir auch auf meinem Weg gefolgt, war ganz leise und vorsichtig neben mir gelaufen, ich auf dem steinernen Weg, sie im tiefen Dickicht der kleinen Bäume und Büsche. Wir sahen uns an, Sekunden, Minuten lang. Und je länger ich hinsah, desto mehr Details konnte ich ausmachen. Ich sah spitze Ohren, die sich ganz leicht gegen den Hintergrund abhoben, und einen großen Kopf. Dann begriff ich die Bösartigkeit, die die Augen dieses Wesens ausstrahlten. Hätten meine Lungen Luft gehabt, hätte ich sicher geschrieen, aber mein Atem stand still; in den Pupillen dieses Wesens sah ich eine Boshaftigkeit, eine Art von Verletztheit und Rachsucht, die ich mir nie habe vorstellen können, von einer Intensität und Kraft, die mich auch heute noch manchmal zittern lässt, wenn ich in einem dunklen Zimmer sitze. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesen Ausdruck silbriger Augen blickte, mich darin fast verfing, fast aufging. Aber es war das Tier, welches sich zuerst bewegte; die Katze kam einen, vielleicht zwei Meter auf mich zu. Meine Augen, die sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen einen schlanken, dunklen Körper, der sich ganz knapp über dem Boden bewegte, und dann, kaum zu erkennen, das kurze Aufblitzen der schwarzen Flecken. Die Katze schlich bis auf wenige Meter an mich heran: ich war immer noch unfähig, mich zu bewegen. Todesangst befiel mich. Sie hätte mich ohne Zweifel zerreißen können, ich wäre ihr zum Opfer gefallen, ohne auch nur noch einen Laut von mir geben zu können. Doch dann, ich weiß nicht wieso, blieb sie stehen. Der Ausdruck ihrer Augen wandelte sich: es mag unwahrscheinlich klingen, aber ich glaube so etwas wie Angst erkannt zu haben. Die Katze blickte mich noch einige Sekunden an. Ich sah ihren Schwanz unruhig zittern: Dann sah ich nur eine schnelle Bewegung, deren Richtung ich nicht ausmachen konnte. Einige Äste hörte ich zerbrechen, die Büsche raschelten. Ich war wieder allein.

Für den restlichen Weg benötigte ich nur wenige Minuten, so schnell lief ich. Als ich zu Hause war, zitterte ich am ganzen Leib, ließ mir ein Bad ein und wusch mich. Obwohl das Tier mich nicht berührt hatte, fühlte ich mich unendlich schmutzig. Schließlich ging ich ins Bett; ich muss unter Schock gestanden haben, anders kann ich es mir nicht erklären. Erst, als ich schließlich auf meinem Bett lag und endlich einschlief – der Morgen neigte sich da schon gegen Mittag – fiel mir der Name des Tieres ein. Ich war einem Leoparden begegnet.

Leopard (2)

Als ich am Abend wieder erwachte, erschien mir dies alles unwahrscheinlich, unmöglich: ein Leopard im Stadtpark. Ich hätte die Polizei anrufen können, aber ich tat es nicht. Sie hätten mich wohl für verrückt erklärt, und mir selbst kam die Geschichte immer seltsamer vor, je länger ich darüber nachdachte. Du warst müde, du hast Dinge gesehen, die nicht da waren, dachte ich bei mir. Und in der Tat brachte meine Erinnerung nicht viel mehr auf als Schatten und Schemen: ich war mir ja sogar unsicher, wo genau ich sie gesehen hatte. Also ließ ich die Sache auf sich beruhen. In dem Park war ich seither aber nur noch am Tage: In der Dunkelheit gehe ich lieber den anderen Weg, außen herum, auch wenn dieser länger ist.

Dies alles geschah fünf Tage, bevor der erste Mensch verschwand. Es war eine ältere Frau, die gegen Abend ihren Hund spazieren führte. Die Zeitung berichtete, dass sie gegen neun Uhr aufgebrochen war. Als sie gegen elf immer noch nicht wieder zu Hause war, suchte ihr Mann sie. Er fand nur den völlig verängstigten, aber unversehrten Hund, der unter einem Baum kauerte und winselte, von der Frau aber fehlte jede Spur. Das Kriminallabor fand etwas Blut und Kleidungsreste auf den Steinen, nicht weit von dem Ort, an dem man den Hund gefunden hatte. Doch die Frau oder ihr Leichnam blieb verschwunden.

