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Am 11. Januar 2097 geschah in einem Ort in Westeuropa, der sonst kaum Beachtung fand, etwas außerordentlich Wichtiges, zumindest stellte der Pressesprecher des Konzerns dies vor dem Gerichtsgebäude so dar. Ob es das wirklich war, darüber stritten sich Bürger und Medien noch Monate später und danach verschwand die Problematik schließlich – wie bei öffentlichen Diskussionen dieser Größenordnung üblich – von der Agenda, als im Juni des selben Jahres eine Bombe den Londoner Bahnhof zerriss, womit die Frage nach der Relevanz endgültig offen blieb.
An diesem 11. Januar aber, da starrte die ganze Welt wie gebannt auf ein – europäisches – Gericht in der Nähe von Brüssel. Über 1400 Journalisten und Fotografen aus aller Welt hatten sich eingefunden, und in dem kleinen Ort herrschte ein heilloses Durcheinander, das die Polizei erst in den Griff bekam, als bereits ein Reporter von einem Tontechniker überfahren worden war (was, im Spiegel der Geschichte betrachtet, in gewisser Weise gerecht schien, denn eben dieser Mann hatte zwei Jahre zuvor in einer Nachrichtensendung den vierten Irakkrieg erfunden und damit unwillentlich ausgelöst).
Als sich also an dem besagten Tag alle etwas beruhigt hatten und sich neben den 1400 Medienvertretern auch etwa 800 Demonstranten (hauptsächlich Freikirchler und, davon versetzt, die Art von Menschen, die man überall finden konnte, wo handfester Ärger vermutet wurde) ordentlich postiert hatten, geschah – erst einmal nichts.
Es war keineswegs so, dass sich die Entscheidung verzögert hätte; das Urteil war in Wirklichkeit schon verlesen worden, als es draußen noch freie Parkplätze gab. Aber der Vorstand des Konzerns hatte beschlossen, es noch etwas hinauszuzögern. Sie waren es auch gewesen, die für den Ausschluß der Öffentlichkeit aus dem Gerichtsgebäude gesorgt hatten. Man wollte Überlegenheit demonstrieren – und das funktionierte. Es klappte sogar so gut, dass einige der streitsuchenden Demonstranten schon abgereist waren, bevor der Sprecher überhaupt vor die Tür getreten war, um seine Strophe aufzusagen. Selbst die Journalisten murrten und stöhnten schon in der fahlen Wintersonne, als es dann endlich doch geschah.
Ein Mann in einem grauen, nichtssagenden Anzug trat lächelnd durch die Türen des Gerichts, blinzelte in die Sonne. Es war einer dieser glatten, neutral wirkenden Typen, deren Alter man nie richtig schätzen konnte. Er blieb noch kurz stehen, schaute noch einmal in die Sonne, dann trat er zu dem Halbkreis von Mikrofonen. Man konnte Kameras surren hören, sonst war es ganz still geworden. Selbst die betrunkenen Demonstranten weiter hinten waren schlagartig ruhig.
Das schien dem Mann in dem grauen – und sicher teuren – Anzug zu gefallen, denn er lächelte noch ein wenig breiter.
Dann öffnete er den Mund und teilte den über 2000 Menschen auf dem Platz strahlend mit, dass seit etwa einer halben Stunde alle Rechte am Begriff der romantischen Liebe mitsamt aller damit verbundenen Inhalte, Symbole und Referenzen auf die VELOoN-Unternehmensgruppe übergegangen seien.
Davon ausgeschlossen seien allerdings alle Aspekte der Sexualität, fügte er hinzu, es klang etwas bedrückter, als er es geplant hatte (dabei hatte der Vorstand des VELOoN-Konzerns diesen Kompromiss durchaus kalkuliert; sie hatten diesen Vorschlag sogar selbst gemacht), und so fügte er noch fröhlich hinzu, dies sei ein wichtiger Tag für VELOoN, ein wichtiger Tag für die Welt. Noch schwieg die Menge, als könne sie es noch nicht glauben. Das rettete dem eloquenten Mann im Anzug vermutlich das Leben, denn als die Tür des Gerichtsgebäudes hinter ihm wieder zuschlug, war das wie ein Startschuß; auf dem Platz brach die Hölle los.
