Richtungswechel (2) Diesen Artikel drucken

Der Tisch leerte sich, ein Automatismus. Fast ein Automat, der ihn abräumte, in einer präzisen Reihenfolge und ihr dabei Zeit ließ, Zeit zum Nachdenken, vielleicht sogar ein wenig zu viel Zeit.
Sie musste noch Milch kaufen, das hatte sie sich sofort auf einen der gelben Zettel geschrieben, die er ihr gekauft und auf die Kommode gelegt hatte, sie musste daran denken, er sollte sich nicht aufregen, die Unerbittlichkeit in seinen Augen kam ihr wieder in den Sinn, er sollte sich nicht aufregen.
Früher war er einmal ganz anders gewesen, nicht so pedantisch, nicht so organisiert, sie erinnerte sich an eine Reise in den Süden, viele Jahre waren seitdem vergangen, damals war er noch nicht so ‚präzise‘ gewesen, wie er es immer ausdrückte, mit ein wenig Abscheu in seiner monotonen Stimme, damals hatte er diesen Tonfall noch nicht besessen.
Der letzte Teller verschwand wieder im Schrank, dann blickte sie stumm die weißen Wände an, wie sie es häufig tat. Vor diesen vielen Jahren hatten sie auch noch nicht so gewohnt, so funktionell, so karg, sie hasste diese weißen Wände, ein abwesendes Lächeln rann über ihr Gesicht, ihre erste gemeinsame Wohnung war bunt gewesen, kitschig und ganz bunt, sie hatte die Einrichtung gewählt, und sie beide hatten dort einige Jahre gelebt, glücklich in dem kleinen Rahmen, den sich die meisten Menschen wünschten, oft hatten sie auch Freunde eingeladen, sie lächelte wieder und blickte durch das Grinsen an den Wänden hindurch.
Das war lange her, und er hatte sich verändert, viele Menschen hatten nicht verstanden, warum sie noch zu ihm hielt, hatten sie damit geradezu bedrängt.
Menschen veränderten sich nun einmal, hatte sie immer darauf erwidert, er bliebe immer noch ihr Mann, das war ihre Antwort gewesen, sie betrachtete das heute weder mit Stolz noch mit Reue, es war nun einmal die richtige Antwort gewesen, sie würde zu ihm halten, er war ihr Mann.
Viele hatten sich mit der Zeit von ihr abgewandt, hatten ihn als Tyrannen erlebt, wie er nach und nach alles Bunte und ‚Unfunktionelle‘ aus ihrem Leben verbannt hatte, wie er immer wortkarger und introvertierter wurde und schließlich kaum noch ein Wort sprach.
Die meisten waren irgendwann einfach nicht mehr hierhergekommen, sie konnte und wollte das nicht ändern, er war ein Teil von ihr und wenn sie ihn nicht akzeptierten, so konnte sie wohl kaum mit gutem Gewissen regen Kontakt mit ihnen pflegen.
Sie wischte bedächtig den Tisch, sah aus dem Fenster, sah zwei ihrer Nachbarn, deren Namen sie nicht kannte, sie unterhielten sich auf der Straße.
So war ihr Freundeskreis kleiner geworden, bald fast verschwunden, einsam geworden war es in diesem Haus, selbst das Kindergeschrei aus dem Nachbarhaus erschein ihr oft mehr als ein willkommener Besuch, sie saß dann oft allein auf der perfekt gemauerten Terasse und lauschte, stellte sich die Kinder vor, deren Stimmen sie jeden Tag hörte.
Doch auch das konnte das Alleinsein nicht aufwiegen, denn oft saß sie die ganze Nacht allein in diesem Haus, aß allein zu Abend, trank allein ein Glas Wein, ging allein ins Bett, meist arbeitete er sehr lang und manchmal kam er erst zum Frühstück wieder nach Hause.
Auch darüber hatten sie früher oft gestritten, über die langen Nächte im Büro, auch über das, was er seine ‚rationale Erwägungen‘ nannte. Und natürlich hatten all die Menschen um sie herum Recht gehabt, er war oft ein Tyrann, doch sie war gewillt, das zu ertragen und zu verstehen, so weit sie konnte.
Vielleicht war es ja wirklich eine Krankheit, die ihn befallen hatte, die Vorstellung gefiel ihr, er konnte nichts dafür, sie legte das Tuch beiseite und griff nach ihrem Mantel, aus irgendeinem Grund suchte er verzweifelt nach einer gewissen Ordnung in der Welt, seiner Ordnung, ganz so wie ein Ertrinkender nach jedem Grashalm griff, es waren die kleinen alltäglichen Rituale, diese beständigen Regeln und auch die kleinen gelben Zettel, die seine Strohhalme bildeten, die ihm halfen den Überblick zu behalten und nicht zu verzweifeln, so stellte sie es sich oft vor.
Sie griff nach den Zetteln auf der Kommode, schob sie in die Jackentasche, dann ging sie auch zum Sekretär, wo er die ’notwendigen Besorgungen‘ ablegte, steckte auch diesen Stapel ein.
Ganz unabhängig von dem, was die anderen Leute sagten, er blieb ihr Mann, mehr als das, sie verweilte einige Sekunden bei einem Porträt ihrer Hochzeit, das er duldete, er war immer noch der, der er damals gewesen war, nur die Details hatten sich geändert, aber Menschen änderten sich nun mal, sie aber sah immer noch den Menschen, den sie vor langer Zeit heiraten wollte, ‚bis das der Tod uns scheidet‚, er blieb ihr Mann.
Sie öffnete die Haustür, schloss sie wieder hinter sich, ging langsam auf die Steinfiguren auf dem Rasen vor dem Auto zu. Es waren die einzigen, die er hier erlaubte, ausgerechnet diese, sie mochte sie ganz und gar nicht, ihr Ausdruck war grotesk und entstellt, sie wusste nicht genau, warum er sie mochte, vielleicht hielt er sie nur für ’notwendig‘ an diesem Platz. Ein befreundeter Künstler hatte sie ihnen irgendwann einmal geschenkt, zu einem Geburtstag oder Hochzeitstag, es war schon lange her, sie erinnerte sich kaum noch an seinen Namen. Sie kniete vor den Steinkreaturen nieder, sah sich kurz um und drehte sie dann ein wenig zur Seite, nur ganz sachte, sie wusste selbst nicht, warum sie das tat, und wenn er wiederkam und sie selbst vom Fenster aus sah, wie er sie behutsam wieder in ihre Ausgangsposition drehte, schämte sie sich jedes Mal fürchterlich, dennoch tat sie es immer wieder, bevor sie zum Einkaufen fuhr, es war eine Art Sabotage an ihm und seinen Gewohnheiten.
Kühl lächelnd betrachtete sie ihr Werk und stieg dann in den schweren Wagen, warf den Stapel achtlos auf den Sitz neben sich.
Einer der Zettel war nicht gelb, bemerkte sie. Ihre Hand griff danach, sie las, rotes Papier. Der Namen eines Hotels stand darauf, eine Rechnung.
Einige Minuten saß sie starr im Auto, der Motor lief schon. Dann setzte sie zurück und fuhr in die falsche Richtung davon.

„Jede menschlicheVollkommenheit ist einem Fehler verwandt, in welchen überzugehn sie droht.“ – Arthur Schopenhauer, Zur Ethik

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