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28. Februar 2008Wer hasst, braucht keine Gründe, doch nichts berechtigt zu mehr Willkür als aufrichtige Gleichgültigkeit.
Kurze Eindrücke, Aphorismen, Zitierfähiges
Wer hasst, braucht keine Gründe, doch nichts berechtigt zu mehr Willkür als aufrichtige Gleichgültigkeit.
Dass ein Heilsbringer in diesen Monaten geboren worden sein soll, ist vielleicht ein Zufall, aber wenn, dann ist es ein bedeutungsvoller. Eine Nacht mit klarem Himmel und schneidender Kälte löscht all die verzweifelten Versuche aus, die den Raum zwischen uns und der Welt kitten sollen; daran ändern auch Lichterketten und Familiensinn nichts. Denn die Wahrheit, dass wir einen Erlöser brauchen, übersteht sogar Weihnachtsbaum und Kerzenschein.
Er verfolgt dich, immerzu, und er wird lauter. Bald wirst du wahnsinnig sein; das wird geschehen, es geht nicht anders. Er ist stets bei dir, wie ein Schatten, du schaust die Nachrichten. Beckham kauft sich Schuhe für eine Million Dollar, in Darfur sterben schwarze Kinder, weil sie nichts zu trinken haben, HAHAHA!, HAHAHA!, da ist er schon, du wirst ihn nicht mehr los, HAHAHA!
Jeder Laut reißt ein Stück aus dir heraus, aus deinem Kopf, aus deinem Herz, aus deiner Seele, HAHAHA!, wieder ein Stück weniger. Der Antiterrorminister ist ein Terrorist, HAHAHA!, das Anschlagsopfer selbst ein Täter, HAHAHA! spuckt er dir ins Genick. Schweizer Schokolade finanziert afrikanische Bürgerkriege, HAHAHA!, nein – das ist doch wirklich zum Schießen, oder nicht, Schießen, HAHAHA! Man soll nicht verzweifeln, sagen Sie, und du verzweifelst ja auch nicht, nein, du verzweifelst zumindest nicht daran, dafür ist das Gelächter zu laut.
Du machst den Fernseher aus und verzweifelst nicht, das soll man ja auch nicht, oder. Aber eigentlich willst du nur dieses zynisches Gegacker in deinem Nacken loswerden, und für eine Weile ist es auch still. Du sitzt im Café und hörst die Leute reden, Hartz 4 ist ungerecht sagt der eine, zum Glück sind die Lebensmittel so billig, sagt der andere. HAHAHA!, da ist er schon wieder, HAHAHA!, diesmal muss er sich erklären. Woher kommen denn die ganzen Sozialkürzungen, woher kommen sie denn? Er prustet los. Du zahlst und gehst; die Einschläge kommen näher, du spürst es.
Irgendwann wirst du vor ihm stehen, mit geballten Fäusten. Das ist doch auch keine Lösung, wirst du ihn anbrüllen. Du weißt, was er antworten wird.
HAHAHA, du suchst noch nach einer L-Ö-S-U-N-G, HAHAHA!
Er hatte nur wenige Vorstellungen, wenn er arbeitete, aber die beherrschende war die von einem Telefonat; das war sicher zynisch, denn er arbeitete in einem modernen Callcenter und telefonierte zigfach in jeder Stunde. Das war einfach; er drückte auf einen Knopf neben dem Hörer, und schon wurde er ganz zufallsgesteuert mit irgendeinem Anschluß in Deutschland verbunden. Dann sagte er seinen Vers auf und stellte seine Fragen. Meist waren es belanglose; eigentlich sogar immer. Wie viel Wein verbraucht ihr Haushalt im Monat, welche Shampoo-Linie bevorzugen sie, verwenden sie Teflonpfannen.
Er war es gewohnt, solche Fragen zu stellen, und er dachte nicht mehr viel darüber nach. Nur diese Vorstellung, die machte ihm zu schaffen. Sie überkam ihn, wenn er eine Pause machte, manchmal aber auch auf dem Weg nach Hause. Selten überraschte sie ihn, wenn er eine Lasagne oder einen Hotdog in die Mikrowelle schob. Oder wenn er sich Schach-Turniere im Fernsehen ansah, früh morgens um vier. Es war immer die gleiche Szene.
Da war dieses Telefon mit Wählscheibe; meistens wusste er nichts damit anzufangen, weil ihm keine Nummer einfiel. Etwas Drängendes wollte er sagen, musste, doch er wusste nicht, wen er anrufen sollte; manchmal fiel ihm auch jemand ein, meist waren es alte Freunde, an die er schon lange nicht mehr gedacht hatte. Er wählte zwei oder drei Ziffern; Aber dann wusste er nicht weiter. Selten wurde ihm klar, was er sagen wollte, aber dringend war es sicher; es war auch keine einfache Nachricht, das war ihm klar. Dennoch erinnerte es ihn jedes Mal an seine Arbeit; Verwenden sie Teflonpfannen? Meist schämte er sich dafür; nicht für den Tagtraum, sondern für die Ähnlichkeit. Es gab einen starken, einen unüberwindbaren Unterschied zwischen Beidem, aber die Ähnlichkeit war doch da. Von Zeit zu Zeit durchstöberte er die Nummern in seinem Telefonbuch und fand nie die, die er in der Vorstellung vergeblich gesucht hatte.
Über etwas gänzlich Fremdes kann man nicht schreiben; die Spur der Autors, der Weg durch sein Universum zum Text hin, bleibt immer vorhanden. Manchmal gelingt es vielleicht, eine Wendung, eine Drehung dieses Universums herbeizuführen; mehr kann man nicht verlangen.
Vor jedem Kampf, ob metaphorischer oder unmittelbarer, intellektueller oder physischer Natur, sollte man in einen Abgrund schauen. Nur lang genug, um die Wahrheit zu erkennen; dass jeder Sieg nur temporär, endlich ist. Dass nichts zu erstreiten ist, weil alles schon immer verloren war. Und dann sollte man sich umdrehen und losschlagen. Nicht, weil das etwas ändern würde, sondern nur, weil die Alternative nicht lebenswert wäre.
Der Kern jeder Entschlossenheit ist Kälte.
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