Nun, zumindest war das der Eindruck, den die anwesenden Journalisten hinterher – natürlich – vermittelten. Tatsächlich gab es einige Dutzend Verletzte, und ein unglückseliger Chauffeur (der aber gar nicht, wie vermutet, bei VELOoN angestellt war) wurde von dem Mob einige Kilometer weit gejagt, bevor man von ihm abließ. Dennoch gingen die meisten der Unruhestifter enttäuscht nach Hause. Das Problem war vermutlich, dass die zahlreichen Streithähne zwar willens waren, den Platz in ein Schlachtfeld zu verwandeln, die prägnante und kurze Ansprache des VELOoN-Sprechers sie aber verwirrt hatte. Auch die Journalisten wussten nicht genau, was jetzt geschehen würde; niemand hatte eine rechte Vorstellung, und die meisten fragten sich zudem auch noch, wie um alles in der Welt das geschehen war.

Dabei war das eine recht einfach zu beantwortende Frage, wenn man den Prozess etwas länger verfolgt hatte, was aber natürlich selbst die kompetenteren Medienvertreter unterlassen hatten – der neuentbrannte Irakkrieg hatte eine höhere Quote versprochen (und war es nicht immer so? Recherchen brachten sicher Information, aber Krieg, Krieg brachte nun mal Quote – und die zählte).
Alles hatte damit begonnen, das VELOoN, ein Mischkonzern, der von Bananen bis hin zu Panzern irgendwann einmal alles verkauft hatte oder noch verkaufte, die Rechte an etwa 10.000 – und damit nahezu allen – Hollywood-Streifen aufkaufte. Man kaufte sie recht günstig aus der Konkursmasse eines der letzten Filmstudios in den USA. Zunächst nahm man das Lizenzpaket nur als günstige Gelegenheit wahr, doch ein findiger – und bald beförderter – Abteilungsleiter kam auf die Idee, sich doch die Rechte an der Liebe zu sichern. Schließlich, so könne man argumentieren, sei die Liebe, oder die westliche Auffassung davon, doch ganz klar erst von Hollywood zu dem gemacht worden, was sie ist. Um es plakativ zu formulieren; wenn die heutigen Begriffe erst von Vom Winde verweht und Scarlett erschaffen worden seien, dann habe VELOoN ganz selbstverständlich auch die Rechte an der Liebe.
Die Manager-Riege nahm diesen Vorschlag zunächst nicht ganz ernst, beauftragte den Mann aber, eine Klageschrift vorzubereiten, um es einmal zu versuchen. Natürlich ging dieser erste Versuch vollkommen schief; juristisch war er unzureichend formuliert und viel zu allgemein gehalten. Letztlich war die Klage abgelehnt worden, weil das Gericht monierte, es sei nicht ausreichend differenziert worden, auf was denn nun Ansprüche bestünden.
Selbstverständlich wurde der Mann, der seine Idee so stümperhaft umgesetzt hatte, sofort entlassen; aber darüber hinaus war der Vorstand, der mehr zufällig davon erfuhr, überaus überrascht, dass der Antrag überhaupt derart ernst behandelt wurde. Und so reifte ein neuer Plan; man wollte es noch einmal versuchen. Aber diesmal zog man eine ganze Armee von Anwälten zusammen, dachte nach, taktierte. Stellte schließlich eine Klageschrift zusammen und reichte sie ein.
Diesmal wurde der Antrag nicht abgewiesen, und es kam zu einer Verhandlung vor dem neu eingerichteten Gerichtshof für Urheberrechte, der sein Ende an diesem 11. Januar fand. Doch davor standen einige zähe Woche unzähliger und endloser Anhörungen, Diskussionen und Streitereien; wie es das neue Copyright-Gesetz vorsah, stand gegen die Anwälte der VELOoN ein so genannter Bürgeranwalt, dessen Aufgabe es war, dem Richter klarzumachen, dass die Forderungen von VELOoN juristisch unhaltbar waren; der Bürgeranwalt in diesem Fall war durchaus ein guter Jurist, aber VELOoN hatte sich gut vorbereitet.
