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Er sah ganz nach unten auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte. Da war eine horizontale Linie, wie man sie oft in Büchern sah, darunter stand eine kleine Zahl; überhaupt war die ganze Schrift kleiner als die des Textes darüber. Dann waren da zwei Worte geschrieben, ein Name, sein Name. Daneben waren noch zwei kurze Sätze, eben so klein gedruckt wie die Zahl, die einige wichtige Fakten aufzählten; das war sein Leben, oder zumindest eine grobe Zusammenfassung davon. Immerhin war es eine betragsmäßig kleine Zahl, das tröstete ihn für einen Moment, eine kleine, die nur zwei Stellen hatte; aber er hatte schon weiter hinten im Buch nachgesehen, die größte war knapp dreistellig, und das war nicht wirklich beruhigend. Er las die beiden Sätze gar nicht; sie interessierten ihn nicht mehr. Er starrte nur eine Weile auf seinen Namen, ohne etwas bestimmtes zu denken. Dann suchte er wieder die Stelle, an der eine kleine, tiefgestellte Zahl auf diese, seine Fußnote verwies, und las die Zeilen darüber und darunter. Es waren keine besonderen Sätze; sie waren nicht fett gedruckt oder irgendwie auffällig, auch der Stil war nicht einmal passabel. Es war einfach ein Bericht oder etwas ähnliches, nicht unbedingt nüchtern, aber auch nicht von herausstechender Erzählweise. An irgendeiner Stelle war da also dieser Satz, dass die Protagonistin jemanden kennengelernt hatte; einen Moment lang war er sich nicht mehr sicher, wie sie hieß, und dachte an allerlei andere Menschen, aber dann fiel ihm der Name wieder ein. Nun, dort stand in simplen Worten, dass sie jemanden kennenlernte; das war er selbst. Über seinem Namen stand diese kleine Zahl, die auf die Fußnote verwies. Wenn er ein Buch las, übersprang er solche Verweise meist, wenn das nicht das Textverständnis störte; die meisten Menschen machten das wohl so.
Seine Fußnote brachte in der Tat kein wichtiges Element hinzu, dass für den Textfluß von essentieller Bedeutung gewesen wäre. Es war die Anmerkung eines aufmerksamen Verfassers, der seinem Leser jede erdenkliche Zusatzinformation liefern wollte, auch wenn er den Bericht einer Notwendigkeit folgend auf das Nötigste beschränken musste. Er fühlte sich zumindest ein wenig bestätigt, als er die Zeilen unter dem Verweis gelesen hatte; er tauchte weiterhin auf, in den acht folgenden Sätzen zumindest. Neun Sätze also, neun Sätze waren geblieben von ihm; er zählte noch einmal, ihm wurde schlecht. Aber was hatte er erwartet? Er wusste es ziemlich genau, wagte aber nicht, es auszusprechen. Es war ihm zu wenig, das gestand er sich ein, während er immer wieder diese neun Sätze las. Das Buch legte einen gewissen Wert auf die Kohärenz der Sätze untereinander, und einem anderen Leser würde es sicher so erscheinen, als beschrieben diese neun Sätze alle wesentlichen Ereignisse in nahtlosem Übergang, aber für ihn klafften da kilometerbreite Lücken selbst zwischen den Worten. Er erinnerte sich an einen Abend auf einer Brücke, im Sommer: es war heiß gewesen, und die meisten anderen Menschen waren aus der Stadt geflohen, an den nahen Badesee. So waren sie fast allein gewesen auf dieser Brücke in der Nähe der großen Kirche. Sie waren geblieben bis nach Mitternacht; er erinnerte sich noch an die Geräusche des Wassers, an das leise Gespräch. An das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben.
Er suchte nach diesem Abend; er fand ihn nicht. Er suchte in den Konnotationen, in dem Flüstern zwischen den Sätzen; auch dort, nichts.
Eine Stunde verbrachte er damit, auch wenn er schon längst wusste, das er ihn nicht finden würde. Er war einfach nicht da; und schlimmer noch, er selbst wurde sich unsicher, ob seine Erinnerung ihn nicht betrog; das Buch hatte doch keinen Grund zu lügen, nicht wahr, es war nur ein Bericht. Nach einer Weile wurde er wieder ruhiger; der Abend an der Brücke war nicht da. Natürlich war das nicht der einzige Moment, der er vermisste; er begann es kurz zu überschlagen, ihm fehlten etwa acht Monate. Acht Monate, einfach weg. Es war aussichtslos, nach ihnen zu suchen; mehr war davon einfach nicht übrig. Von ihnen beiden nicht. Er sortierte die Sätze gedanklich; einer von ihnen beschrieb, wie sie sich kennengelernt hatten. Vier fassten singuläre Ereignisse oder gemeinsame Unternehmungen zusammen, fast unfassbar grob in seinen Augen, aber zumindest las er dort die beiden Worte ‚glücklich‘ und ‚zufrieden‘. Einer beschrieb ihr Liebesleben, einer so etwas wie eine allgemeine Entwicklung, zwei das Ende. Einige Minuten versuchte er, die vier beschriebenen Momente im Gedächtnis wiederzufinden, es gelang ihm nicht. Erst als er kurz den Blick von der kalten Beschreibung abwandte, erinnerte er sich wieder, und als er danach wieder auf das Buch blickte, verzweifelte er innerlich. Es war doch ganz anders gewesen, oder? Der Zweifel wurde nur stärker, als er dann die beiden Trennungssätze las, und auch deshalb wurde er fast wütend: Es war so vereinfacht, auf so unfaire Weise vereinfacht. Er hätte gerne darüber gestritten, dargelegt, was fehlte, aber da war niemand. Nur dieses dumme Buch. Er schloss es und schob es von sich fort. Starrte eine Weile auf den Deckel, schmollend. Dann zog er es wieder zu sich heran, seufzte dabei leise. Es nützte ja nichts. Er betrachtete den Einband, den Namen der Protagonistin, dann blätterte er einige Minuten unschlüssig. Hätte er vor einem Jahr hineingesehen, vor zweien, dann wären da sicher mehr Sätze gewesen; vielleicht wäre die Fußnote sogar im Fließtext aufgetaucht. Aber das war vergangen.
