Das Tagebuch – Kinder (2) Diesen Artikel drucken

Zweiter Eintrag:

Ich denke, jetzt kann ich wieder schreiben; ja, es geht. Ich habe fast schon geglaubt, dass sei das Ende, aber jetzt bin ich wieder hier und kann dir berichten. Gern würde ich dir genauere Erklärungen liefern als zuvor, aber ich fürchte, es ist nur noch verworrener geworden.

Aber ich sollte vorn beginnen, an der Stelle, an der ich auch aufgehört habe; es kommt mir ein wenig verschwommen vor, was ich dir beim letzten Mal schrieb, als wäre es vielleicht doch nicht richtig: ich muss mich wohl entschuldigen, aber du wirst weiterlesen müssen, ohne einen Namen zu kennen. Es ist schwer zu erklären, aber ich las die ersten beiden Seiten meines kleinen Tagebuchs noch einmal, während das Chaos um mich noch glühend heiß war und ich nichts tun konnte, als auf diese beiden Seiten zu starren. Die Schrift ist seltsam, aber ich habe es geschrieben, daran erinnere ich mich. Dennoch, der Name, er kam mir so fremd vor. So als wäre er gar nicht meiner. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber ich musste ihn ausradieren, ich konnte nicht anders. Wenn ich es genau bedenke – Nein, das war nicht meine Name. Er kann es nicht gewesen sein; auch wenn einen das Gedächtnis betrügt, müsste da doch ein entferntes Wiedererkennen sein, oder etwa nicht? So war es doch immer mit Namen, die man lange nicht mehr gehört hatte: Vielleicht schienen sie aus der Erinnerung gelöscht zu sein, aber dennoch blieben sie einem vertraut, wenn man sie wieder sah.
Einen neuen Namen habe ich auch nicht – ich habe darüber nachgedacht, aber mir fällt keiner ein. Keiner, der mir wirklich vertraut wäre, und ich möchte dir nicht irgendeinen beliebigen nennen. Wer wäre ich dann noch, hier, am Rand von allem, wenn ich mir irgendeinen Namen geben würde; auch ich wäre dann beliebig, nicht wahr, und so bleibe ich lieber namenlos.

