Der Richter
Sanftes Atmen und Arme, die in seinen lagen.
Ein kühler Mond schien durch die Fenster hinein, klein und sichelförmig, schnitt einen karg eingerichteten Raum aus der Dunkelheit, Bilder an den Wänden, unkenntlich im fahlen Dämmerlicht, Gesicht darauf, vielleicht auch andere Motive, im Dunkel versteckt.
Noch vor einigen Minuten hatte es geregnet, ein unsichtbarer Regenvorhang hatte vor den kleinen Fenstern gehangen, nur ein leises Trommeln auf dem Fenstersims, Wassertropfen, die auf das Flachdach schlugen und in kleinen Rinnsalen dem Boden entgegen flossen.
Wasser, dachte er und sah auf den Menschen in seinen Armen, Wasser, sein Geist floh einen Moment lang aus dem kleinen, kargen Raum, ließ das Mondlicht weit hinter sich und nahm nur das sanfte Atmen mit, Wasser, Badewannen, Duschvorhänge, kleine Wasserperlen, die eine Glaswand hinunter rannen, einem Versprechen gleich, der beständige Schwur eines rauschenden Wasserfalls.
Er hatte auch früher schon oft darüber nachgedacht, warum Wasser so ein machtvolles Symbol war, er dachte wieder an die unzähligen alten Kulturen, von denen er als Kind gelesen hatte, Wasser war immer wichtig für sie gewesen, überlebenswichtig, und so war es Teil ihrer Mythen und Legenden geworden, mal als Schöpfer, mal als Symbol der Fruchtbarkeit, ihre Abhängigkeit vom Wasser hatte sich tief mit ihren Träumen und Wünschen verbunden, ja, das war rational, wenn es auch sicher mehr war, was hinter diesem Symbol steckte.
Oft hatte er mit Freunden darüber gesprochen, mit anderen Richtern, mit Anwälten, doch die eigentliche Tragweite war ihm doch erst vor einiger Zeit bewusst geworden.
Er fand sich in dem engen Zimmer wieder, der Regen hatte wieder begonnen, leise zwar, aber er konnte ihn hören, wenn er sich konzentrierte, nur ein leises Flüstern über den Dächern.
Sein Blick richtete sich auf das Gesicht neben sich, versuchte trotz der Dunkelheit das Vertraute darin zu erkennen, es gelang ihm, sein Geist malte, was seine Augen nicht mehr auffinden konnten, ein friedvolles, fast lächelndes Gesicht, ruhig schlafend.
Vergebung, darum ging es hier eigentlich, immer und immer wieder, er fand es nicht mehr zynisch, dass ausgerechnet ein Richter dies erkannte, es ging immer um Vergebung, das meinten die Leute, wenn sie von der Liebe sprachen, sie meinten vor allem Vergebung, Vergebung.
Und das war es auch, was Wasser über das Rationale hinaus mächtig machte, das Versprechen der Vergebung, er dachte wieder an die Tropfen auf der Fensterscheibe, ihr schweigendes Versprechen, „alles kehrt zu seinem Ursprung zurück“, sprachen sie still auf ihrem eigenen Weg zurück zur Quelle, „egal, wer du bist, was du tust oder wie du bist, am Ende wirst du genauso rein und klar zu deiner Quelle zurückkehren wie wir zu unserer“, sagten sie jedem, der ihnen zuhörte, ganz ruhig und einfach, fast mit ihrer Stimme. Er sah wieder hinab zu dem unsichtbaren Gesicht.
Und so war es vielleicht auch kein Zufall, dass die Menschen sich immer noch in Wasser badeten und sich reinigten, auch dahinter lag dieses, eben dieses Versprechen von einer Rückkehr in die Un-Schuld, der Reinigung von Schuld und Zweifel, er dachte an diese kleinen, aber gewissen Zufälle, das Leben selbst war aus dem Wasser gekommen, der Mensch begann sein Leben im Fruchtwasser, Gemeinsamkeit alles irdischen Lebens war das Wasser.
Schon lang hätte der Mensch es zu großen Teilen ersetzen können, durch Tinkturen und Chemikalien, ätzende Flüssigkeiten und wohlriechende Mixturen, man hatte es nie auch nur ernsthaft erwogen, auch das war einer dieser Zufälle, an die er nicht glaubte. Nein, es waren keine Zufälle, für ihn steckte diese vielleicht gar universelle Erinnerung an Unschuld dahinter.
Natürlich war diese leise Erinnerung, dieses leise Versprechen, niemals mächtig genug, den Menschen zu befreien, zu schwer wog das In-die-Welt-geworfen-Sein, das auch schon die Bibel meinte, wenn sie von Erbsünde sprach.
Es war keine im eigentlichen Sinne vererbte Schuld, die sich da auf jedes noch so junge Menschlein übertrug, es war nur das Vergehen zu Sein, die Radikalität der Existenz selbst, die ihn immer schuldig schienen ließ, es war der Widerspruch zwischen seinen Ansprüchen und einer Welt, die für das Leben weder wohlgeschaffen noch ihm wohlgesonnen war. Einer Welt, die ständig von ihm forderte, mehr und mehr forderte, bis das Leben schließlich endete und sie ungerührt fort fuhr mit dem, was ihr scheinbar gerecht schien.
Das war es auch, was diese ewigen Menschheitsfragen ins Rollen brachte, vom kindlichen „Warum ist die Welt so?“ über „Warum gibt es Tod und Leid?“ und „Warum sind wir hier?“ schließlich unweigerlich bis hin zu „Was haben wir getan, in dieser Welt zu sein?“, es steckte eine simple Verkettung dahinter, eines führte zum anderen.