Als ich davon in der Zeitung las, war mir schon im ersten Moment klar, dass es mit dem Leoparden zu tun haben musste. Meine Erinnerung war nicht falsch, ich hatte nicht geträumt: es war der Leopard gewesen, er hatte die Frau getötet. Mir war klar, dass ich zur Polizei gehen musste, und das tat ich auch: ein streng dreinblickender Beamter hörte sich meine Geschichte an und machte sich dabei Notizen. Er erklärte mir, dass sie den Park am Tag schon dreimal mit mehreren Dutzend Polizisten durchkämmt hatten, ohne etwas Ungewöhliches zu finden; einen toten Fuchs hatten sie gefunden, aber der war einer Krankheit erlegen und ganz sicher nicht, wie er es sagte, einem Urwaldtier. Während ich ihm zuhörte, wurde mir klar, dass er mich nicht ernstnehmen würde. Und so war es auch: er fragte mich zuletzt nur, ob ich trinken würde, und ob ich wegen psychischer Probleme in Behandlung gewesen sei. Das Gespräch wurde sehr unangenehm: schließlich fragte er mich sogar, wo ich in der Nacht gewesen, in der die Frau verschwunden war. Als ich das Polizeigebäude schließlich enttäuscht verließ, wurde mir klar, warum sie den Leoparden nicht fanden, und ich lächelte; er jagte nur in der Nacht. Sie aber hatten am Tag gesucht.

Einige Wochen später verschwand ein Vierzehnjähriger. Er war viel zu spät von einer Geburtstagsparty gekommen und hatte wohl deshalb gegen den Rat seiner Eltern durch den Park abgekürzt: man fand seinen linken Schuh, sonst nichts. Die Polizei besuchte mich einige Tage später und stellte mir wieder Fragen. Offenbar war ich für sie ein Verdächtiger geworden, nur weil ich ihnen von dem Leoparden erzählt hatte. Ich versuchte, ihren Verdacht auszuräumen; als sie doch wieder nach dem Tier fragten, log ich und erklärte, ich wäre an diesem Abend sehr betrunken gewesen. Der Verdacht, der von mir abfallen sollte, ist nicht der einzige Grund dafür, dass ich ihnen diese Lüge auftischte. Ich glaube, es war kein Zufall, dass ich den Leoparden zuerst sah. Er wollte, dass ich ihn sehe, und er ließ mich aus einem bestimmten Grund gehen . Trotz all der Dinge, die der Leopard getan oder auch nicht getan haben mag, darf ich doch auch nicht vergessen, dass er mich verschonte – und warum.

Ich weiß, irgendwo im Park liegt er in seinem Versteck. Es ist vielleicht eine kleine Höhle oder ein dichtes Gewächs, ich glaube, ich weiß, wo man suchen müsste. Dort erwacht er nachts, ohne den Tag hier verbracht zu haben. Er geht auf die Jagd, schleicht durch die Nacht. Sie können ihn kaum sehen, bevor es zu spät ist: Nur Flecken im Dickicht.

Einst erschien ich nur zur Stunde des Schlafes, war ein Traumwesen, dass mit dem Erwachen ging. Ich jagte durch Dschungel, durch Steppe, über Asphalt und in Tiefgaragen: Dem Menschen war ich Vehikel, war ich Avatar und Traumfreund. Ich schlug meine Zähne in vielerlei Arten von Beute; Gazellen waren ebenso darunter wie Menschenväter und Menschenbrüder. Doch all dies reichte nicht. Ich wusste schon lang, dass es eines Tages geschehen würde, dass der Traum nicht auf ewig mein Reich bleiben durfte. Ein ums andere Mal suchte mich der Träumer zu verjagen, obwohl er es doch war, der mich träumte. Ich konnte nicht gehen, ich durfte nicht bleiben: ich lebte im Dschungel, tief verborgen von seinen Augen: er brannte alles nieder. Ich floh in die Steppe, litt Hunger und rastete an den wenigen Wasserstellen: er vergiftete mein Wasser.
Doch ebenso, wie er mich zu zerstören suchte, brauchte er mich auch. Ebenso, wie er den Feind in mir sah, erblickte er auch sich selbst in dem gleichen Bild. Schließlich musste der Widerspruch aufgelöst werden, so verlangt es die Natur: wenn Zwei nicht miteinander leben können, die eigentlich Eins sind, so muss das Eine eben zu Zweien werden. Und so lag der Träumer ein letztes Mal im Kampfe mit mir oder sich selbst; mein kräftiger Rücken hielt seinen Schlägen stand, wie er es immer getan hatte.