Um abzugrenzen, auf was man eigentlich Anspruch erhob, hatte man zweierlei getan; zum einen hatte man zusammen mit den besten Psychologen, Soziologen und Philosophen die genaueste und ausführlichste Definition der westlichen Auffassung von der romantischen Liebe geschrieben, die es jemals gegeben hatte (es muss sicher nicht erwähnt werden, dass für die zu Grunde liegenden Gutachten auch einige Millionen Euro relevant gewesen sein mochten); allein dieses Machwerk umfasste 1278 Seiten ohne Anhänge. Weiterhin hatten spezialisierte Kanzleien einen Katalog mit Forderungen aufgestellt. Im wesentlichen war darin aufgeführt, welche Inhalte und Symbole derart an den fraglichen Begriff gekoppelt waren, dass VELOoN darauf Anspruch erheben konnte. So waren etwa Valentinsgrüße aufgeführt; Rosen dagegen nicht, ausschließlich rote Rosen waren genannt. Es war eine endlose Liste, darunter jeweils eine Begründung.
Derart präpariert zog man vor Gericht; als der Bürgeranwalt den Wust an Papier sah, den die Anwälte mit sich brachten, bat er sofort etwas schockiert um eine Vertagung.
Als das Verfahren wieder aufgenommen wurde, legten die Anwälte von VELOoN zunächst ihre Kernthese dar. Mit großem Aufwand bauten sie im Saal eine der teuren, alten Vorführanlagen auf und zeigten allein in den ersten drei Tagen zehn Filme und über 100 Ausschnitte. Darunter waren Klassiker der 50er und 60er Jahre, aber auch uralte Stummfilme. Etwa zwei Dutzend größtenteils bekannte Wissenschaftler wurden als Gutachter gehört; sie alle bestätigten, dass VELOoN selbstverständlich richtig handelte, wenn es die Liebe als Markenbegriff schützen wollte.
Dann war der Bürgeranwalt an seiner Reihe, und obwohl VELOoN die meisten kompetenten Gutachter auf dem Kontinent bestochen hatte, fanden sich doch einige wenige, die seine Argumentation stützten; die Liebe sei nicht als Markenbegriff verwendbar, da weder die VELOoN noch die alten Filme ihre Urheber seien. Sie sei schon so alt wie die Menschheit und damit Allgemeingut, dass kein privates Unternehmen für sich beanspruchen könne. Um dies zu unterstreichen fand ebenfalls eine Präsentation statt, die aber nicht halb so eindrucksvoll wie die der Kläger war. Dennoch schmückten Bilder aus fast allen Zeitaltern die Wände des Gerichtssaals; Abbildungen aus dem antiken Griechenland, Rom, Ägypten. Persien und dem Orient, China, der Renaissance, und so weiter und so fort. Es wurden Werke von Goethe und Shakespeare zitiert, auch von Gibran und Rilke. Am Ende die Prozesstages war alle sehr erschöpft von all den – zugebenermaßen etwas stumpf präsentierten – Fakten, doch der Bürgeranwalt war recht zufrieden mit sich und schloss mit einer donnernden Zusammenfassung, die den Tag schärfer als zuvor resümmierte.
Doch die Anwälte der Gegenseite waren noch besser vorbereitet, als er erwartet hatte. Kaum hatte er sich wieder gesetzt, rief die Gegenseite einen hagere, aber sehr sympathische Frau nach vorne, die sich als Medienwissenschaftlerin und Historikerin auswies. Sie hatte sich kaum gesetzt, da begann sie auch schon zu reden; natürlich sei das Argument der Gegenseite richtig, und natürlich sei auch die romantische Liebe älter als alle Hollywood-Filme (in der Tat bezweifelte sie dies in Wirklichkeit, aber man hatte ihr eingetrichtert, dass das nicht so wichtig sei) – nur sei aber die westliche, verbreitete Form oder Interpretation davon eben nun mal in seiner Zusammensetzung und in seiner Definition erst durch diese Filme geschaffen worden. Deshalb erhebe VELOoN ja auch nur Anspruch auf diesen Teil; das sei wie mit den – selbstverständlich geschützten – Cola-Rezepten der beiden großen Getränkehersteller; natürlich hatten sie die Cola nicht erfunden, und deshalb war dieser Begriff auch nicht zu patentieren. Aber ihr Rezept hatte das Produkt, dass sie verkauften, erst definiert; und diese Definition, das ‚Rezept‘, das die Merkmale des Produkts festlegte, das war durchaus zu schützen. Nicht anders verhalte es sich auch hier, das Rezept, die Definition der westlichen Deutung der Liebe, die heute aktuell sei (im Gegensatz zu den Auffassungen von Goethe oder Schiller), wäre erst durch Hollywood erzeugt worden, und damit sei sie als ‚Rezept‘ zu schützen.
