Kirchenschiff
Hier scheint der Begriff des Kirchenschiffs nicht aus der Luft gegriffen oder zufällig; er bekommt eine echte Bedeutung. Ja, dies ist ein Schiff, 40 Meter lang, 20 Meter hoch. Es bewegt sich kein Stück nach vorne, und doch fährt es unter vollen Segeln. Die einzigen Fenster, links und rechts und ganz vorne, sind blind, so groß sie auch sind. Aber man muss auch nicht hindurchsehen können; es wäre sinnlos. Da ist kein Ziel, keine Küstenlinie auszumachen, nichts, was man sehen könnte. Und dennoch steuert dieses riesige Schiff mit seiner Besatzung auf etwas zu. Es ist ein Leuchtturm, oder mehr ein Leuchtfeuer; man kann es nicht sehen, und doch strahlt es hell. Es ist wie mit den alten Schatzkarten, man sieht das Ziel nur, wenn man ein Eingeweihter ist. Und trotzdem gibt es keine Rätsel auf, keine Aufgabe, die man für das Verstehen lösen müsste. Um dieses helle Flamme zu sehen, muss man das einfachste oder vielleicht schwerste tun, wozu ein Mensch nur fähig ist; man muss glauben. Wer an den Leuchtturm und sein weit entferntes Licht glaubt, der erkennt das Ziel des Schiffes. Nicht seine Route, aber immerhin den Endpunkt, den Ort, an dem die Reise enden soll. Hat man es einmal gesehen, so ist man Teil der Besatzung; man muss nicht immer an Deck bleiben. Es reicht, sich ab und zu dort zu treffen, die Erinnerung daran wachzuhalten. Manchmal mag man den Glauben an dieses Licht verlieren; das ist leicht. Nichts ist leichter als der Zweifel. Es reicht ein Windhauch, und der Nebel schiebt sich wieder davor. Von Zeit zu Zeit geschieht es, dass viele zweifeln; dann sind da zu wenig Matrosen, um den Kurs zu halten, denn kaum einer weiß noch, wohin es geht. Es ist schwer, ohne eine Route zu manövrieren; unmöglich ist es, es ohne die Gewissheit des Leuchtturm zu tun. Manchmal zerschellen dann Schiffe an den Klippen, oder sie laufen auf Grund. Diejenigen, die zweifeln, retten dann gerade noch ihr Leben auf ein Eiland, dass direkt vor ihren Füßen beginnt. Dort bleiben sie, ihr Leben lang vielleicht. Manchmal denken sie noch an die Fahrt, aber jeder Schiffbrüchige wird nach einer Weile sesshaft, und so vergessen sie sie irgendwann einmal.
Diejenigen, die immer noch von der Reise überzeugt sind, werden von anderen Schiffen aufgelesen oder versuchen es auf eigene Faust, auf einem kleinen Floss; zurück bleibt nur das zerbrochene Schiff, viele gibt es davon. Sie alle liegen geborsten herum, in den Städten, auf dem Lande. Aus ihren Planken dringt nur der schale Geruch von Tod; ihre Gesangsbücher schweigen.
Wer die Fahrt in Gemeinschaft fortsetzen will, der findet auch eine Besatzung, an einem anderen Ort vielleicht. Er ordnet sich ein, schaut wieder auf den Leuchtturm.
Das scheint Außenstehenden absurd; die Reise, das Schiff, das Leuchtfeuer, alles.
Doch absurder noch als ein Schiff, dass sich auf seiner Reise nicht vom Fleck bewegt oder ein Ziel, zu dem es keine oder tausende Routen gibt, ist die Abwesenheit der Trauer.
Man stellt es sich so vor; ein Reise zu einem unbekannten Ziel, von dem man nur ein Licht, eine Verheißung kennt. Eine nie befahrene Route, an deren Rändern Untiefen und Strudel lauern, Dämonen und Felsen. Es schwebt einem eine Trauer vor, die tiefe Melancholie einer Unwissenheit, pechschwarze Nacht, das Keuchen der Männer und Frauen, die in der Flaute rudern müssen. Aber da ist nichts davon; weder Mühsal noch Melancholie.
Ganz im Gegenteil; es ist eine seltsame Art von Glück, die die Besatzung umfängt, und diese tiefe Zufriedenheit ist die Grenze, die den Besucher vom Matrosen trennt, unaufhebbar. Man kann sie sehen, diese Hoffnung, wenn man sich umschaut; die Anwesenden zerfallen leicht in die beiden Gruppen, wenn man auf ihren Blick achtet. Wir, die Besucher, sind hier wirklich nur Gäste; begrenzt im Verstehen, blicken wir auf eine seltsame Welt.
Wir sind alle nur Seeleute s. Passagiere auf einer Fahrt, die sich im Geist und in der Zeit erstreckt. Der Raum der Welt ist nur die Schaubühne dieser Reise. Abenteuerlust & Glaube fallen hier zusammen. Außerdem eine gelungene Adaption eines bekannten Kirchenlieds. Ich wünsche Meeresstille* und glückliche Fahrt!
* cf. Griechisch „galene“, aber ich hoffe doch, der Hinweis war überflüssig 😉
Oh, das wusste ich gar nicht. Wie heißt es, das Lied?
Und Grieche bin ich noch nicht, ich brauche es aber für den BA auch nicht mehr 😉
Das Lied heisst „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“ (M. G. Schneider, 1963), was ich so viele Jahre nach meiner Entkirchlichung allerdings für viel älter hielt, weil ich es mit „Es kommt ein Schiff, geladen“ (Joh. Tauler, 14. Jh.; D. Sudermann, 1626) vermischt hatte. (Einfach nach den Titeln googeln.) – Ach ja, mit jedem Jahr geht man mehr auf die Indifferenz zu, obwohl es heisst, dass ein verwesender Leichnam viel komplexer als ein lebendiger Körper sei. – Jedenfalls kann man es als Übertragung deuten. Ich habe mich zum Glück zurückgehalten, wollte nämlich schon spekulieren, wann Du wohl Christ wirst … . 😀
Meine vielen Wortspiele bzw. Anspielungen … Über den Wiki-Artikel zum griechischen Wort „galene“ kommst Du in die Philosophie (war bes. in der Stoa wichtig), wenn Du nach dem deutschen Wort „Meeresstille“ suchst, kommst Du zu Goethe, Beethoven und Mendelssohn-Bartholdy. Ob Goethe bewusst auf die Galene anspielte, weiß ich allerdings nicht.