Die Nacht
Vor ewiger Zeit, als die Sonne noch jung war und ihre Strahlen die immer helle Erde erleuchtete, da gab es noch keine Nacht: Der Tag blieb für immer, die Nacht war noch nicht erfunden. Es gab damals auch noch keine Menschen, die Schöpfung war noch nicht ganz fertig mit ihm.
Eines Tages jedoch, da stand in einer weiten Ebene der erste von uns; unsicher noch blickte er sich um, sah all die Schönheit der Welt, ahnte noch nicht, dass er es sein würde, der diese Schönheit eines Tages ganz und gar beherrschen, sie vielleicht sogar zerstören würde.
Es muss an diesem Tag gewesen sein, dass er zum ersten Mal Abend wurde auf Erden: noch wurde es nicht ganz Nacht. Die Nacht stand auf der Türschwelle des Lebens und zögerte noch einen langen Augenblick, bevor sie eintrat. Und so wurde es nur Abend: Die Sonnenstrahlen bekamen einen rötlichen Beiklang, und ihr Körper schien ferner als sonst am Rande des Horizonts zu stehen. Die meisten Tiere ängstigten sich an diesem ersten Abend, verkrochen sich in Erdlöchern oder Nestern. Nur der Mensch stand weiterhin in der Ebene, immer noch neugierig, und starrte in die rote Glut.
Dann, nach Wochen, da trat die Nacht zum ersten Mal auf die Bühne. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, und die Nacht legte sich mit ihrem prächtigen Kleid über die Welt. Die elegante Kälte ihrer geschwungenen Formen ließ den Menschen zittern, doch der Schöpfer schickte einen Blitz, welcher das erste menschliche Feuer entzündete. Der Mensch nahm es dankbar an und lernte schnell, es zu nutzen. Wenn die Nacht kam, so legte er neue Scheite auf und setzte sich davor; wenn sie ging, achtete er darauf, dass es nicht ganz verlosch.
Es war für lange Zeit das einzige Feuer, das auf der Erde loderte, und das muss der Grund gewesen, weshalb sich die Nacht entschied, nach Einbruch der Dämmerung zu dem Menschen zu reisen, ganz in seiner Gestalt.
Das wusste der Mensch natürlich nicht; er saß nur wieder an seinem Feuer, starrte hinein und wartete darauf, dass es wieder hell wurde. Für ihn war noch nicht ganz sicher, dass der Tag wiederkehren würde, und deshalb war es nie langweilig, dort zu sitzen, am Feuer, und auf den Tag zu warten.
Doch irgendwann bemerkte er, dass jemand neben ihm saß; er konnte diesen anderen nicht sehen. Wenn er hinblickte, dann war da nur Schwärze, als wäre dort ein Loch, aus dem kein Licht hervor drang. Doch aus den Augenwinkeln sah er etwas anderes; es dauerte eine Weile, aber schließlich erkannte er eine Person, eine Frau. Er wusste nicht, was eine Frau war; Geschlechter waren erst viel später erfunden worden, aus einer Laune heraus. Er erkannte in dieser Frau nur die Ähnlichkeit zu sich selbst, und war tief von ihre Schönheit berührt. Sie trug einen Schleier vor dem Gesicht, doch die Züge darunter waren von solcher Anmut, dass er sie nie wieder vergessen würde. Noch heute trägt jeder Mensch einen Teil dieser Erinnerung bei sich, und manchmal stolpern wir über sie, wenn wir einen anderen Menschen ansehen.
Natürlich war ihr Kleid schwarz, und dunkle Steine funkelten darauf wie die Sterne.
Der Mensch und die Nacht saßen eine Weile so um das Feuer herum, und niemand sagte etwas. Schließlich beschloss der Mensch, das Schweigen zu brechen, und nach einigem Nachdenken über die seltsame Besucherin sagte er schließlich:
„Ich denke, ich habe euch jetzt erkannt; Ihr seid die Nacht, nicht wahr?“
Die Nacht lächelte, und ihre Zähne waren von so blendendem Weiß, dass er wegschauen musste.
„Ja, die bin ich wohl. Verzeiht mir meinen Spaß; ich wollte sehen, ob es stimmt, was man von euch Menschen sagt. Und ja, in der Tat seid ihr nicht dumm.“
Einige Minuten schwiegen sie wieder, dann sprach die Nacht weiter.