Als er später wach da lag, fand er diesen Gedanken wieder: die ganze Sache war war nicht fair, ein schlechter, ein böser Scherz. Nicht nur, dass man immer nur ein Abschnitt des Leben eines anderen wurde, ein Kapitel oder auch nur ein Absatz. Nein, nicht nur das; auch schrieb jeder sein eigenes Buch beständig neu. Das lag nicht an den Menschen, sie taten es ohnehin kaum bewusst, vielmehr war der Platz in jenen Büchern begrenzt, so schien es zumindest. Kam etwas Neues hinzu, musste etwas Altes weichen; der Anstand gebot, nur Weniges ganz zu verwerfen, sondern eben zu kürzen, weiter zusammenzufassen. Nach und nach verschwanden die Details, dann die Momente, am Schluss die Menschen, die aber nur selten ganz. Meist blieb zumindest eine Art Karikatur übrig, etwas Fratzenhaftes wie diese seine Fußnote.
Man sagte, manche Erinnerungen blieben stärker als andere, und so schlug er das Inhaltsverzeichnis auf; tatsächlich, mehr als zwei Drittel des Buches schienen die Kindheit zu beschreiben. Gegen Ende wurden die Kapitel immer kürzer; beim Überfliegen fand er weiter hinten auch sehr viel mehr Fußnoten. Einige Namen erkannte er, andere waren ihm völlig fremd, und das ließ in ihm eine tiefe Beklemmung wachsen. Das war das schlimmste, dafür hätte er nicht herkommen müssen, er wusste es schon lange; das man ausgesperrt war aus dem Leben eines anderen, nicht mehr daran teilhaben konnte, das war schlimmer als alles andere. Er las die Fußnoten, die zu den Unbekannten gehörte und versuchte, sich dadurch ein Bild von ihnen zu machen. Für einen Moment gelang es, es gefiel ihm sogar – und schockierte ihn im nächsten Augenblick so sehr, dass er fast erwacht wäre. Wenn er das konnte, dann war es auch anderen möglich. Noch schlimmer, andere Leser würden seinen Namen lesen, seine Fußnote, sie würden sich ein Bild machen. Er dachte daran, was sie dann sagen würden: Ja, würden sie sagen, so ein Mensch war das also, deshalb konnte es nicht gutgehen, ja, man sieht es gleich, das ist eine stimmige Geschichte.
Zitternd blätterte er zurück zu der Seite, auf der er auftauchte und nach neun Sätzen wieder verschwand. Er nahm sich vor, die beiden Seiten davor und danach zu lesen: Er achtete darauf, keine der Zahlen unten auch nur aus den Augenwinkeln zu betrachten. Zunächst deprimierte ihn die Schilderung nur noch mehr, doch dann verglich er die beiden; es war in dem trockenen Sprachstil schwer zu erkennen, und er war sich nicht sicher (und würde sich nie sicher sein), ob es nicht mehr sein Wunsch war als etwas, das wirklich in dem Buch zu finden war. Natürlich fand er keine direkten Verweise auf seine Person; abgesehen von dieser einen Seite, den neun Sätzen darauf und der Fußnote existierte er in der Schilderung schlicht und einfach nicht. Doch wenn er den weiteren Verlauf ihres Lebens las, dann erkannte er eine Art Ablenkung, eine Veränderung, subtil und kaum zu erkennen, als ob die gekreuzten Wege ihren Pfad abgelenkt hatten. Vielleicht war es wirklich nur sein frommer Wunsch, aber die bloße Möglichkeit ließ ihn lächeln. Es war kein gelöstes Lächeln, es war zerknittert und hatte Risse, aber immerhin war es ein Lächeln. Noch einmal sah er auf seine Seite hinab, las die brutalen Sätze. Dann schloss er das Buch, hielt es für einige Minuten in den Händen und dachte noch einmal an all die Dinge, die wenigstens in seiner Erinnerung noch existierten. Dann stand er auf und stellte das Buch in ein Regal, das Sekunden vorher sicher noch nicht da gewesen war. Das machte nichts; er wusste inzwischen, dass er träumte.
In dem Regal waren noch andere Bücher, auch das verwunderte ihn nicht mehr. Ein Einband fiel ihm sofort ins Auge; sein Name stand darauf. Er hatte die gleiche Farbe und war, bis auf den Namen, fast nicht von dem anderen zu unterscheiden.
Als er Sekunden später erwachte, schämte er sich. Noch halb im Schlaf versuchte er, die Menschen auszumachen, die für ihn zu Fußnoten geworden waren. Es dauerte eine Weile, aber dann fielen ihm ein paar Namen ein; ja, es war wirklich beschämend. Neben den Namen fielen ihm nur kurze Beschreibungen ein – zwei oder drei Zeilen. Wie gemacht für Fußnoten.

Eine Antwort zu “Was bleibt”

  1. […] gelesen und kann dies uneingeschränkt weiterempfehlen. Ein Eintrag über Menschen und das, was bleibt. Das Verblassen, in den Hintergrund rücken, das schlichtwege Vergessen. Das, was bei manchen […]

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