Lagrange-Punkt
Mit einem fast nicht hörbaren Geräusch schnappte die Abdeckung hoch, einmal, zweimal.
Er blickte hindurch, wie er es gelernt hatte, der Mann neben ihm flüsterte einige Zahlen herüber, seine Finger verschoben die kleinen Rädchen über dem Lauf, ohne dass er darüber nachdenken musste, sie waren gut ausgebildet worden.
Es gab keinen Grund mehr, etwas zu sagen, eine Frage zu stellen oder gar Zweifel zu äußern, sie waren jetzt hier, nach Monaten der Suche waren sie hier und ihr Ziel war dort drüben.
Seine Augen wanderten vom Visier zum Foto und wieder zurück, dreimal, wie es die Vorschriften verlangten, ein viertes Mal noch zur Vergewisserung, dann war er sich ganz sicher.
Dies war ihr Ziel.
Er schlug die kleine, olive Mappe mit dem Foto wieder zu, schaute wieder durch das Visier, begann seinen Atmung zu verlangsamen, wartete.
Der Mann auf der anderen Seite des Visiers fiel nicht weiter auf, ein kurzgeschorener Bart begrenzte das längliche Gesicht, braune, klare Augen, kurze schwarze Haare, seine Aussehen war nicht weiter ungewöhnlich, und auf eine merkwürdige Weise erstaunte ihn das nicht, vielleicht erschien es auch genau deshalb logisch, dass dieser Mann ein Terrorist war, jemand wie der Mann auf der anderen Seite verschwand sicher schnell in einer Menschenmasse, in einem Bus, in einem Kaufhaus vielleicht, es war sicher leichter für ihn, ein Teil des Systems zu werden.
Die in der Dämmerung fast unsichtbare Gestalt neben ihm flüsterte eine leise Bestätigung, er robbte noch ein wenig näher an das Gewehr, presste sich den Griff tief in die Schulterbeuge.
Sie hatten lange gearbeitet für diesen Moment, es war nicht einfach gewesen, ihn aufzuspüren, ein halbes Dutzend Wohnungen besaß er allein in dieser Stadt, reiste kreuz und quer zwischen ihnen, er wusste, dass sie hinter ihm her waren, doch jetzt, wo sie ihn gefunden hatten, da ahnte er von nichts, er beobachtete, wie der fremde Mann seinen Tee trank, ganz ungerührt, auf eine makabere Art und Weise steckte eine gewisse Ironie darin, die ganze Zeit war er vorsichtig gewesen, mißtrauisch, hatte Haken geschlagen wie ein verfolgter Hase, doch jetzt saß dieser Hase ganz ruhig auf einer Terasse und trank Tee.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihm zuzusehen, kein schlechtes, und das schien ihm noch denkwürdiger, nein, er fühlte sich ein wenig entrückt, und er entschied sich, darüber einen Moment nachzudenken.
Es hatte immer etwas Surreales, fast Peinliches, wenn sie durch die Hinterhöfe und Gassen des Grenzgebietes schlichen, Gewehre im Anschlag, geduckt, während auf der anderen Straßenseite eine Familie spazieren ging oder ein junger Mann mit seinem Bauchladen vorüberlief, es brachte ein tiefes Gefühl der Deplatziertheit mit sich, so zu arbeiten, monatelang im Kampfanzug durch Wohngebiete zu streifen, immer auf der Suche nach dem Ziel, es fühlte sich falsch und verdorben an, weil die alltägliche Welt sich weiterdrehte und kein Stück zu weichen schien, während er in seinen schweren Stiefeln durch fremde Wohnungen stapfte oder Familienväter bedrohte, sie nicht zu verraten, weil der Alltag nicht einmal dem Gewicht ihrer Sturmgewehre wich.
Der Soldat neben ihm flüsterte die zweite Bestätigung, dann schwieg er, wie auch er es gelernt hatte, die letzte Entscheidung lag immer nur beim Schützen.
Hier war das anders, er blickte wieder auf den Mann, der immer noch an seinem Tee nippte, langsam, fast in Zeitlupe, hier war es anders. Die ganze Verworrenheit des Lebens entzerrte sich hier auf eigentümliche Weise, die vielen Ambivalenzen der Realität schienen sich zu lösen in diesem Moment, die Welt schien innezuhalten, zum reinen setting zu werden, die Rolle eines Statisten einzunehmen, nein, mehr als das, sie schien sich komplett von der Situation zu trennen, ganz so, als gäbe es keine Zeit, es blieb nur noch er, der Mann unter dem Fadenkreuz und die imaginäre Linie zwischen ihnen, die sie so eng aneinanderband.
Jede Entscheidung hier war einfach und schon längst getroffen, ihr fehlten die Faktoren des Alltags und Unwägbarkeiten des Realen, beides schien hier erodiert und verloren, mit ihnen schwanden auch die Optionen, schrumpften zu bloßen Operationen, Algorithmen blaßer Totalität, feuern oder verschwinden, leben oder sterben, 1 oder 0, binäre Abwägungen in einem System von nur noch binären Möglichkeiten.
Ein langvergessenes Gespräch kam ihm in den Sinn, während er die Augen auf der silbernen Tasse des Mannes ruhen ließ, davon hatte der Alte gesprochen, er verstand es jetzt. Es musste vor Jahren gewesen sein, aber jetzt erinnerte er sich wieder genau, auch an den alten, vergilbten Tisch, an der mit dem Alten gesessen hatte, betrunken waren sie gewesen, beide, und dort hatte der alte Soldat von diesem Punkt, diesem Moment gesprochen, ihm war der Name entfallen, er hatte in einem verrauchten, düster-zynischen Tonfall davon gesprochen und in Worten, die auf eine akademische Vergangenheit hatten schließen lassen. Und jetzt verstand er ihn.
Es war ein Gefühl der Macht und noch viel mehr als das, er betrachtete sein Ziel ein letztes Mal, legte den Finger auf den Abzug, es war das eigentlich Unmögliche, dass diesen Augenblick so merkwürdig scheinen ließ, die Alltäglichkeit und die Welt des Zivilen, die Welt der Lebenden, die sie sonst als Fremdkörper betrachtete und auszuspucken suchte, sie wich hier wortlos diesem schweren Lauf und machte Platz für eine metaphorische Welt der Toten und des Todes, ließen Raum für diese finalisierte Version totaler Macht, in der alles so einfach war, schießen oder verschwinden, leben oder sterben, 1 oder 0.
Ein chemisches Feuer loderte laut hörbar auf, presste das Geschoss durch den Lauf, folgte ihm noch einige Zentimeter und verlosch wieder.
post scriptum:
Lagrange-Punkt
Dokumentation zu israelischen Scharfschützen (leider alte Seite)
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