Kategorie 'Kleine Serien'

Discontra (I)

Diesen Artikel drucken 16. Juni 2006

Dieser Ort schien tot zu sein, doch im eigentlichen Sinne dieses Wort war er es ganz und gar nicht, war er doch bevölkert von vielen Menschen, die sich – wenn auch nur an manchen Abenden – durch die schmalen Gänge schoben zu der lauten Musik, die in der Luft hing, eine einzige, lebende, fluktuierende Masse, die sich unregelmäßig, aber doch konsequent in dem harten Takt wog, Hunderte Individuen, wenn man genau hinsah, nur ein Meer aus Fleisch und Kleidung, wenn man nur einen halben Blick darauf warf, um die stickige Luft aus den Augen fernzuhalten. Manchmal konnte man etwas erkennen, im Halbdunklen, etwas Unbekanntes, Erschreckendes, doch dann verschwand es wieder im milchig-trüben Dunst, und was blieb war nur noch eine leere Hülle aus Menschen, tausendfach kopiertes Lachen und Gröhlen, eine laut aufheulende Masse, in der jeder Schritt eine Lüge war und doch mehr Gewicht hatte als irgendeine Wahrheit.
An diesem Ort wurde schon soviel Lachen gespendet und soviele Tränen vergossen, dass es der Mühe nicht mehr wert wäre, soviele Geschichten hatten diesen Raum durcheilt, dass er schließlich kalt und bitter geworden war, kein Erzähler vermochte noch dieser Geschichtenmaschine den faden Beigeschmack des Schon-Da-Gewesenen nehmen, des Trivialen und des Kopierten, aber das beunruhigte hier niemanden mehr, im Gegenteil, er konnte sie nie des Eindrucks erwehren, dass es genau das war, was die Menschen hier her zog, dieses dumpfe Gefühl der Gleichheit, der Indifferenz, der Irrelevanz der eigenen Geschichte, vielleicht war das wirklich der Grund, warum die Menschen in diesem stinkenden, verschwitzten Nebel nebeneinander standen, dicht aneinandergedrängt und doch weit von einander entfernt.
Er schob eine der vielen Flaschen hinter ihm zu sich heran, stellte sie auf die Theke, lächelte dem Augenpaar vor sich zu, nahm die blauen Scheine und wand sich wieder ab von dem Geschöpf, das sich kurz aus der Masse gelöst hatte, er blickte ausdruckslos zu den armen Kreaturen, die in den spitzen Winkeln hockten oder halb lagen, in eine tiefe Bewusstlosigkeit versunken. Er erinnerte sich an einige Steinwesen, die er vor Jahren gefertigt hatte, allein in seiner Werkstatt, hohe kantige Gesichter und Körper, deren Ausdruck halb im nur unfertig bearbeiteten Marmor verschwanden, als wären sie nur unvollständig dem Kerker einer anderen Welt enteilt, ja, er rief sich ein amorphes Gesamtbild der Gäste zurück in den Geist, da war eine gewisse Analogie, eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Vorstellungen, auch die Wesen in diesen seinen Räumen lösten sich unvollständig aus diesem verdrehten Kollektiv, nur ihre Köpfe schienen bis zur Theke zu gelangen, nein, weniger noch, das Halbdüstere schuf die Illusion von gesichtslosen Augenpaaren, alles andere, alles Materielle und alles Immaterielle blieb im Halbdunkel bedeckt und warf nur groteske, laute Schatten auf die Massen hinter sich. Doch während die grausamen Züge seiner Steinwesen mehr seinen unvollkommenen Fähigkeiten entsprungen waren – das hatte er lange schon anerkannt – , so waren sie hier Teil des Spiels, Teil des – Rituals, vielleicht war das ein gute Ausdruck für diesen Ort, ja, es war ein Ritual der Neuzeit, das hier stattfand, an jedem freien Tag. Er nahm einen Schluck und beobachtete ruhig, wie Wände einen Moment lang einzuknicken begannen, sich konvulvisch um die Menschenmassen zu schließen begannen.
Freilich war dies kein klassisches Ritual, keines, das man in Geschichtsbüchern oder Romanen finden konnte, denn seine Basis war nicht mehr die Gemeinschaft, sondern vielmehr die Einsamkeit, es berief sich nicht mehr auf das Sakrale oder das Sexuelle, sondern nur noch auf die momentane Indifferenz, die sich ähnlich einer Kettenreaktion an einer kritischen Masse, einer bestimmten Menschenmasse realisierte und genauso unvermittelt entstand wie auch verschwand. Und dennoch, es erinnerte ihn ein wenig an die grausamen Traditionen der alten Kulturen, der Maya etwa, denn wenn hier auch niemand wirklich starb, so waren die Ähnlichkeiten doch da, dies war kein Ritual der zivilisierten Kultur oder der organisierten Religion, nein, über diesem Platz schwebte im Rauch verborgen auch der Dunst des Archaischen. Dieses Ritual warf kein Zeichen des Lichts, der Natur oder der Elemente zurück, es war keineswegs dem Leben zugewandt, nein, dies war eine Feier, eine Prozession des Todes und der Dunkelheit, des düsteren Rausches und des Von-Gott-Getrennt-Seins, das gab dieser Szenarie oder besser diesem Szenario seinen okkulten Charakter, und ja, auch deshalb konnte es unmöglich draußen stattfinden, unter freiem Himmel und den Augen aller, die Verschwörung und das Geheime verbargen sich nun mal immer an den dunklen Orten, selbst wenn das Geheimnis so offenbar und simuliert war wie dieses hier.

