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Ein Text, eine Geschichte.

Asphaltwüste

Diesen Artikel drucken 7. Oktober 2007

Es ist ein recht übliches, verbreitetes Orange, dass vom Asphalt geschluckt und von den weißen Streifen dazwischen müde reflektiert wird. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße steht ein Haus; in dem Reklameschild davor spiegelt es sich am stärksten. Der Ton geht dann fast in Rötliche, aber auch diese Farbe findet sich im Licht aller Laternen dieses Typs. Es ist, und das macht ihn immer wieder betroffen, eine ganz und gar gewöhnliche Lichtquelle, die an jedem Fußgängerüberweg des Landes steht oder stehen könnte. Das Design entstammt den unkreativsten Episoden der Achtziger Jahre; der Fuß ist aus einem kaum kaschierten, blanken Stahlrohr gefertigt. Das Rohr ist der einzig runde Aspekt dieser Installationen. Alles andere an den Leuchtanlagen, wie es im Straßenbau wohl heißt, ist eckig und nicht einmal symmetrisch. Er hat sich schon oft darüber informiert, doch mit der Recherche wurde ihm nur klarer, dass da wirklich nichts Besonderes an der Laterne ist; sie wurde 1981 aufgestellt, als man den Fußgängerüberweg baute. Das Leuchtmittel, eine Gasröhre eines taiwanesischen Betriebs, hält im Schnitt 40.000 Stunden lang, und findet in über 10.000 Laternen baugleichen Typs Verwendung.
Die Laterne in der Nähe des Hauses, das er früher bewohnte, ist die einzige, die er häufig besucht. Ein Foto von ihr hängt sogar an seinem Kühlschrank, er sieht jeden Morgen darauf.
In anderen Städten fielen ihm die Anlagen gleichen Typs meist gar nicht auf. Manchmal ging er in einer unbekannten Stadt spazieren, spät am Abend, wie es seine Gewohnheit ist, und blieb nicht einmal stehen, wenn er an einem der orangefarbenen Flecken vorbeikam. Das erstaunte ihn von Zeit zu Zeit; dass er, der doch viel mit diesem Modell verband, keinen Zusammenhang herstellte zwischen dieser einen Laterne und allen anderen, die doch gleich waren.
Er hatte die Nachforschungen irgendwann einmal aufgegeben; ihm war klar geworden, dass seine Frage von Anfang an falsch gestellt war. Er hatte herausfinden wollen, was so besonders an dieser einen Anlage war, was sie unterschied; dabei hatte er die Antwort schon immer gekannt und vielleicht nur eine rationale Zuflucht gesucht, die ihm niemand geben konnte. Es war nichts anders an dieser Laterne; sie war nur eine von Tausenden des Typs Xeril LeAn 122b. Anders war nur seine Beziehung zu ihr, und es war offensichtlich, woran das lag, absolut offensichtlich und trivial.

Er hatte sie hier zuletzt gesehen.