Doch genug davon, ich wollte berichten. Da waren diese Schritte vor meiner Tür, ich habe es dir geschrieben. Kaum hatte ich den Stift beiseite gelegt, da kam wirklich jemand herein. Er kam herein, ohne anzuklopfen, ein kleiner Junge von vielleicht acht Jahren. Ich denke, ich war es selbst; sicher bin ich mir freilich nicht, aber er trug einen gelben Schlafanzug mit einem Muster, das mir bekannt vorkam. Ja, ich denke, so einen hatte ich auch schon einmal. Männchen in bunten Anzügen waren darauf, ich glaube, sie gehören zu einer Fernsehserie; so wird es sein.
Der Junge ging an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Ich sprach ihn an, doch er reagierte nicht; ich bin mir sicher, dass er mich auch gar nicht hören konnte. Jedenfalls war da nicht das geringste Anzeichen einer Reaktion, als ich sein Gesicht im Halddunkeln sah. Er ging zu seinem Bett und setzte sich darauf, als würde er auf etwas warten. Ich stand auf, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen. Jetzt weiß ich gar nicht mehr genau, warum ich das tat; eigentlich war ich mir absolut sicher, dass auch das nichts ändern würde. Dies ist nur eine Bühne, dachte ich, und ich bin nur ein Zuschauer. Dennoch stand ich auf. Vielleicht wollte ich nur sehen, ob er wirklich real war, dieser Junge, ob sein Herz schlug. Fast schon war ich mir sicher, dass ich einfach durch ihn hindurchfassen würde, dass ich nur Luft berühren würde. Das auch er nur ein Geist war. Ich hielt den Atem an, als ich neben ihm stand. Er sah immer noch irgendeinen Punkt auf dem Fußboden an.
Und dann spürte ich ein Herz unsicher und hart schlagen, als meine Hand kurz auf seiner Schulter ruhte; ja, er war ein Mensch, das weiß ich nun sicher; ich weiß nicht, was seinen Puls so trieb, aber es war Blut, das durch seinen Körper strömte.
Dann nahm der Junge meine Hand. Für einen Moment glaubte ich, ich hätte eine Art Zauber gebrochen, und gleich würde er zu sprechen beginnen, mich erkennen. Doch nichts dergleichen geschah. Er blickte weiter starr irgendwohin, stand auf und führte mich wieder zu dem Platz, an dem ich zuvor gekauert hatte; es schien, als bewege er sich nicht bewusst. Es war mehr so, als würde er ein Insekt verscheuchen, ganz automatisch und ohne darüber nachzudenken. Dann ließ er meine Hand los. Ich versuchte, noch einmal in seine Augen zu sehen, doch sein Blick ging ganz natürlich an mir vorbei; ich denke nicht, dass er mich bemerkt hat. Du wirst dich fragen, warum ich ihn nicht geschüttelt habe, warum ich ihn nicht angeschrieen habe. Aber irgendwas in der Berührung seiner Hand ließ mich in dieser Ecke stehenbleiben, während der Junge zurück zum Bett ging. Nun denke ich, dass das auch das Vernünftigste war. Es hätte nichts gebracht, zu toben: Er konnte mich nicht sehen oder hören.
So setzte ich mich wieder in meine Ecke, und dieser kleine Junge – ich bemerkte, ich hatte damals schon diese fast grauen Strähnen im Haar – setzte sich wieder auf das Bett. Es dauerte nicht lange, vielleicht nur Sekunden, dann hörte ich wieder Geräusche von draußen; der Junge seufzte, das konnte ich hören, dann flog die Tür fast aus den Angeln.
Ich schrak zusammen, der Junge blickte nur zu der Gestalt, die dort im neonfarbenen Gegenlicht stand. Sie war groß, vielleicht so groß wie ich. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen, wohl aber den Stock in seiner Linken, dicker als zwei oder drei Finger. Der Mann atmete schwer und lehnte sich ganz leicht gegen den Türrahmen. Ich konnte nicht sehen, wohin er blickte, aber ich denke, er sah den Jungen an, zwei, vielleicht drei Sekunden. Dann trat er vor, ganz langsam, bis in die Mitte des Raumes, blieb dort stehen.
Und für einen Moment fühlte ich etwas Seltsames; nun, da es schon eine Weile her ist, verschwimmt die Empfindung: Aber ich denke, ich habe noch nie so sehr gehasst wie in diesem Augenblick. Während er sich mit seinen langsamen, fast lässigen Schritten durch den Raum bewegte, schossen mir die Tränen in die Augen. Ich wollte aufstehen, ich musste, hätte ich es gekonnt, ich hätte die Welt in Stücke gerissen. Aber ich konnte nicht, der Griff des Jungen hatte mich gebannt; schreien wollte ich, schreien und toben, aber nur ein ersticktes Pfeifen kroch über meine zerbissenen Lippen. Jetzt, wo ich es aufschreibe, komme ich mir hysterisch vor: versteh mich nicht falsch, aber ich kannte diesen Mann nicht. Lange habe ich darüber nachgedacht, aber ich kenne ihn nicht, soweit ich mich erinnere. Nichts an ihm hat mich an irgendetwas erinnert, aber in diesem kurzen Moment glaubte ich, ihn und seine Absichten erkannt zu haben; Das ist merkwürdig. Auch wusste ich, dass ich ohnehin nichts tun kann, und es war nicht nur der Wunsch, den Jungen zu beschützen, der mich in diesen Augenblicke packte. Ich würde dir auch gern das erklären, aber ich kann nicht; ich kannte den Mann nicht, und ich möchte auch nicht länger über ihn sprechen. Während ich mich also auf dem Boden wand, ging der Mann einen Schritt auf den Jungen zu, unendlich langsam und gedehnt. Ich sah durch den Tränenschleier, dass der Junge auf den Boden direkt vor sich blickte. Ich sah auch, wie er den Blick langsam hob, als der Mann ruhig und ohne einen Ton ausholte; sein Blick traf mich für einen Moment, und ich erkannte eine klare, überschäumende Kälte darin, die mich meine Wut fast vergessen ließ.