Ein Gebäude (1)

Diesen Artikel drucken 12. Oktober 2005

Wenn es etwas leiser ist, nachts etwa, oder auch an Feiertagen, da kann man es atmen hören, kann das millionenfache Drehen der Lüfter und Klimaanlagen, das leise Surren der Neonröhren hören. Es ist noch nicht sehr alt, auch wenn Alter kein Begriff ist in seinen Dimensionen, und so ist es auch recht stolz auf sich, auf seine staatliche Größe etwa, 65 Meter hoch ragt es in den Himmel, oder auf die tausend spiegelnden Fenster mit ihren funkelnden Stahlrahmen. Manchmal, wenn es sich langweilt, da zählt es die Räume in seinem Bauch, betrachtet die kilometerlangen Gänge mit ihrem glänzenden Linoleumboden, die vielen kleinen Winkel. Menschen und ihr Tun finden weniger sein Interesse, auch wenn es glaubt, eine gewisse Ehrfucht bei den Menschen zu wecken. Jeden Tag, jede Stunde verschluckt es viele Hundert Menschen und trägt sie in seinem Bauch durch die Zeit, manche spuckt es nach Stunden oder Tagen aus, andere behält es für immer. Das erscheint ihm sehr merkwürdig, und manchmal fragt es sich, was die Menschen immer wieder in seinen Bauch treibt. Vor einiger Zeit haben die Menschen seine Balkone vergittert, weil manche Menschen wohl heruntergefallen sind, wie es gehört hat, auch wenn es nicht versteht, was ‚fallen‘ in diesem Zusammenhang bedeutet. Es erinnert sich nur an die Lachen, an die roten Lachen in seinen Innenhöfen, und es erinnert sich gerne daran. Aber die Menschen haben jetzt Gitter vor seine Augen legt, und das hat es sehr wütend gemacht, so wütend, dass es in dem Bereich, den die Menschen „Quarantänestation“ nennen, die Luft angehalten hat. Einige Stunden später kam ein Mensch, der den Lüfter austauschte; es hasst, so behandelt zu werden, aber die Menschen haben nun einmal die Kontrolle über seine Teile, das kann es nicht leugnen. Und wenn es sich wieder einmal über diese Menschen mit ihren merkwürdigen Tätigkeiten geärgert hat, dann beruhigt es sich wieder bei dem Gedanken an sein Hobby.
Es weiß natürlich nicht, was die Dinge bedeuten, die die Menschen in seinem Bauch tun. Natürlich hat es aber darüber nachgedacht, und letztlich ist es zu dem Schluß gekommen, das es gar nicht verstehen kann, was die Menschen da tun. Es kennt den Begriff „Konstruktion“ und auch seine Bedeutung, auch weiß es, dass es selbst ein Konstrukt ist; nichtsdestotrotz versteht es keine konstruktive Tätigkeiten, wie es das nennt. Das hat es bemerkt, als auf den anderen Straßenseite ein Haus gebaut wurde. Es konnte einfach nicht den Gesamtzusammenhang dessen, was dort drüben geschah, verstehen und so wachte es eines Morgens auf und sah das neue Gebäude dort stehen. Und so vermutet es nun seit geraumer Zeit, es könnte es sich auch hierbei um konstruktive Tätigkeiten handeln. Es ist keineswegs traurig, dass sein Geist die Menschen nicht gänzlich durchdringen kann; es sei natürlich, nur natürlich, dass eine Konstruktion keine Konstruktion versteht, argumentiert es häufig, es ist ein recht weiser Philosoph geworden. Ein ordentliches Konstrukt habe destruktiv zu sein, glaubt es.
