Der stille Begleiter
Ich grüße dich,
Ich weiß nicht genau, auf welche Weise ich dich ansprechen soll, und vielleicht sollten wir diese Frage – vielleicht meine einzige – zuerst behandeln.
Sie scheint eine der elementarsten Fragen der Kommunikation zu sein, geht notwendigerweise meist ihr voraus, und so mag es manchem merkwürdig erscheinen, dass ich einen Brief verfasse, ohne sie beantworten zu können:
Wer bist du?
Wer bist du, Adressat dieses Briefes?
Ich bin mir sicher, ich kenne dich, ich weiß, du kennst auch mich. Wir sind schon lange miteinander bekannt, du und ich, ja, soviel steht fest. Denn niemand, keiner außer dir weiß soviel über mich wie du; du kennst mehr meiner Schwächen als meine Freunde und mehr Geheimnisse als meine Vertrauten. Oft scheinst du mir sogar in Dinge eingeweiht, von denen selbst ich nur weiß von Zeit zu Zeit.
Wenn ich gehe, so gehst du neben mir, wenn ich reise, so reist du mit mir. Selbst in meinen Träumen bist du bei mir, einige beherrschst du sogar.
Und dennoch kenne ich deinen Namen nicht. Auch weiß ich nicht, wo du wohnst, oder was du tust wenn ich tief und traumlos schlafe.
Lass mich auch fragen;
Von welcher Natur ist deine Person? Bist du ganz Einbildung? Bist du real? Liegt die Wahrheit vielleicht dazwischen?
Manchmal denke ich, wir könnten Zwillinge sein; oder anders, zwei Teile von einem Ganzen, Zerbrochenen. Ja, vielleicht ist diese Vorstellung der Wahrheit nah; wir sind die beiden Teile eines Gemäldes, eines Ganzen. Natürlich sind wir verschieden; ein bisschen wie Feuer und Wasser an vielen Tagen. An manchen raufen wir sogar miteinander im Kampfe, und oft bist du der Stärkere.
Trotzdem, wenn ich so in den Spiegel schaue, so sehe ich dir ein wenig ähnlich, denke ich, auch wenn ich dich natürlich noch nie gesehen habe. Es ist mehr ein Gefühl als eine Wahrnehmung. So siehst wohl auch du aus, das denke ich mir dann und sehe etwas Vertrautes in meinem Spiegelbild. Es ist wie in manchen Momenten, wenn wir zusammen an einem fremden Ort sind; wenn ich dann plötzlich deine unsichtbare Hand auf meiner Schulter fühle, so warnend, da erkenne ich dich in mir selbst.
Es ist merkwürdig – sind wie verwandt, sind wir von derselben Art? Oder erliege ich einer Täuschung und wir haben nichts gemein? Ich weiß es nicht, und deshalb schreibe ich dir diesen Brief.
Sind wir Freunde? Es besteht kein Zweifel, du bist mir oftmals überlegen, aber bist du mir auch freundlich gesonnen? Ich frage nicht ohne Grund, wie könnte ich. Manchmal scheinst du mich beschützen zu wollen, ergreifst mich mit den Armen und zerrst mich weg von manchen Plätzen oder Menschen; und auch wenn ich dann die Furcht spüre, das Ausgeliefertsein, so meine ich doch eine gute Absicht dahinter zu erkennen. Du packst mich nicht nur grundlos, machst mir nicht aus einer perversen Freude heraus Angst, du willst mich vielmehr vor größerem Schaden schützen, der mir die Nähe anderer Menschen bringen würde; ja, das möchte ich gerne glauben.
In anderen Momenten aber verstehe ich dich nicht, ich sehe den Sinn in deinem Tun nicht, und dann scheinst du mir fast brutal; du scheinst in manchen Augenblicken nur zu warten, auf den richtigen, den passenden, den schwachen Moment zu warten, indem ich dir gerne zuhöre und all das tue, was du sagst. Fast so, als wäre ich nur noch und ganz Du. Oft erscheint mir dein – mein Handeln dann widersinnig, gar selbstzerstörerisch, von einer undifferenzierten Gnadenlosigkeit getrieben.
Daher weiß ich es nicht; bist du Freund oder Feind?
Bitte gib mir Antwort, ich bitte dich darum. Bedenke; du scheinst soviel über mich zu wissen, aber ich weiß nur so wenig über dich – obwohl ich jeden Tag mit dir leben muss; das scheint – vielleicht – auch dir nicht fair.
Wartend, ein Freund(?)
Mein erster Gedanke war Schatten, aber der wird wohl nicht gemeint sein *hehe* (beim sporadischen, nächtlichen Überfliegen)