Das war nicht nur sachlich falsch, sondern auch gelogen, denn eigentlich wusste er in aller Konsequenz, dass es nicht stimmte. Er hatte sie später auch an anderen Orten noch einmal gesehen, an unzähligen vor dem Ende sogar. Das jedoch gab er nur selten zu: Hier hatte er sie zuletzt gesehen, nirgendwo anders.
Doch wie er den Begriff der Wahrheit auch drehte, für ihn blieb es eine Lüge. Er bemühte sich nur oberflächlich, diesen offenkundigen Widerspruch durch eine Rekonstruktion der Vergangenheit zu kitten; nach außen hin hielt er das Bild aufrecht, aber im Inneren schien ihm das nur ein Schneckenhaus mit dünnen Wänden, die jederzeit reißen konnten. Es gab keine zwei Versionen der Vergangenheit, sondern nur eine und den beschämenden Versuch, sie zu erpressen; So lief er nie Gefahr, in Schizophrenie oder Wahnsinn zu enden, ganz im Gegenteil. Das Leben mit und durch diesen Widerstreit schärfte vielmehr seinen Blick für das, was wirklich gewesen war, uns so konnte er, zumindest in milden Nächten, noch den stimmlose Kuss auf seinen Lippen fühlen, wenn er den orangeroten Fleck passierte. Dann hatte er oft auch eine Kamera dabei und fotografierte die Laterne. Im Sucher sah er dann eine kerzengerade, weißliche Fackel über der Laterne, die stumm flackerte. Natürlich war das eine unbeabsichtigte Fehlfunktion des CCD-Moduls, die man nicht einmal festhalten konnte; auf den tatsächlichen Aufnahmen war sie nicht mehr zu entdecken.
Aus diesem Grund stand er minutenlang da und starrte auf die kleine Kamera, bevor er abdrückte. Ganz verschiedene Dinge gingen ihm dabei durch den Kopf. Oft fragte er sich zum Beispiel, wann sie die Laternen wohl austauschen würden. Es war klar, dass sie nicht ewig hier stehen würden; die Ampeln waren schon lange modernisiert worden, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis den Stadtvätern auch diese alte Laterne ins Auge fallen würde. Man würde sie herausreißen und an ihre Stelle eine vermutlich nicht minder hässliche, neue aufstellen. Er war nicht sicher, ob er das begrüßen oder ablehnen würde: natürlich konnte er zumindest sich selbst gegenüber nicht leugnen, dass ihm dieser Kuss immer noch nachhing. Das war eine der letzte zärtlichen Momente seines bisherigen Lebens gewesen und würde es vermutlich auch bleiben, so dass er sich diese Affektiertheit auch nach den vielen Jahren vergeben konnte.
Andererseits konnte er nicht sagen, dass er diese Momente unter der Laterne genoß. Er fühlte sich dabei eher wie ein Verbrecher, der sich, Jahre, Jahrzehnte nach seiner Tat zum Ursprung des Verbrechens hingezogen fühlt und wieder und wieder die Spuren der Tat zusammensetzte zu diesem Moment unter der Laterne; nicht etwa, um noch einmal den Rausch der Tat nachzufühlen, sondern nur um das Unbegreifliche daran noch einmal zu durchleuchten.
Er war natürlich kein Verbrecher; zumindest in dieser Hinsicht nicht. Nicht mehr als jeder andere Mensch, auch das war ihm klar. Das Urverbrechen war nun mal die Wahl, das Wählen einer Richtung, und in diesem Zusammenhang waren die meisten Menschen schuldig. Dennoch, es fühlte sich unangenehm an, diesen Ort so oft zu besuchen, und so wusste er nicht, was er von seiner faktischen Zerstörung halten sollte; natürlich gab es da diesen Augenblick, wo er sich klar an das Ereignis erinnern konnte, oder besser an die Ereignisse, denn es waren mehrere gewesen: Sie hatten sich dort oft getroffen.
Wenn er zurück an diesen Punkt gelangte, dann war es so, als wären die Jahre dazwischen nie vergangen, als würde er gleich ihre Stimme hören. Doch dieser Eindruck blieb, und das war ebenso offensichtlich wie unvermeidlich, nur einen Herzschlag lang. Wurde es ihm bewusst, so war der Moment schon vergangen, und übrig blieben nur noch die Verweise, Köder; die Laterne blieb. Und dann erkannte er jedes Mal aufs Neue, dass er nur eine Täuschung gefunden hatte, mehr nicht. Was er suchte, dass war nicht nur an einem anderen Ort, es war einfach verschwunden, vollends zerstört, vielleicht sogar niemals gewesen. Die Laterne und ihr Licht ließen nur Erinnerungen anklingen wie die Tasten eines Klaviers, das lange nicht mehr gestimmt worden war, und hinter ihren schrägen Disharmonien verbarg sich nicht mehr als die asphaltgraue Wüste des Gewesenen.