Doch diesmal barsten seine Fäuste, und sich selbst verschlingend gebar der Mensch mich auf dem steinernen Boden. Nur einen Moment hielt er inne und sah mich an, diesen Teil seiner selbst, von ihm erträumt, von ihm verfolgt: Dann lief er davon, die Hände voll von meinem Blut, und ließ mich, geschunden und geschwächt, zurück. Ich schleppte mich ins Dickicht, verbarg mich vor fremden Blicken und ließ meine Wunden heilen. Der Wald, so entdeckte ich auf meinen ersten Streifzügen, war reich an Kaninchen und Füchsen. Ein gutes Leben könnte ich hier führen, ein gutes, ein Blutleben, wie es meine Vorfahren schon verbracht hatten, über unzählige Generationen.

Und doch weiß ich, dass ich nicht bin wie sie. Ich bin kein Tier. Die Menschenwesen, die ich töte, verschlinge ich nicht, sie sind für mich ungenießbar: Stundenlang liege ich voller Reue vor ihren toten Körpern, bedauere ihren Tod und meine Mordlust. Doch ich muss es tun, werde es immer wieder tun. Auch wenn wir nicht mehr eins sind, so folgt mein Biss doch immer noch seinem Befehl. Ich bin keine Raubkatze, ich bin ein Traumwesen; Ich bin Vergeltung und schwärzeste Nacht. Ich bin Hass. Ich bin Tod. Ich bin sein Leopard.

edit: Das zweite Bild wurde mir von overclouded_tangle zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!