„Schon oft sah ich dein Feuer, Mensch, und ich wollte kommen und es aus der Nähe sehen. Seine Wärme beruhigt auch mich von Zeit zu Zeit, wenn ich durch die Täler streife oder das Unterholz durchstöbere. Du musst wissen, noch nie habe ich den Tag gesehen und die strahlende Sonne, von der die Tier soviel flüstern, wenn ich die Dunkelheit bringe. Ist es der Sonne ähnlich, dieses Feuer?
„Ein wenig schon, aber sie ist größer, viel größer. Und sie ist noch schöner.“ antwortete der Mensch, dann herrschte wieder Stille.
„Ich würde dir gern eine Frage stellen, Nacht.“, sagte er schließlich, „Warum tust du, was du tust?“
Die Nacht lächelte wieder, und der Mensch fuhr fort: „Es ist kalt, wenn du kommst. Die Dunkelheit bringt vielen Tieren den Tod, und selbst in mein Herz zieht sie von Zeit zu Zeit ein. Ich halte mein Feuer nicht nur der Wärme wegen in Gang; auch mein Geist braucht dieses Licht in der Dunkelheit. Am Tage ist da die Sonne, die mich wärmt und die Einsamkeit vertreibt, aber wenn du kommst, dann sitze ich vor meinem Feuer und bin allein.“
Die Nacht streckte die Hand aus, und zwei behandschuhte Finger berührten den Menschen kurz; es war nicht so kalt, wie er erwartet hatte, und er erkannte das Mitgefühl in ihrer Geste.
„Nur wegen dir bin ich geschaffen worden; es war der Tag deiner Geburt, an dem auch ich in die Welt geworfen wurde.“
„Aber warum? Wozu..“, unterbrach der Mensch, doch eine sachte Berührung ließ ihn verstummen.
„Du weißt es noch nicht, aber du und deiner Kinder, ihr werdet groß werden auf dieser Welt, größer als die Erde vielleicht sogar; ihr werdet sie formen und gestalten; die Sterne erzählen schon davon, wenn man ihnen nur genau zuhört. Deine Kinder werden die Schönheit in der Welt sehen und deshalb weinen; kämpfen; lieben sogar. Ihr werdet nicht sein wie die Tiere, ihr werdet eure Pfade selbst wählen können. Nicht immer werdet ihr die richtigen finden, und deshalb bin ich hier.“
Sie sah, dass der Mensch nicht verstand, und sprach weiter: „Siehst du, noch bist du frei, und für eine Weile wird dies auch noch so bleiben. Bald jedoch werden andere kommen, und ihr werdet langsam lernen müssen, zusammen zu leben. Ihr werdet Unterkünfte bauen, später Städte. Ihr werdet euch mißverstehen, euch bekämpfen. Ihr werdet euch in die Arme nehmen. Vieles von dem, was ihr tun werdet, wird nicht das richtige sein: Und deswegen wurde ich geboren.“
„Wirst du uns dann den Weg zurück weisen? Wirst du unsere Fehler erkennen und wiedergutmachen?“
Die Nacht blickte einen langen Moment in die Glut, und der Mensch sah so etwas wie Schmerz in ihren Augen.
„Nein, das ist mir nicht möglich. Ihr selbst werdet eure Fehler erkennen müssen, nur dabei kann ich euch helfen. Wenn ich komme und mit mir die Dunkelheit, dann wird das deinen kampfeslustigen Söhnen Tränen abnötigen. Sie werden in ihren Betten liegen und sich fragen, was sie getan haben. Den Armen und Verbitterten dagegen bringe ich den sanften Mantel des Vergessens und der Auflösung; den Hochmütigen bringe ich Träume vom Fall. Dichter werden auf mein Kleid starren und ihre eigenen Ideen darin erblicken. Schlechte Menschen werden versuchen, sich in ihm zu verstecken und dabei nie sich selbst entkommen. Alle, alle deine Kinder werden während meiner Herrschaftszeit Rechenschaft ablegen müssen, vor sich selbst. Sie werden sich fragen, ob sie auf dem richtigen Pfad sind. Die Verzweifelten werde ich trösten; die Schlechten werde ich quälen, bis sie bereuen. Das ist meine Aufgabe, mein Zweck.“
Es wurde wieder still; nur das Atmen des Feuers war noch zu hören. Eine Sternschnuppe zog über den Himmel, dann eine zweite.
Schließlich wollte der Mensch noch eine Frage stellen, doch da war niemand mehr, dem er sie hätte stellen können.
Sehr schöne Fabel, ich sie selber ein Mal anders geschrieben habe. Grausamer