Nach einer Nacht in Genf Diesen Artikel drucken

Städte wie diese enthüllen die ungeheure Dichte an Geschichten, die ständig an jedem Ort geschehen; die kleinen wie die großen, die alltäglichen Geschehnisse wie die lebensumwälzenden Dramen. Die Enge der Gassen; die dicht gedrängten Fenster und Balkone; die Lichtermeere an den Ufern des Sees; all diese Details erzeugen den Eindruck, vor etwas Großem, Unvermittelbarem zu stehen, vor einem Gewirr an Stimmen, Namen und Richtungen, das niemand enträtseln kann.

Sieht man die Gebäude nur als ebensolche, als tote Skelette, Konstrukte einer längst vergangenen Kultur vielleicht, dann erscheint diese Enge, diese Dichte als etwas Homogenes; dann besitzt jede Stadt den Charakter eines toten Bienenstocks, dessen leere Waben schon immer nur Identisches beinhalteten, oder zumindest sehr Ähnliches. In dieser Vorstellung wird aus dem vielstimmigem Chor der Geschichten nur eine einzige, leere Stimme; leer, weil sie schon lange verklungen ist, nur die Waben sind übrig. Ganz so, als ob jede unserer Geschichten dazu verdammt sei, von jeder anderen ununterscheidbar zu sein. Als wären wir selbst immer nur Variationen ein und desselben Dings, ein und derselben Honigbiene. Das scheint erschreckend und intuitiv zugleich; wie sonst könnten wir so symmetrische, selbstähnliche Formen wie Städte schaffen?

Gerade deshalb ist es etwas Seltsames – und vielleicht Schönes – an uns Menschen, dass es sich doch anders verhält. Hinter den augenscheinlich gleichen Waben, Parzellen, Gardinen, Zimmern, Appartements stecken immer ganz verschiedene Geschichten. Es gibt keine Homogenität in den Erzählungen unserer Leben, aber auch keine Identität, keine Getrenntheit; hinter den scharfen Grenzen unserer Lebensräume schneiden sich unsere Lebenswelten. Sie kollidieren, überlappen, divergieren, vereinen sich, immerzu. Und auch deshalb bleibt Architektur ein Rätsel.

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