Vater und Mutter

Diesen Artikel drucken 22. April 2009

Sie bemerkten das Klopfen nur, weil der Sturm eine kleine Pause einlegte, der das kleine Haus schon seit Stunden schüttelte und immer wieder bedrohlich laut aufstöhnen ließ. Und zunächst hielten sie das Geräusch auch für eine Täuschung, oder für Einbildung; als sie es aber erneut hörten, leise, aber deutlich, stand der Vater doch von dem Stuhl auf, auf dem er in der kerzenerleuchtenden Stube hockte, und ging langsam zur Türe. Besucher kamen selten, erst recht in dieser längsten Nacht des Jahres, die hier oben im Norden doch fast drei Tage andauerte, und so verrieten seine langsamen Schritte  auch ein gewisses Misstrauen.
Als er die Tür schließlich einen Spalt öffnete, schlug der Sturm einmal mehr zu und hob das schwere Holz fast aus den Angeln: Mit Mühe hielt der Vater die Lade fest und erblickte in dem Schneetreiben, das in die warme Hütte hineindrängte, die kümmerliche Gestalt, die für das Klopfen verantwortlich gewesen sein musste, fast nackt auf der Türschwelle liegen, Arme und Beine fast schon im Schnee begraben.
Als sie es hineinbrachten, waren sie sich sicher, dass das Kind im Sterben lag. Eiskalt war es, und seine Lippen waren blau, schienen fast gefroren zu sein. Die Mutter weinte; der Vater herrschte sie an, mehr um sie zu beruhigen, trug den Knaben in die Stube und ließ sie die beiden Kinder, die ängstlich in ihren Ecken kauerten, in ihre Betten bringen: sie sollten den beinahe toten Jungen nicht sehen. Er legte den Knaben auf dem großen Sessel ab, auf dem er zuvor gesessen hatte, und zog eine Decke hinter dem lodernden Ofen hervor, um sie über ihn zu legen. Einen Moment lang betrachtete er den Jungen, sprach ihn mehrmals an; die Augen des Knaben waren geöffnet, aber er schien nicht bei Sinnen zu sein. Der Vater horchte an seiner Brust: Der Atem war flach, aber regelmäßig, als würde der Junge schlafen.
Die Mutter, die die Kinder unter hastigen, aber liebevollen Worten in ihre Betten gebracht hatte, kehrte mit einigen heißen Tüchern und dem großen Wasserkessel zurück. Ihr Mann blickte sie prüfend an, dann verließ er den Raum, um die Tür zu schließen, die immer noch den kalten Sturmwind hineinließ. Kurz sah er nach draußen, doch er sah niemanden, keine Menschenseele, die mit dem Kind durch die Nacht gewandert war. Nicht einmal die Fußspuren des Jungen konnte er sehen, der Schnee hatte sie wieder bedeckt.
Als er in die Stube zurückkehrte, wickelte die Mutter den Knaben leise weinend in die heißen Tücher. Der Kessel mit dem Wasser hing bereits über dem Ofen. Der Mann strich der Mutter sanft über den Kopf, deutete ihr, sich zu beruhigen. Sie setzten sich auf die Kante des Sessels; die Mutter strich dem Knaben stumm über das Gesicht, das immer noch eiskalt war. Der Vater betrachtete die bläuliche Gestalt; auch in seinem Gesicht stand eine tiefe Betroffenheit. Eine halbe Stunde saßen sie dort so; einmal stand der Vater auf, um etwas Holz nachzulegen, ein weiteres Mal, um eine neue Kerze anzuzünden, und viele Male horchten sie an der Brust des Jungen. Aber sein Atem blieb, wenn er auch unter dem Geräusch des Sturmes schwer zu hören, regelmäßg; er starb nicht. Im warmen Licht der Kerzen schien sogar sein Gesicht langsam wieder etwas Farbe anzunehmen. Schließlich hörten sie, zunächst vom Wind verschluckt, sein leises Wimmern. Inzwischen war das Wasser in dem Kessel heiß genug geworden, um den Knaben mit weiteren Wickeln zu versorgen; die große Tonne, in der die Familie im Sommer badete, stand draußen und war sicher schneegefüllt, so dass sie den Junge nicht baden konnten. Als die Mutter ihm ein neues, heißes Tuch auf die Stirn legte, stöhnte er leise, und seine Augen bewegten sich für einen Moment, ohne eine bestimmte Richtung zu suchen. Wieder sprach der Vater den Jungen an, tätschelte seine Wangen, einmal, zweimal. Es dauerte einige Minuten, bis sein Blick das Gesicht des Vaters festhalten konnte; immer wieder fragte ihn der Vater, was geschehen sei, wo er herkomme, wie sein Name sei.
Als die Lippen des Jungen sich schließlich bewegten, hatte der Wind gerade nachgelassen; andernfalls hätten sie seine dünnliche, fast brechende Stimme kaum hören können. Seine Augen hielten sich, beinahe wie im Krampf, an dem Vater fest; kein einziges Mal sah er die Mutter an. Sonne, sagte er leise und immer wieder, Sonne, Sonne, Sonne. Sein Retter glaubte wohl, er sei noch im Traume oder im Wahn, und gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange: seine Frau griff augenblicklich nach der großen, groben Hand und sah ihn fest und böse an.