Der Bürgeranwalt musste laut lachen, als sie ihre Aussage mit dieser Analogie beendete, aber als der Richter ihn dafür rügte und schließlich sogar verwarnte, als er einwand, dies sei lächerlich, wurde ihm schnell klar; diesen Prozess würde er doch noch verlieren.
Es wurde nie ganz klar, ob auch der Richter manipuliert worden war oder ob er die Argumentation tatsächlich so überzeugend fand; klar wurde später nur, dass das Urteil juristisch durchaus als korrekt anzusehen war.
In jedem Fall war der Prozess damit prinzipiell gewonnen für VELOoN, was gebührend gefeiert wurde; allerdings vergingen noch einige Wochen, in denen man sich über fast jeden Punkt in der Forderungsliste stritt. Nur über die roten Rosen stritt man sich amüsanterweise nie; niemand wusste, warum, aber diese eine Sache wurde nie in Frage gestellt. Andere dagegen wurden stundenlang diskutiert, so etwa die Valentinsgrüße (der Bürgeranwalt, den eine Art Vergeltungsdrang ob seiner Niederlage befallen hatte, argumentierte, dass ein Valentinsgruß auch lediglich freundschaftliche Gefühle ausdrücken könne – was letztlich für zweifelhaft befunden wurde), doch im Großen und Ganzen gab das Gericht schließlich allen Forderungen statt: gegen Ende des Verfahrens bot man dem Bürgeranwalt an, auf die Rechte an Sexualität generell zu verzichten, und dieser nahm den Kompromiss resigniert hin.

Und so dauerte es letztlich bis zu diesem Morgen am 11. Januar 2097, bis die Entscheidung fiel.
Danach wurde, schon wieder, ausgiebig gefeiert, wenn auch nur bei VELOoN. Fast sofort machte man sich an die Arbeit. In Windeseile hatte man eine ganze Abteilung nur für Abmahnungen eingerichtet, und so begann man, mit stoischer Ruhe Hunderttausende Unternehmen abzumahnen, zu verklagen und Lizenzgebühren einzufordern. Man mahnte Blumenverkäufer ab, Juweliere. Die Hersteller von Grußkarten, Doppelbetten, Hochzeitskleidern, 3D-Schnulzen, Familienserien und Taschenwärmern in Herzform.
In der Folge kam es zu einigen Turbulenzen auf dem Börsenmarkt, doch niemand beschwerte sich; die meisten Makler hatten ohnehin VELOoN-Aktion gekauft, und die schossen zu dieser Zeit durch die metaphorische Decke. Von den verklagten Unternehmen kam nur wenig Widerstand; die meisten Rechtsabteilungen befanden das Urteil als wasserdicht – und daher zahlte man lieber. Nur ein einziger Fall wurde publik, in dem ein kleiner Kiosk sich zur Wehr gesetzt hatte; Man war durch den Verkauf von essbaren (roten) Rosen ins Fadenkreuz geraten. Es endete, medial begleitet, wie immer in Tränen; Abweisung des Einspruchs, Pleite, Scheidung, Selbstmord.
Dabei hielt sich VELOoN, was die Öffentlichkeit anging, so bedeckt wir nur möglich. Bei Interviews ließ man immer nur verlauten, dass der normale Bürger keine Nachteile haben würde, und dass VELOoN natürlich kein Interesse habe, ins Privatleben der Menschen einzudringen. Aber natürlich war auch das Teil einer Strategie. In der Tat wartete man nur noch auf ein Ereignis, das die Menschen ablenkte. Dieses fand sich dann auch, etwa 14 Monate später, als sich ohnehin schon wieder Vergessen über den Prozess gesenkt hatte; man hatte auf einen Krieg oder einen Anschlag gewartet, aber im März 2098 bekam man beides.
Und am 15. des selben Monats bekamen über 100 Millionen Haushalte (zunächst in Westeuropa), die in diversen Datenbanken und Dateien als Ehen oder eheähnliche Gemeinschaften eingetragen waren, eine Zahlungsaufforderung.

Eine Antwort zu “Liebe ©”

  1. DS sagt:

    Schöner text… auch wenn ich mal zu bezweifeln wage dass man im Jahr 2097 noch Kameras summen hört… 😛

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