Vor einiger Zeit hat es bemerkt, dass es einen Teil der Menschen in seinem Bauch manipulieren kann. Es fing an, als es unter den Menschen dort unten einige junge bemerkte, die erst freudig und schnell, später träger und älter durch seine Flure huschten und aus großen, schweren Büchern Dinge lernten, die das Gebäude nicht verstand. Zunächst war es verwundert, warum diese kleinen Menschen offensichtlich so viel lernten, dass es ihnen mehr eine Last denn als eine Freude wurde, aber in dem Punkt hat es beschlossen, die Verrücktheiten der Menschen einfach hinzunehmen. Und so versuchte es nun von Zeit zu Zeit, am Morgen so laut wie möglich zu atmen, damit seine kilometerlange Stahlfront noch bedrohlicher und überlegener vor den kleinen Menschen aufragte. Es war ihm eine große Freude zu sehen, welche Wirkung das auf die Menschen hatte, und so fand es ein Hobby. Es fand schnell viele Mittel und Wege, diese kleinen Insekten in seinem Bauch zu manipulieren, so ließ es ab und zu einige Türen offen, so dass der Wind durch seine Adern fegte und ein tief melancholisches Geräusch schuf. Dann sah es zu, wie die kleinen Menschen mit ihren Büchern noch hoffnungsloser in ihre Stühle rutschten und lachte laut auf.
Manche von den kleinen Menschen fielen irgendwann von den Balkonen, es verstand nicht warum, aber eine große Rolle spielte das auch nicht. Sie waren dann weg, und das war gut so, es mochte keinen der Menschen. Sie hatten nicht das Recht, in seinem Bauch ihr verrücktes Leben zu führen, davon war es überzeugt. Jetzt aber haben sie die Balkone vergittert, und sofern das Gebäude richtig verstanden hat, konnte jetzt niemand mehr herunterfallen, wie sie das nannten. Es war sehr erregt darüber gewesen, aber inzwischen hat es sich wieder etwas beruhigt. Es muss ständig darüber nachdenken, ob die Menschen nicht auch von seinem Kopf, dem Dach, fallen könnten, es weiß darüber nicht genau Bescheid, hält es aber für plausibel; es hofft, dass seine Theorie richtig ist, und nach allem, was es erlauschen konnte, wäre das auch gut möglich.
Und so liegt es immer noch jeden Abend zufrieden in der Dämmerung, fast so wie ein großes Raubtier, und schläft langsam ein, dimmt die Beleuchtung, dimmt auch das bienenstockartige Summen der Lüfter etwas, und wenn man genau hinhört, dann kann man es leise im Traum flüstern hören, flüstern hören von Lachen in seinen Innenhöfen.

„Freude und Angst sind Vergrößerungsgläser.“ – Jeremias Gotthelf, Zeitgeist und Berner Geist