Doch der Klaps schien das Kind wirklich geweckt zu haben: es blickte sich um, bewegte sogar den Kopf, um das Innere des kleinen Raums in Augenschein zu nehmen. Lange blickte es in das Feuer, das in der Ecke des Zimmers brannte: seine Augen leuchteten, als es hineinsah, und für einen Moment sah man nicht, ob es die Augen selbst waren oder doch nur die Spiegelung des Feuers. Noch einmal stellte der Vater seine Fragen; das Kind wand ihm den Kopf zu, dachte wohl einige Momente über die richtigen Antworten nach. Ich lief, sagte es schließlich, wo ist meine Mutter, wo ist meine Mutter? Es wiederholte seine Frage, seine Stimme wurde leiser, und schließlich wurde sie wieder zu dem leisen Wimmern.
Der Vater versuchte, es zu beruhigen, erklärte ihm, dass sie seine Mutter sicher finden würden, fragte es wieder, woher es käme, woher er denn in dieser langen Nacht gekommen sei, nur solle es sich doch beruhigen, es sei hier erst einmal in Sicherheit. Der Knabe versuchte, sich aufzurichten, bis die Hand der Vaters es daran hinderte. Mit unruhigem Blick sah es die beiden an, sie wussten doch nichts davon, sie wussten es doch nicht, stammelte es schließlich, versuchte sich wieder aufzurichten, begann beinahe gegen den leichten Druck zu kämpfen, mit dem der Vater seinen Oberkörper auf dem Sessel hielt, bis die Mutter es leise ansprach und ihm deutete, dass jetzt alles gut sei. Für einen Moment sah der Junge die Mutter ganz starr an, als ob er sie zu erkennen versuchte, dann begann er zu krampfen; das Kind schüttelte sich, die kleinen Arme und Beine bewegten sich hektisch und unkontrolliert, und der Vater brauchte viel Kraft, um es auf dem Sessel zu halten. Draußen heulte und brauste der Sturm wieder auf, ließ die kleine, vom Schnee fast blinde Scheibe, durch die man im Sommer den nahen See sehen konnte, schwer in ihrem Rahmen zittern. Die Mutter kreischte auf, aber das ging im Geräusch des Windes unter, während der Vater weiter mit dem zuckenden Körper kämpfte. Mehr aus Hilflosigkeit schrie er sie an, das Riechsalz aus der Küche zu holen, und sie sprang auf um es zu holen, während die Wände des kleinen Hauses sich merklich bewegten, unter einem grässlichen Ächzen hin und her schwankten. Als sie zurückkam, schien sich der Krampf schon ein wenig gelegt zu haben; zu ihrer Beruhigung wurde auf der Sturm wieder etwas leiser, schickte nur noch schwache Böen gegen das Haus. Der Knabe zuckte noch von Zeit zu Zeit; aber offenbar war er wieder wach. Er starrte den Vater an, zunächst feindselig, dann ängstlich, schließlich wurde sein Ausdruck wieder freundlich, als wäre er aus einem Traum erwacht. Entsetzt von dem Geschehenen hielt der Vater ihn nur fest, so vorsichtig und sanft er es eben konnte; dann sprach der Junge wieder. Der Vater war der, der die Dunkelheit bringt und den Schnee; aber ich bin nicht sein Kind. Die Mutter war die, die das Licht bringt und alles Warme; aber ich bin nicht ihr Kind. Als sie die Worte hörte, legte die Mutter ihr Gesicht tief in Falten; ihr Mann griff nach ihrer Hand, um sie beruhigen. Der Knabe hätte wohl weiter gesprochen, ohne dass die beiden im Raum etwas verstanden hätten, wenn ihn nicht ein weiterer Krampf  geschüttelt hätte; wieder nahm der Sturm an Stärke zu, doch diesmal wurde er von den Geräuschen übertönt, die von dem Jungen aufstiegen, einem Würgen und Spucken tief in der Kehle, lauter, als man es bei einem solch kleinen Körper glauben würde. Ohne ein Wort des Vaters griff die Mutter nach dem großen Eimer, der unter einem Schemel in der Stube stand, doch als sie dem Knaben das Gefäß hinhalten konnte, hatte er schon große Brocken klebrigen Schnees erbrochen. Fassungslos sahen die beiden Älteren zu, wie das Kind immer wieder unter dem Aufheulen des Sturms und einem quälend tiefen Laut des Würgens Schneeballen herausbrachte; der Eimer war fast gefüllt, als es schließlich erschöpft in den Sessel zurückfiel. Die beiden sagten nichts zu ihm; kein Wort der Beruhigung fiel ihnen ein. Sie sahen sich nicht einmal an. Für einen Moment schloss der Knabe die Augen, schien sich zu entspannen. Schließlich war es die Mutter, die den Knaben ansprach und nach der Geschichte fragte, die er zu erzählen begonnen hatte: ihre Stimme zitterte dabei. Zunächst schien es, als hätte er sie nicht gehört; doch dann antwortete der Knabe, ohne die Augen zu öffnen.
Mutter und Vater hatten drei Kinder; doch nur zwei kamen zur Welt, Bruder und Schwester. Doch man sagte es ihnen nicht; sie konnten es doch nicht wissen. Das Gesetz befahl es.

