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Wenn er so hinaufsah, dann erschien ihm dieser leuchtende Fleck am Himmel immer noch realer, realer als all das hier, realer als die leuchtenden Gebäude oder die großen, städtischen Adern aus Licht.
Eigentlich gab es auch nicht mehr als diesen kleinen Stern, der dort knapp über dem Horizont hing, nicht mehr, nicht für ihn.
Stundenlang konnte er so dastehen, vor den hohen Zäunen des Centers, und diesen Punkt dort betrachten, während seine Finger still die Münzen in seiner Tasche zählten.
Zu einer weit entfernten Welt gehörte er, dieser Fleck am Himmel, unvorstellbar weit entfernt. Durch eine große, kalte Leere müsste man reisen, um sie zu erreichen, es wäre eine lange Reise, wenn auch nur ein Katzensprung auf den Skalen des Universums.
Fremdartige Wolken bedeckten sie, diese andere Welt, entzogen sie jedes direkten Blickes, und verborgen darunter lag eine unwirkliche, rot-braune Ebene aus Fels und Gas.
Stünde er dort, ein schwerer, heißer Wind aus Gift und Gas würde ihn umhüllen, nicht zu vergleichen mit irdischen Stürmen oder gar der lauen Brise, die an solchen Abenden die Fahnen des Centers sachte flattern ließ, es war ein extremer Ort, ja, aber dafür auch kaum ambivalent, von konsequentem, fremdem Gemüt.
Und deshalb war diese Welt für ihn erstrebenswerter und wahrhaftiger als alles auf diesem blauen Planeten.
Dem irdischen Leben gewann er schon lange nichts mehr ab, all den vielen obszönen Details und den Verworrenheiten, den komplexen Bindungen, die Menschen einzugehen pflegten, den Ausflüchten, die sie alle für ihre Fehler und Laster vorbrachten. Auch er war einmal so gewesen, eine Ameise, die auf einem blauen Ball umherlief ohne nach oben zu schauen, damals, bevor seine Frau weggegangen war. Doch schon lange war das her, und er vermisste ihr Gesicht kaum noch.
Nein, sein Streben galt einzig und allein noch diesem Fleck dort oben, sie beide verband etwas, fühlte er, ihr Schicksal musste verknüpft sein.
Und auch wenn kein menschliches Auge sie je erblickt hatte, diese andere Welt, und auch wenn sie jedem menschlichen Leben die Existenz verweigern würde, in seinen Gedanken und Träumen existierte nur noch sie, und manchmal glaubte er, beinahe eine Geliebte, eine Liebe von fremdartiger Schönheit in diesem flimmernden kleinen Fleck zu erkennen.
Eine ‚Göttin‘ hatte die Antike sie genannt, eine von großer Schönheit, obwohl man damals nur ihren fahlen, fernen Schein in der Dämmerung gekannt hatte, nichts gewusst hatte von Gestirnen oder Instrumententrägern.
Anders als die Menschen der Antike hatte er natürlich die Aufnahmen gesehen, die ihre nichtmenschlichen Besucher von ihr gemacht hatten, Bilder von bedrückender Feindlichkeit, in stechend-gelangweilten Farben, ganz anders als in der Vorstellung der Antike. Doch in seinem Geiste sah er ein anderes Bild, ein ähnliches zwar, aber ein wenig heiterer, etwas verschoben, von einer tiefer liegenden Ästhetik gezeichnet, gesegnet.
Eine entstellte Schönheit blieb schön, wenn es echte Schönheit war, das glaubte er. Und so sah er in diesem hellen Fleck nicht den säureummantelten Vorhof der Hölle, den manche seiner Mitarbeiter sahen, er konnte und wollte nicht, und so verschwieg er ihnen meist seine Gedanken. Trotz der Widrigkeiten und all der Umständen; sie blieb ein warmer, ein seltsam mythischer Ort inmitten einer großen kalten Leere.
Er war sich sicher; eines Tages würde er dieses große Nichts durchqueren, das die physische Welt auszumachen schien, in einem unsicheren, winzigen Gefährt. Und nach einer langen Reise würde er sie schließlich erreichen. Sie würde ihn sicher herzlich aufnehmen, auf ihre Weise.
Und dann würde er für immer bei ihr bleiben.

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