Ein Märchen Diesen Artikel drucken

In einer dunklen Nacht, die der heutigen nicht ganz unähnlich war, da spielte ein trockener Sturmwind über einem kleinen Städtchen. Es war schon spät, die meisten Wesen hatten sich schon zur Ruhe gebettet. Niemand sah mehr zu, ohne Zuschauer war es nicht mehr so halb so spannend, und so war es nur eine laue, manchmal auffrischende Brise, die über die Straßen hüpfte und in Gassen Verstecken spielte, in den Fenstern der Häuser leise Lieder spielte. Am Himmel über der Stadt hing nur eine einzige, große Wolke, ganz schwarz und hoch. Auch sie schlief schon, so wie alles in ihr ebenso, und so hörte man lange Zeit nichts außer dem Wind, der seine Spiele spielte.
Doch dann, es muss fast schon gegen Morgen gewesen sein, fiel ein kleiner Tropfen aus der kalten Wolke; nun, das an sich ist nicht weiter ungewöhnlich, das ist es nun mal, was Tropfen tun, nicht wahr? Sie fielen vom Himmel, sickerten in den Boden, nahmen einen weiten Weg, und irgendwann löste sie die Sonne wieder und brachte sie zurück in die Höhe, die so sehr liebten. Dann begann der Kreislauf wieder von vorne. Auch dieser Tropfen hatte sicher schon Tausende Male solch einen seltsamen Kreis durchlaufen, und keineswegs unzufrieden mit seiner Rolle in der Welt. Aber diesmal war etwas anders, denn nur einziger fiel aus dieser Wolke, nur dieser eine Tropfen, ganz alleine.
Wie die meisten Kreaturen, die unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden, war auch dieser Tropfen nicht minder entsetzt, als er plötzlich kopfüber in die pechschwarze Nacht stürzte. Er fiel einige hundert Meter tief, bis er der Situation wirklich gewahr wurde, und weitere hundert, bis er endlich einen entsetzten Schrei ausstieß; Regentropfen pflegten in großen Zahlen zu reisen, und beinahe nie machten sie sich alleine auf den Weg, schon gar nicht so unfreiwillig. Der Schrei dauerte an, fast eintausend Meter lang, und noch bevor sein Veruracher sich der eigenen Lautstärke bewusst wurde, hatte der Wind in dem kleinen Städtchen ihn schon gehört und zischte voller Neugier heran. Einige Böenfinger stoppten den Wassertropfen schließlich vorsichtig, warfen ihn spielerisch wieder einige Meter in die Höhe und versetzten ihn dabei derartig in Drehung, dass ihm schwindelig wurde und er laut aufquiekte, halb aus Angst, halb aus der Erleichterung heraus, nicht mehr allein zu sein.
„Was ist denn los? Was machst du denn so einen Krach?“, fragte der Wind behutsam, sah die Panik des kleinen Tropfens und ließ ihn ganz vorsichtig schweben, um ihn nicht noch mehr zu erschrecken. „Ich bin ganz alleine“, antwortete der leise, „ich bin noch nie alleine gereist“, fügte er schüchtern an. „Aber, aber“, beruhigte ihn der Wind, strich mit dem kleinen Finger über seinen kugelrunden Kopf, „hab keine Angst, du bist nicht allein.“ Der Tropfen fasste wieder etwas Mut und bemühte sich, seine Gestalt wieder etwas zu straffen. „Wer bist du?“, fragte er etwas lauter. „Ich? Ich bin nur der Wind.“, sagte der Wind freundlich, „Es wundert mich nicht, dass du meinen Namen nicht kennst; ihr achtet selten auf mich, wenn ihr in euren großen Schwärmen reist.“
Darauf wusste der Tropfen nichts zu sagen, außer, dass das stimmen mochte. „Wollen wir ein Spiel spielen?“, flüsterte der Wind schelmisch, und noch bevor der Wassertropfen antworten konnte, wurde er auch schon hoch in Luft geworfen, etwas vorsichtiger als vorhin. Zuerst hatte der einsame Tropfen wieder Angst, doch die Stimme des Windes war nicht feindselig gewesen, und so ließ er es einfach geschehen; einige Meter weiter fing der Wind ihn wieder auf, um ihn wieder hochzuschleudern, und nach einer Weile genoss er das Spiel und lachte vergnügt mit den kleinen Böen um ihn herum.
Auf diese Weise legten sie eine weite Strecke über dem Ort zurück, mal in geringer, mal in großer Höhe, und der Tropfen staunte, was er alles auf dem Boden entdecken konnte, jetzt, wo er so langsam unterwegs war. Einmal strichen sie über eine Straße hinweg, und der Tropfen betrachtete zum ersten Mal einige Häuser genauer, die er sonst immer nur im Sturzflug gesehen hatte. Ein anderes Mal wanden sie sich um die Äste einer alten, kahlen Esche, und er staunte, wie schön Bäume waren, wenn man einmal genauer hinsah.
Schließlich erreichten sie einen Hügel in der Nähe, und der Wind ließ von seinem Spiel ab, stieg weit in den Himmel.
„Das war schön!“, rief der Regentropfen, ganz außer Atem. „Ja, das war es, mein Freund“, gab der Wind zurück und blickte dabei zum Horizont, wo sich der Morgen langsam ankündigte, „Aber ich muss jetzt gehen, siehst du den fernen Schatten dort?“, er zeigt in eine Richtung, „Dort muss ich sein, bevor der Morgen hier ist.“. Da sackte der Tropfen wieder in sich zusammen, und wäre er nicht aus Wasser gewesen, er hätte geweint. „Aber dann bin ich wieder ganz alleine…“, brachte er flüsternd heraus. Der Wind strich noch einmal über seinen Kopf, „Du bist nicht allein, mein neuer Freund. Ich bin der Wind; wo immer du auch bist, ich war schon da und bin es immer.“, er lächelte leise,“Wenn du mich kennst, dann bist du nirgendwo einsam.“, dann war er mit einem Heulen fort.

Der obige Text ist schon etwas älter, entgegen meiner ursprünglichen Absicht veröffentliche ich ihn jetzt doch. Ich hoffe, er ist nicht allzu kitschig.

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