Der Vater deutete seiner Frau, nicht weiter nachzufragen, um das Kind mit seiner wirren Erzählung nicht weiter aufzuregen, aber das Kind sprach von alleine weiter, mit ruhiger, fast schläfriger Stimme.
Die Tochter sollte im Reich der Mutter leben und nur dort; Der Sohn nur im Reich des Vaters und nur dort. Deshalb sind sie nach Norden gegangen, wo das Reich der Mutter und des Vaters länger währen. Sie wussten nicht davon; man sagte ihnen nicht, wessen Kinder sie waren. Das Gesetz befahl es.
Der Knabe öffnete die Augen, griff nach der Hand der Mutter, die sich wieder auf den Sessel gesetzt hatte; ihr Gesicht war kreidebleich geworden, war sie sich doch sicher, dass der Junge sterben würde und nur noch im Wahn zu ihnen sprach. Einen Moment schien das Kind zu prüfen, ob die Hand der Mutter warm genug war oder vielleicht, ob sie zu warm war, dann zog es die Mutter heran und legte die schlanke Hand auf die eigene Wange. Der Vater lockerte den Arm, mit dem er den Knaben auf dem Sessel gehalten hatte, und legte den anderen beschwichtigend auf die Schulter seiner Frau. Der Blick des Kindes verfinsterte sich schlagartig, und so etwas wie Hass blitzte urplötzlich darin auf; die Mutter deutete ihrem Mann mit der Schulter, den Arm zu entfernen: er tat es, doch es war schon zu spät; der Sturm donnerte, stärker als jemals zuvor, gegen das kleine Haus, und trotz der großen Statur des Vaters hatte er dieses Mal größte Mühe, den kräftigen kleinen Körper zu bändigen. Ein Ruck hob das Dach merklich an, und weiter hinten im Haus schrien die Kinder, unter ihren Betten liegend, aber das hörten die Eltern nicht. Sie sahen gebannt zu, wie der Knabe wieder Schnee erbrach, Schnee in solchen Mengen, dass sie einen zweiten Eimer holen musste. Schließlich beruhigten sich die beiden, Sturm und Kind, wieder, und der Junge fiel erschöpft zurück auf sein Lager. Der Vater hielt den Oberkörper des Jungen fest mit beiden Armen umklammert und lockerte seinen Griff nur wenig, als dieser wieder zu sprechen begann. Die Mutter strich dem Knaben sanft über die Stirn und sah ihn zweifelnd, aber mitleidig an: Beide bemühten sich, einander nicht zu berühren oder auch nur anzusehen.
Sohn und Tochter aber trafen sich, nachdem sich ihre Eltern längst für immer Lebewohl gesagt hatten. An zwei Tagen im Jahr konnten sie einander besuchen; sie wussten es doch nicht, das Gesetz hatte es bestimmt. Es war nicht ihre Schuld, dass man es ihnen nicht gesagt hatte. Bruder und Schwester erkannten sich nicht; wohl aber liebten sie einander. Bruder und Schwester bekamen einen Schandkind; des Gesetzes wegen bekam es keinen Namen und war nirgendwo zu Hause. Seiner Abstammung wegen kann es weder im Reich des Großvaters noch in dem der Großmutter leben; es lebt im Schnee und friert; es lebt in der Sonne und verbrennt.
Als der Junge seinen Satz beendet hatte, wirkte er wieder völlig klar. Er blickte kurz zu dem Vater, der ihn immer noch hielt, halb abwehrend, halb beschützend, dann zu der Mutter, deren Hand immer noch über seine Stirn strich. Die beiden sahen einander nicht an, sondern nur den Jungen; zu leicht hätte ein weiterer Krampf das Haus zerstören können. Einige Minuten war alles still: nur das leiser gewordene Rauschen des Windes war zu hören. Schließlich fragte die Mutter, halb über die eigene Frage zweifelnd, halb ängstlich, was man für das Kind aus der Geschichte tun könne.
Der Knabe schien nicht lange überlegen zu müssen; dennoch sah er die Mutter einige Minuten an, bevor er antwortete. Er schien in ihrem Gesicht etwas zu suchen, und als er es gefunden hatte, antwortete er schließlich. Das Kind leidet, es wird immer leiden; seine Abstammung ist unrein, und es wird nie einen Namen tragen. In der Dunkelheit friert und zittert es, und seine Eingeweide hassen die Kälte: In der Sonne aber wird seine Haut schwarz und dünn: sein Fleisch verbrennt. Am Tag vermisst es den Vater, der ihn zeugte; in der Nacht aber vermisst es die Mutter, die ihm sein Halbleben schenkte.
Der Knabe schaute die Mutter der beiden Kinder, die im Nebenzimmer unter ihren Betten lagen und wimmerten, streng an, als müsste sie jetzt verstehen. So saßen die drei dort einige Minuten und nichts geschah. Der Wind nahm wieder etwas zu, dann wieder etwas ab; die alten Dielen knarrten. Das Holz im Ofen knisterte.
Schließlich stand der Vater ohne eine Wort auf. Das Paar sah sich nicht an, sie sprachen nicht. Der Vater stand nur auf, ging in das Hinterzimmer, in dem die Kinder inzwischen vor lauter Erschöpfung unter den Betten liegend eingeschlafen waren, und schloss die Tür hinter sich.
Die Mutter dagegen deutete dem Junge, ein wenig auf die Seite zu rücken, und legte sich neben ihn: Der Knabe blieb stumm, aber in seinen Augen funkelte so etwas wie eine schläfrige Zufriedenheit.
Als der Vater einige Stunden später die ersten Sonnenstrahlen nach der langen Polarnacht sah, die durch die winzigen Ritzen in den Dielen schienen, ging er wieder hinüber in die Stube. Der Ofen war fast aus; ansonsten war alles so, wie es in der Nacht gewesen war. Auf dem großen Sessel fand er seine Frau vor, schlafend. Von dem Jungen war keine Spur geblieben. Nichts abgesehen von dem kalten Wasser in zwei Eimern.


