Die Krise und die Angst Diesen Artikel drucken

Johannes B. starb an einem sonnigen Tag im Mai. An sich wäre das nichts besonderes gewesen. Viele Männer in diesem Alter sterben an einem Herzinfarkt, vor allem solche, deren Beruf und Lebenswandel so anstrengend und stressig ist. Man könnte daher meinen, das ganze sei kaum eine Fußnote wert gewesen; eine Todesanzeige in der Lokalzeitung, eine Danksagung nach der Beisetzung, das sei alles. Aber ganz so einfach war es nicht. Denn zum einen war Johannes B. der Vorstandschef einer großen deutschen Bank, und zum anderen war da die Wirtschaftskrise. Und nicht irgendeine, sondern eine , deren Ausmaße so gigantisch waren, dass die Presse gar nicht mehr aufhören konnte, davon zu berichten: Nicht einmal nach fast zwei Jahren gingen den Journalisten die Hiobsbotschaften aus. Jeden Tag gab es neue Konkurse, neue Dax-Tiefststände, und natürlich gab es auch jeden Tag Berichte über die Verantwortlichen: bei diesen handelte es sich, so waren sich die meisten Menschen einig, beinahe ausschließlich um Manager. Es waren Manager, die einen Finanzmarkt aufgebaut hatten, der mehr auf frommen Wünsche basierte denn auf realen Werten; und zu allem Überfluss waren es auch noch Manager, die wieder und wieder Prämien einstrichen, die Schuld weit von sich wiesen oder durch die schlichte Weigerung zurückzutreten, den Zorn der Bevölkerung auf sich zogen. Natürlich hatte auch die Politik einen gravierenden Anteil an der Situation, aber bisher hatten es die Regierenden irgendwie geschafft, sich aus der Schusslinie herauszuhalten: die so genannten Leistungsträger machten keine Anstalten, sich gegen die Vorwürfe zur Wehr zu setzen, und damit hatte man einen perfekten Sündenbock, der zusätzlich ja auch tatsächlich wenigstens teilweise schuldig war.
Vorsichtshalber hatte man schon vor offenem Hass, ja gar vor offenen Gewaltausbrüchen gegen die gescholtene Riege der so genannten Leistungsträger gewarnt: nicht, dass es dazu einen Grund gegeben hätte, aber wenigstens einige Journalisten schienen sich genötigt zu sehen, alte Schulfreunde oder aktuelle Duzfreunde in dieser Weise zu verteidigen.

Nun, um den weiteren Verlauf der Ereignisse zu verstehen, muss man ein wenig in die Welt der Massenmedien abtauchen. Krisen bringen einen stetigen Fluss von Nachrichten, soviel wurde schon gesagt. Aber, und das muss auch bemerkt werden, der Konsument neigt leider zu Abnutzungserscheinungen; wird ein Thema ständig wiederholt, ist es immer das gleiche Ereignis, über das man Tag für Tag berichtet, so schaltet der Konsument irgendwann ab oder liest nicht mehr weiter. Und das ist natürlich nicht gewünscht; schließlich will man etwas verkaufen. Es bleibt also nichts übrig, als andere Themen zu finden; oder neue Aspekte von alten. Am besten ist natürlich ein handfester Skandal, etwas, was die Menschen aufrüttelt.
Von diesem Gedanken ausgehend braucht es nicht viel Fantasie, um das folgende zu verstehen: Ein kleiner Reporter, angestellt bei einer großen deutschen Tageszeitung, las die Agenturmeldung über den Tod des Johannes B. Und was ihm auffiel, dass war das Fehlen einer genauen Todesursache. Die inhaltsleere Agenturmeldung berichtete lediglich, die Umstände seines Todes würden geprüft. Die Idee ist nicht sonderlich kreativ, und der Leser kann sich selbst ausmalen, welche kreative Schaffenskraft nötig war, um darauf zu kommen; in jedem Fall konnte man am nächsten Tag in ebendieser Tageszeitung eine große, schwarze Schlagzeile lesen:

„B. tot! Kommt jetzt die Rache des Volkes?“

In der Tat war zunächst nicht klar, woran genau Johannes B. gestorben: Der Umstand, das sich die Familie in den folgenden Wochen mit Äußerungen dazu betont zurückhielt, heizte die Gerüchte zusätzlich an, und so mancher Journalist war froh darüber, dass niemand sich dazu äußern wollte. Die Medien taten, was sie gut konnten; sie schrieben voneinander ab, fanden dubiose Zeugen, sogar ein angebliches Phantombild eines möglichen Täters, das aber Johannes B. selbst sehr ähnlich sah. Schon am zweiten Tag der Kampagne waren es nicht mehr Fragen, die die Schlagzeilen dominierten; vom „Giftmord“ war die Rede, vom „wütenden Mob“, sogar von der „bedrohten Demokratie“.