Und dann geschah etwas Seltsames. Zunächst dachte ich, der Schläger würde nur noch einen Moment warten, den Augenblick bis zum letzten auskosten, bevor er zuschlug. Aber dann begriff ich, dass ich seine Atemzüge nicht mehr hören konnte. Er stand nur noch da, wie erstarrt, den Arm zum Schlag ausgeholt.
Ich weiß nicht, wessen Stimme es war, die ich hörte; meine war es nicht, auch nicht die des Jungen, auch wenn es seine Lippen waren, die die Worte ausstießen. Ich hörte sie auch nicht sofort, sie schien sich mehrmals zu wiederholen. Als ich die Worte jedoch bewusst hörte, da stand der Junge plötzlich neben mir: Der große Mann war immer noch in seiner Haltung verharrt, er musste an ihm vorbeigegangen sein. Ich blickte in die Augen des Jungen, ich konnte aber auch nicht anders; zum ersten Mal hatten sie mich fixiert, mich wirklich wahrgenommen. Aber es waren nicht seine; vorher waren sie blau gewesen wie meine, jetzt jedoch hatten sie eine unbestimmte Farbe und einen schwer zu lesenden Ausdruck. Es war wohl Trauer, die ich sah, doch das erkannte ich erst, als ich die Stimme des Mädchens, das dort zu mir sprach, zum zweiten Mal hörte; sie sagte nur dieses, mit einem fernen Klang:
„Warum, Vater? Warum?“
Ich hörte diesen Satz wohl noch einige Male und sah, wie eine Träne durch des Gesicht des Jungen, der ich einmal war, lief. Dann wurde es wirklich verrückt.
Die genaue Reihenfolge kann ich dir nicht mehr nennen, es ist alles so verschwommen. Relativ sicher bin ich mir, dass es die Wand hinter dem Bett war, die als erstes explodierte. Zuvor hörte ich eine Maschine oder etwas ähnliches, dann wurde die Wand einfach zerrissen; ich sah dahinter nicht viel, nur Schwärze und einige blendende Lichter. Es ging zu schnell, aber ich denke, es war ein Splitter aus dieser ersten berstenden Wand, die den Jungen am Kopf traf. Er ging sofort zu Boden, und eine Sekunde später konnte ich ihn nicht mehr sehen. Ich glaube, er war sofort tot.
Im Schreck hatte ich mich an die Wand hinter mir gedrückt; diese zerriss als nächstes, ohne mich zu verletzen; wahrscheinlich wäre das auch gar nicht möglich gewesen. Ein Stück des Fensterbrettes traf den unbeweglichen Schläger, der immer noch ungerührt in der Mitte des Raumes stand, und riss ihm den Bauch auf. Danach schien es mir für einen Moment, als wäre es wieder ruhig; doch dann zerstoben auch die anderen beiden Wände, die Decke, zuletzt der Boden, und ich fiel.
Wie lange ich fiel, kann ich nicht sagen. Es könnte lang, aber auch kurz gewesen sein. Ich denke, eine Zeitangabe würde auch keinen Sinn machen; für mich fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Auf dem Weg sah ich nicht viel: Einmal noch sah ich den Jungen, er sagte wieder diesen seltsamen Satz mit der falschen Stimme. Dann wurde es ganz dunkel; das Denken fiel mir schwer. Eine Sache noch kann ich aus dieser Zeit berichten; ich hörte ein Rauschen, ein rhythmisches Rauschen. Fast wie Atemzüge, aber irgendwie dumpfer.
Schließlich stand ich in einem anderen Zimmer; es gab da keinen Übergang, im einen Moment fiel ich, im nächsten stand ich hier. Während ich schreibe, sitze ich auf einer roten Couch in diesem Raum, in dem ich wieder zu Verstand gekommen bin. Einige Stunden lag ich wohl auch darauf und schlief; ich musste mich eine Weile sammeln. Als ich erwachte, fand ich diesen seltsamen Kasten voller Muscheln neben mir und mein Tagebuch.
Meine Umgebung kann ich nicht einordnen; es sieht ein wenig aus wie das Wohnzimmer in einer Mietwohnung; die Möbel wirken recht billig und modern. An den Wänden hängen Poster mit karibischen Sonnenuntergängen und leicht bekleideten Frauen. Über einem Schrank voller Bücher hängt eine Flagge, ich glaube, sie gehört zu Kuba. In die Bücher habe ich schon hineingesehen; sie sind unleserlich. Manche Seiten sind zwar bedruckt, aber die meisten sind leer. Bei manchen hört der Druck mitten im Satz auf. Die anderen Zimmer habe ich noch nicht gesehen; die Türen sind verschlossen. Auch hier fand ich übrigens eine Muschel; sie lag auf dem Tisch, als Dekoration.
Ich habe übrigens beschlossen, diese Papiere in die alte Kiste aus meinem Kinderzimmer zu legen, die Sammlung werde ich wegwerfen; du wirst das nicht verstehen, weil ich schrieb, wieviel sie mir bedeutet hat. Ich erinnere mich daran; auch erinnere ich mich daran, wie ich sie sammelte, zumindest teilweise. Aber dennoch, die Sammlung kommt mir fremd vor, als hätte ich sie einem anderen gestohlen. Sie bedeutet mir nichts mehr, und ich brauche die Kiste ohnehin, wenn ich mein Tagebuch nicht wieder verlieren will.
So. Ich denke, mehr kann ich dir im Moment nicht berichten. Ich werde noch eine Weile hier sitzen und über den seltsamen Satz nachdenken, den das Mädchen ständig wiederholte. Du musst mir glauben, ich habe nie einem Kind etwas angetan. Du hast Recht, ich kann mich an so vieles nicht erinnern, aber bitte glaub es mir dennoch. Die Stimme des Mädchens kannte ich einmal, da bin ich mir fast sicher; aber ich habe ihr niemals etwas angetan.
Ich werde wieder schreiben, wenn es etwas zu berichten gibt.

Eine Antwort zu “Das Tagebuch – Kinder (2)”

  1. DS sagt:

    Ich war hier 😛

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