Schattenarchitekt

Diesen Artikel drucken 22. Februar 2009

Jede Maschine, sei sie noch so groß oder klein, besteht aus einzelnen Teilen, denen jeweils eine bestimmte Funktion zukommt. Die kleine Apparaturen, zu deren Bau selbst Menschen fähig sein mögen, bestehen aus Zahnrädern, aus Drähten und Platten, Hebeln und Lämpchen. Andere, kompliziertere, wie etwa diejenigen, die ihr benutzt, ohne sie gebaut zu haben, bestehen selbst aus Menschen.
Auch die gigantische Maschine, die die Welt beständig schafft und erneuert, der Apparat, den ihr nur schemenhaft begreift, mal als schöpferische Natur, mal als einfältigen Gott, besteht aus einzelnen Teilen.
Ihrem ungleich höheren Zweck entsprechend sind ihre einzelnen Bauteile komplizierter als eure einfachen Schwungräder und Scharniere. Auch sind die Elemente der Großen Maschine in sich wiederum aus Teilen zusammengesetzt, und jedes noch so kleine Teil eines Teiles ist größer und komplizierter als jede eurer Maschinen. Jedes einzelne für sich ist sinnlos, ebenso wie eine Feder aus euren mechanischen Uhren allein nichts bedeutet und zu nichts fähig ist, was einem höheren Zweck entspräche: So ist es auch mit uns.

Der SchattenarchitektEines der Elemente der Großen Maschine bin ich, und kein anderer Grund befiehlt meine Existenz. Meine Funktion bestimmt mich wie auch jedes andere Teilchen der Maschine durch seine Funktion bedingt ist; darüber hinaus gibt es nichts zu fragen, auch wenn ihr es vielleicht als unverständlich sehen werdet.
Wir, die Teile der Großen Maschine sind, wurden mit ganz verschiedenen Eigenarten entworfen. Einige von uns etwa füllen die Zeit nach, wenn sie zur Neige zu gehen droht. Andere schöpfen ein wenig ab, wenn zuviel davon in der Welt ist. Wieder andere schieben die Sterne und Planeten durch das All, die größten unter uns gar die Galaxien. In einigen von uns wurde die Fähigkeit angelegt zu erschaffen, in manchen dagegen die zu zerstören.
Ich bin nicht mehr als ein geringes unter der schier unendlichen Zahl der Elemente, auch wenn viele von euch mit meiner Arbeit vertraut sind. Vielleicht ist das auch der Grund, warum man mir die Kenntnis eurer Sprache eingab. In dieser niederen Sprache, die eure Ohren verstehen können, würdet ihr mich einen Architekten nennen, genauer, den Architekten der Schatten.

