Die Große Schande (2) Diesen Artikel drucken

Liebe Leser, auf Anregung Dritter werde ich die weitere Veröffentlichung etwas verzögern: jeden Tag um die 1000 Worte sind wohl auch etwas viel. Daher erscheint der dritte Abschnitt von „Die Große Schande“ am nächsten Donnerstag und dann jeweils wöchentlich.

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Als ich das Radio einschaltete, hatte das Töten schon begonnen. Irgendein Korrespondent berichtete gehetzt von den Ausschreitungen in einer Kleinstadt bei Barcelona. Heute glauben viele, dass die Medienberichten in den ersten Stunden als eine Art Multiplikator gewirkt haben müssen, denn schließlich schlugen nicht alle zugleich los; manche taten es sofort, bei anderen dauerte es einige Stunden; letztlich erreichte es fast alle. Wir hatten glaubten, die Menschen würden innehalten; wir glaubten, dass wenigsten die Religiösen das Ende in Gleichmut erwarten können. Wir waren sogar so vermessen, wenigstens uns selbst für besonnen zu halten. All das war, wie wir wissen und wie nun auch ihr wissen werdet, ein Trugschluss. An den ersten beiden Tagen des Novembers starben nach groben Schätzungen 526 Millionen Menschen. Ich kann nicht definitiv sagen, wie viele davon Selbstmord begingen, viele waren es nicht, in jedem Fall überwogen die Morde. Ich weiß nicht, warum die Menschen töteten; ich weiß nicht, warum ich tötete. Ich erinnere mich an eine ältere Frau aus dem Haus nebenan, die ich totschlug; ich erinnere mich an ihr Gesicht, an ihr Schreie, an ihr Flehen, aber nicht an das Warum. Ich erinnere mich auch an nichts Animalisches, an keine Ekstase. So war es bei allen, die ich umbrachte; ich tat es einfach, ich tat es geplant, ohne Wut, aber auch ohne Grund. Natürlich waren unter meinen Opfern auch solche, die mich töten wollten, und manchmal möchte auch ich mich heute noch darauf zurückziehen, dass ich in Notwehr gehandelt habe, aber das ist einfach nicht die Wahrheit; die Frau etwa, von der ich sprach, sie saß in einem alten Lehnstuhl auf ihrer Veranda. Als sie mich kommen sah, kreischte sie.

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Es gibt auch keine Studien zu der Frage nach den Gründen. Ich habe versucht, unauffällig Daten darüber zu sammeln, und alle, mit denen ich sprach, sagten mir Ähnliches. Es schien uns egal zu sein: Es war egal. Aus irgendeinem Grund waren in uns alle Dämme gebrochen, weil wir das Ende erwarteten, und das Allzumenschliche brach hervor. Wir brachten unsere Frauen und Männer um; unsere Kinder, unsere Nachbarn, irgendjemanden; wir brandschatzten, vergewaltigten; wir feierten. Niemand kann mir sagen, was wir feierten, vielleicht feierten wir einfach Nichts. Ich weiß es nicht, und die Erinnerung daran ist verschwommen. Wir tranken, wir koksten, wir konsumierten alles, was wir finden konnten. Natürlich blieben wir dabei die meiste Zeit allein und saßen zugedröhnt in irgendeinem Keller, aber in den größeren Städten soll es Nachts einen regelrechten Waffenstillstand gegeben haben, ohne dass irgendjemand diesen hätte ausrufen müssen oder können. Wenn der Rausch vorbei war, dann zogen wir wieder los und brachten jemanden um.
Die Große Schande (2) Man sollte glauben, dass diese Lebensweise irgendwann ermüdete; das man mit jedem Rausch, mit jedem Toten müder wurde, bis schließlich die Lethargie und das Versöhnliche überwog. Heute erscheint es auch mir unverständlich; irgendwann hätten wir genug haben müssen. Dann hätten wir uns auf den Boden gesetzt und auf das Ende gewartet, darauf, dass es endlich kam. Aber diese Sättigung setzte nicht ein; die Menschen feierten, die Menschen töteten, immerzu, immer wieder. Meine Frau und meine Tochter starben am 10. November. Ich weiß nicht, ob ich es war; ich habe nur eine zerfetzte Notiz mit diesem Datum bei ihren Leichen gefunden. Es war in meiner Handschrift verfasst; ich hoffe dennoch, es nicht selbst getan zu haben. Vielleicht war es jemand anders, wer weiß das schon. Ich lebte zu dieser Zeit in einem dünn besiedelten Gebiet in Italien, und dennoch habe ich mindestens 60 Menschen erschossen, erstochen oder totgeschlagen. Dabei kann ich mich noch ein wenig an die Gesichter erinnern, das ist alles. Ich weiß weder, wo ich in der Zeit bis zum 18. genau war, noch weiß ich, wie ich letztlich nach Tropea gelangte. So gut wie es möglich war, sprach ich mit anderen darüber; ein Mann aus Madeira versicherte mir erst letzte Woche, nicht weniger als 1200 Menschenleben ausgelöscht zu haben, einen ganzen Wohnblock.

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Niemand weiß, wie viele Menschen im Zeitraum vom ersten bis zum 18. November starben und wie viele vorher schon gestorben waren. Feststeht, dass es am 18. November wohl noch etwa 1600 Millionen Menschen gab. Das Objekt muss zu diesem Zeitpunkt einen Durchmesser von nicht weniger als 850 Kilometern besessen haben, ich erinnere mich, es über den Bergen gesehen zu haben. Es hatte die Farbe des Himmels, das weiß ich noch, und wenn man nicht auf das leichte Glitzern achtete, dann konnte man es fast übersehen. Ich verbrachte den Tag damit, einen alten Bauern, der ein alter Freund meines Vaters gewesen sein muss, durch die Halbwüste zu hetzen. Er lief noch schnell für sein Alter, aber letztlich muss ich ihn doch eingeholt haben; ich erinnere mich daran, dass ich ihn fallen sah. Möglich, dass ich den finalen Termin wirklich vergessen hatte. Vielleicht war er mir auch nur gleich. In meinem Bild von diesem Tag ist da einfach nur die Sonne, das glitzernde Ding im Norden und das Brennen der Pillen, die ich irgendwo eingeworfen hatte.
Als die Sonne unterging, legte ich mich wohl hin, einfach dort, wo ich gerade war: ich sah den Himmel über mir. Ich hatte keinen Hunger, keinen Durst; Ich hatte noch genug Tabletten bei mir. Irgendwann hörte ich das Geräusch, dass ich schon einmal zuvor gehört hatte. Einige Zeit später stand ich auf und sah in Richtung Norden.
Das Objekt verschwand gegen 22:30 Uhr vollständig. Niemand weiß es so ganz genau, weil kaum jemand auf die Uhr schaute.

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