Am dritten Tag berichteten große deutsche Magazine in ihren wöchentlichen Ausgaben über den Tod von Johannes B., der nun abwechselnd als „die Volksverschwörung“, „die Giftattacke“ oder „der Racheakt“ tituliert wurde. Die Polizei kam nicht umhin, in Pressekonferenzen von „mysteriösen Umständen“ und „ungeklärten Fragen“ zu sprechen: man hatte zwar nicht den geringsten Hinweis auf  einen Tötungsdelikt gefunden, aber zum einen stand man unter dem Druck der Medien, zum anderen unter dem der Familie, die auf jeden Fall verhindern wollte, dass Informationen über B.s langjährige und ausschweifende Drogenkarriere nach außen drangen.

Natürlich konnte auch so ein Skandal die Medien nicht lange beschäftigen: irgendwann mussten also Antworten her. Diese lieferte Gott Sei Dank – wie so oft – eine kleine Gruppe politischer Wirrköpfe, die sich schließlich zur Tötung des B. bekannte. In einer sprachlich betont an die RAF angelehnten Erklärung übernahm sie die volle Verantwortung für die Ermordung des „Faschisten“ Johannes B. Das Bekennerschreiben wurde nur per Mail an einige Fernsehsender und Zeitungen versandt und schlug ein wie eine Bombe. Die großen Programme unterbrachen ihre Unterhaltungssendungen; auf den Nachrichtensender wurde der Inhalt und Stil der Mitteiligung stundenlang analysiert: die Rechtschreibfehler, die das Original enthielt, hatte man natürlich korrigiert. Die Absender konnten trotz intensiver Bemühungen nicht ermittelt werden. Die Gruppe, die sich „Roter Sand“ nannte, tauchte in den folgenden Tagen dennoch immer wieder in den Medien auf: Mal war es ein Graffiti unklarer Herkunft oder Bedeutung in der Nähe des Wohnorts von Familie B., welches die Aufmerksamkeit der Medienvertreter auf sich zog, mal war es ein Freund und Arbeitskollege des B., der sich von „seltsamen Menschen“ bedroht fühlte, die „seit Wochen“ um sein Haus schlichen, aber natürlich immer nur nachts und immer nur dann, wenn kein Streifenwagen in der Nähe war.

Währenddessen bemühte sich die Politik, einen Ausweg aus der eigenen, ganz speziellen Misere zu finden: Einerseits sah man sich gezwungen, hart gegen Gewaltakte wie den gegen Johannes B. vorzugehen. Andererseits gab es, so wussten die Meinungsforschungsinstitute zu berichten, einen nicht gerade kleinen Teil der Bevölkerung, der entweder mit „Roter Sand“ sympathisierte oder doch wenigstens eine Form von Verständnis für die Gruppe aufbringen konnte. Harte Maßnahmen hätten viele Wähler verprellt, und das vor einer Bundestagswahl. Also beließ man es – vorerst – mit autoritären Ankündigungen, ohne diese umzusetzen.