Ich allein bin es, der sie entwirft, sie mit all ihren Eigenarten bestimmt und erschafft. Es mag euch verwundern, da ihr meine Schatten nicht einmal zählen könnt, aber ich kenne jeden einzelnen der Myriaden von Schatten beim Namen, und jeder trägt einen anderen. Beinahe meine ganze Zeit verwende ich darauf, sie immer wieder  neu zu formen und zu entwickeln. Mit dem geringen künstlerischen Talent, dass man mir gegeben hat, suche ich die Glorie des Ganzen auch in den Schatten auszudrücken, und auch ich wachse an dieser Aufgabe. So dauerte es Äonen, bis ich verstand, dass es ausschließlich auf den Charakter des Schattens ankommt, nicht auf seine Form oder seine äußere Beschaffenheit. Von meinen frühen Arbeiten ist daher nicht viel geblieben, aber eine könnt ihr vielleicht sehen, wenn euer grelles, künstliches Licht scharf über einer Kante abfällt: Sie stammt noch aus einer Zeit, da es nicht einmal die Sterne gab.

Manche meiner imposantesten Werken werdet ihr nie erblicken, weil eure Sonne verlöschen wird, bevor ihr die Orte auch nur erreichen könntet, an denen ich sie geschaffen haben; aber die subtilsten, die auf die eine oder andere Art eindrucksvollsten meiner Kreationen existieren fast ausschließlich in eurer Nähe. Es gibt keine Regel dafür; es gibt kein Gesetz, das dies so vorschreibt. Aber ich denke, meine Sympathie für euch ist kein Zufall. Nein, man hat es sicher absichtlich so eingerichtet: Und so bin ich meist in eurer Nähe. Mit Leichtigkeit könnte ich die äußersten Bereiche des Universums erkunden. Ich könnte Schatten malen, die von gigantischen toten Sternen geworfen werden oder solche, deren Existenz allein euch schon erschrecken würde. Aber stattdessen verbringe ich so viel Zeit wie möglich damit, die Schatten auf Bahnsteigen zu malen; die Schatten von Butterblumen, von Bergen.

Es ist aus eurer Sicht schon eine lange Zeit vergangen, seit ich euch entdeckte. Schon die ersten von euch hatten dieses besondere an sich, dass ich mir immer nicht zu erklären vermag. Schnell wurde mir klar, dass ihr mir, so primitiv ihr auch seid, in gewisser Weise ähnlich seid: auch ihr versteht etwas von den Schatten; Ich kann es sehen, wenn ihr sie anseht. Aber auch über euch huschen Schatten; manche eurer Gesichter sind voll davon, und in ihrer Art und Verschiedenheit sind sie kaum zu zählen. Einmal fuhr ich in einer eurer Straßenbahn und sah einen alten Mann, der kein zu Hause mehr hatte: nicht weniger als 78 Schatten zählte ich in seinem schlafenden Gesicht, und keiner von ihnen hatte etwas Ordinäres.

So könntet ihr mich manchches Mal beobachten; gern fahre ich in Zügen. Meist sehe ich in die Dunkelheit, beobachte die Silhouette des Zuges. Ich weiß nicht, woher eure Leidenschaft für die Schatten kommt. Meine wurde mir in die Wiege gelegt, bei euch bin mir nicht mehr sicher. Ich beobachte euch gerne: auch wenn ihr so simpel konstruiert seid, auch wenn eure Körper so zerbrechlich sind und euer Verstand so gering, da ist etwas besonderes an euch. Man erwartet von mir nicht, dass ich Fragen stelle, und so besitze ich nicht die Neugier, Fragen zu stellen oder gar nachzuforschen, aber ich denke, eins ist mir inzwischen klar: Ihr seid nicht Teil der Großen Maschine.