Er lächelte genauso unsichtbar wie das Gesicht neben ihm, es war ironisch, natürlich war es ironisch, natürlich erhoben sich diese Fragen nur aus dem Verhalten eines Wesens, das sich immer selbst als das Zentrum der Dinge begriff und dessen Egozentrik offensichtlich immer und immer wieder in die Vorstellung gipfelte, dass dieser radikale Widerstreit zwischen Welt und Subjekt eine Art Strafe sein müsse, eine Strafe für ein Vergehen, an das niemand eine klare Erinnerung besaß noch eine genauere Erklärung zu liefern wusste.
Doch trotz aller Ironie darin, die schon viele Philosophen gesehen hatten, vielleicht war es tatsächlich eine Strafe, vielleicht auch nicht, an sich war es nicht wichtig. Das Gefühl der Schuld hatte sich in jedem Fall tief eingegraben in die menschliche Seele, ein verstecktes, stets schemenhaft bleibendes Gefühl, das auf keinen so einfachen Freispruch hoffen konnte wie ein weltliches Verbrechen, man konnte auch keine Buße tun, das Leben schien Buße zu sein, der Mensch schien in sein Gefängnis hineingeboren mit einem Schrei, um es mit einem Schrei, leiser und älter, wieder zu verlassen.
Und doch gab es da dieses Versprechen und dieses vage Sich-Erinnern, dass es nicht immer so gewesen sein konnte, die gleiche, wenn auch ungleich schwächere Erinnerung wie die der kleinen Wassertropfen, die immer noch an den Fenstern hinab rannen.
Und genau dies suchte der Mensch im Anderen, die Bestärkung eben dieses Versprechens, eben dieses Aufgeben und Vergeben des eigenen Seins: Vergebung nicht für Taten, nicht für Eigenschaften, Vergebung so allgemein wie die Berge, so trivial wie die Wellen.
Es widersprach gänzlich der Welt und der ihr inhärenten Vorstellungen, es gehorchte nicht den Prinzipien ihrer Ordnung und so blieb dieses Versprechen, diese Vergebung oft von den Menschen unerkannt, denn die meisten richteten ihre Horizonte nur nach denen des Lebens aus und verteilten leere und nutzlose Worte für das, was sie nicht verstehen oder erklären konnten; Sicher war eines dieser Worte Liebe, aber Dutzende Philosophen hatten ähnliche Worthülsen geschaffen.
Nur wenige Menschen hatten vielleicht im Ganzen erkannt, wie mächtig diese Vergebung war, vielleicht gar mächtiger als der Tod selbst, er wusste es nicht. Viele religiöse Menschen schienen unter diesen wenigen gewesen zu sein, Religionsstifter vielleicht gar, aber oft schien der wahre Sinn hinter ihren Worten ungehört und ihre Erkenntnis ungeteilt, ihre Schriften wurden wieder nur zu leeren Hülsen, falschen Hoffnungen und unverstandenen Offenbarungen. Dennoch, trotz des Unverständnisses begegnete den meisten auf ihrem Weg durch die Welt dieses Versprechen, in zunächst anderer Gestalt, für die die Gesellschaft zunächst Namen und dann auch Konstrukte und Institutionen geschaffen hatte, manchmal gar bis zum Ende unerkannt, so schien es ihm zumindest.
Auch er hatte es erst vor kurzer Zeit verstanden, es war ein knapper, fast inhaltsloser Satz gewesen, der dieses Koan für ihn gelöst hatte, er erinnerte sich noch gut daran, er hatte wie auch jetzt hier gelegen und über ein Urteil nachgedacht, über ein sehr schweres Urteil und eine noch schwerere Entscheidung, die er, nur er zu treffen hatte. Lang hatte er so gelegen, nachgedacht, gegrübelt, und ein wohlbekanntes, aber diffuses Gefühl hatte sich in seine Gedanken gemischt, solch ein Gefühl, wie es den Menschen gern zu solcher Stunde ergreift, und in sein Hadern mit dem Schicksal eines fremden Mannes hatte sich das Hadern mit der eigenen Existenz gedrängt, eben diese unaufhebbare Verzweiflung um die Endlichkeit des Lebens und die scheinbare Endlosigkeit des Leidens.
Schließlich hatte es begonnen zu regnen, immer stärker, das Trommeln auf dem Dach war zu einem Stakkato geworden, viel lauter als in der heutigen Nacht.
Der Regen hatte sie sanft aus ihrem Schlaf geholt, nach dem sie schon einige Stunden ruhig atmend neben ihm gelegen hatte, er hatte bemüht still gelegen, um sie mit seinen Grübeleien nicht zu wecken, dennoch, er erinnerte sich genau. Sie hatte sich umgedreht, ihn durch die Dunkelheit angesehen, einige Sekunden lang. Dann hatte sie ihm gedeutet, ruhig zu sein, wie einem kleinen Jungen, ganz sanft, mit einer sachten Geste.
„Keine Sorge, und schlafe jetzt.“, hatte sie nur gesagt, nur das, dann war sie wieder eingeschlafen, vermutlich erinnerte sie sich nicht einmal daran. Er dagegen hörte immer noch den Klang der Stimme, er hatte ihn noch in den Ohren gehabt, als er bald darauf seine Augen geschlossen hatte in jener Nacht. Und er dachte immer noch an ihn, als er auch in dieser Nacht einschlief. Er war ein bisschen wie das fließende Versprechen der unzähligen Wassertropfen, die die Scheiben des kleinen Zimmers hinabrannen.
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