Am siebten Tag der Kampagne schließlich hatten die Medienvertreter wieder Glück: die meist etwas an den Haaren herbeigezogenen Indizien, anhand derer man das Wirken von Roter Sand dokumentiert hatte, verdichteten sich. Eine Gruppe von Jugendlichen, die in der Haft später als „autonome Zelle Eins“ bezeichnet wurden, beschmierte in der Nacht den Wagen des Vorstands eines Chemiekonzerns im Namen von Roter Sand. Die jungen Männer, die sich nach einer Kneipentour diesen bösen Scherz erlaubt hatten, wurden noch in der Nacht von einem Sondereinsatzkommando festgesetzt. Die Einsatzkräfte waren selbst durch die Berichterstattung derart aufgeheizt, dass es zu einer Schießerei kam, bei der aber glücklicherweise (oder, je nach Standpunkt: leider) niemand zu Schaden kam. Am nächsten Morgen konnte man in der Presse die Gesichter der vermeintlichen Terroristen begutachten. Es handelte sich um drei Schüler im Alter zwischen 18 und 19 Jahren, die weniger mit Terrorismus als vielmehr mit ihrem Abitur zu tun hatten, jedoch dauerte es einige Tage, bis das Bundeskriminalamt dies der Öffentlichkeit zumindest sehr vorsichtig zu Bedenken gab, und bis dahin hatte es genug andere „Anschläge“ gegeben, die die Presse vermarkten konnten. Meist handelte es sich um Schmierereien, in zwei Fällen zündeten Unbekannte Autos oder Mülltonnen an: alles in allem waren es Geschehnisse, die kaum Aufmerksamkeit erregt hätten, wenn die Kampagne die wahnwitzige Vision eines zweiten deutschen Herbstes nicht so erfolgreich verbreitet hätte. Inzwischen wussten auch die meisten Journalisten nicht mehr, dass sie ursprünglich nur einer Ente aufgesessen waren: nicht, dass sie das gestört hätte, aber in der Tat waren die Dinge so verworren geworden, dass sich kaum jemand noch erinnerte. Auch als die Familie von Johannes B., wohl in einem letzten Versuch, die Dinge richtigzustellen,  zugab, dass Johannes B. der Obduktion nach an einer Überdosis Kokain gestorben war, änderte das nichts mehr an der Situation. Manche Medienvertreter ignorierten diese Pressekonferenz schlicht, andere witterten eine Verschwörung. Die Theorie war simpel; da die Situation immer mehr der Kontrolle der Politik entglitt, versuchte man den Tod von Johannes B. kleinzureden, zum einen, um Trittbrettfahrer zu verunsichern, zum anderen, um das Interesse der Medien auf andere Themen zu lenken. Das nun auch die Politik vermehrt von einem „großen Missverständnis“ sprach und von „nicht zusammenhängenden Ereignissen“, die falsch bewertet worden seien, stärkte diese Position eher.

Schließlich fand sich sogar eine Gruppe von Linksintellektuellen, die zwischen den unzähligen Zellen von Roter Sand und der Regierung vermitteln wollte. Natürlich hatte nie jemand von ihnen Kontakt zu dieser Gruppe, die meisten der in Geheimdienstmanier ausgetauschten Nachrichten gingen entweder an andere Linksintellektuelle oder kamen nie an. Das störte aber nicht: im Gegenteil, ohne Reaktionen von Seiten der Gruppe Roter Sand war es wesentlich leichter, vermeintliche Forderungen an die Regierenden zu stellen, die hauptsächlich die Entlohnung und Sanktionierung gescheiterter Manager betrafen. Diese wurden selbstredend nicht erfüllt: die Politik verwahrte sich dagegen, mit Terroristen zu verhandeln, nach langem Ringen und einem strengen Blick auf die politische Stimmung im Land wurden einige der Forderungen aber doch umgesetzt, aber natürlich erst einige Zeit später. Jeden Bezug zu den Anschlägen verneinte man selbstredend.

Wenig überraschend war auch die Reaktion der gesellschaftlichen Gruppe, die sich vermeintlich im Fadenkreuz sah. Die Riege der Manager und Vorstände, der man auch schon lange vor dem Tod von Johannes B. unverantwortliches Verhalten vorgeworfen hatte, hatte Angst. Und so berichteten die Medien in den folgenden Monaten kaum noch von zweifelhaften Bonuszahlungen und astronomischen Abfindungen. Dabei hatte natürlich keiner der Betreffenden eine neue Einsicht in gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeit gewonnen. Ein Kommentator drückte es so aus: Eigenverantwortung und moralische Integrität seien natürlich intrinsisch wünschenswert, gerade und vor allem in einer freien Gesellschaft.

Im Zweifel sei blanke Angst aber manchmal deutlich effektiver.

Eine Antwort zu “Die Krise und die Angst”

  1. käthe friedrich sagt:

    hallo . text ist gut. trifft den nagel auf den kopf.

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