Kirchenschiff

Diesen Artikel drucken 14. September 2007

Hier scheint der Begriff des Kirchenschiffs nicht aus der Luft gegriffen oder zufällig; er bekommt eine echte Bedeutung. Ja, dies ist ein Schiff, 40 Meter lang, 20 Meter hoch. Es bewegt sich kein Stück nach vorne, und doch fährt es unter vollen Segeln. Die einzigen Fenster, links und rechts und ganz vorne, sind blind, so groß sie auch sind. Aber man muss auch nicht hindurchsehen können; es wäre sinnlos. Da ist kein Ziel, keine Küstenlinie auszumachen, nichts, was man sehen könnte. Und dennoch steuert dieses riesige Schiff mit seiner Besatzung auf etwas zu. Es ist ein Leuchtturm, oder mehr ein Leuchtfeuer; man kann es nicht sehen, und doch strahlt es hell. Es ist wie mit den alten Schatzkarten, man sieht das Ziel nur, wenn man ein Eingeweihter ist. Und trotzdem gibt es keine Rätsel auf, keine Aufgabe, die man für das Verstehen lösen müsste. Um dieses helle Flamme zu sehen, muss man das einfachste oder vielleicht schwerste tun, wozu ein Mensch nur fähig ist; man muss glauben. Wer an den Leuchtturm und sein weit entferntes Licht glaubt, der erkennt das Ziel des Schiffes. Nicht seine Route, aber immerhin den Endpunkt, den Ort, an dem die Reise enden soll. Hat man es einmal gesehen, so ist man Teil der Besatzung; man muss nicht immer an Deck bleiben. Es reicht, sich ab und zu dort zu treffen, die Erinnerung daran wachzuhalten. Manchmal mag man den Glauben an dieses Licht verlieren; das ist leicht. Nichts ist leichter als der Zweifel. Es reicht ein Windhauch, und der Nebel schiebt sich wieder davor. Von Zeit zu Zeit geschieht es, dass viele zweifeln; dann sind da zu wenig Matrosen, um den Kurs zu halten, denn kaum einer weiß noch, wohin es geht. Es ist schwer, ohne eine Route zu manövrieren; unmöglich ist es, es ohne die Gewissheit des Leuchtturm zu tun. Manchmal zerschellen dann Schiffe an den Klippen, oder sie laufen auf Grund. Diejenigen, die zweifeln, retten dann gerade noch ihr Leben auf ein Eiland, dass direkt vor ihren Füßen beginnt. Dort bleiben sie, ihr Leben lang vielleicht. Manchmal denken sie noch an die Fahrt, aber jeder Schiffbrüchige wird nach einer Weile sesshaft, und so vergessen sie sie irgendwann einmal.
Diejenigen, die immer noch von der Reise überzeugt sind, werden von anderen Schiffen aufgelesen oder versuchen es auf eigene Faust, auf einem kleinen Floss; zurück bleibt nur das zerbrochene Schiff, viele gibt es davon. Sie alle liegen geborsten herum, in den Städten, auf dem Lande. Aus ihren Planken dringt nur der schale Geruch von Tod; ihre Gesangsbücher schweigen.
Wer die Fahrt in Gemeinschaft fortsetzen will, der findet auch eine Besatzung, an einem anderen Ort vielleicht. Er ordnet sich ein, schaut wieder auf den Leuchtturm.
Das scheint Außenstehenden absurd; die Reise, das Schiff, das Leuchtfeuer, alles.
Doch absurder noch als ein Schiff, dass sich auf seiner Reise nicht vom Fleck bewegt oder ein Ziel, zu dem es keine oder tausende Routen gibt, ist die Abwesenheit der Trauer.
Man stellt es sich so vor; ein Reise zu einem unbekannten Ziel, von dem man nur ein Licht, eine Verheißung kennt. Eine nie befahrene Route, an deren Rändern Untiefen und Strudel lauern, Dämonen und Felsen. Es schwebt einem eine Trauer vor, die tiefe Melancholie einer Unwissenheit, pechschwarze Nacht, das Keuchen der Männer und Frauen, die in der Flaute rudern müssen. Aber da ist nichts davon; weder Mühsal noch Melancholie.
Ganz im Gegenteil; es ist eine seltsame Art von Glück, die die Besatzung umfängt, und diese tiefe Zufriedenheit ist die Grenze, die den Besucher vom Matrosen trennt, unaufhebbar. Man kann sie sehen, diese Hoffnung, wenn man sich umschaut; die Anwesenden zerfallen leicht in die beiden Gruppen, wenn man auf ihren Blick achtet. Wir, die Besucher, sind hier wirklich nur Gäste; begrenzt im Verstehen, blicken wir auf eine seltsame Welt.

Die Nacht

Diesen Artikel drucken 22. August 2007

Vor ewiger Zeit, als die Sonne noch jung war und ihre Strahlen die immer helle Erde erleuchtete, da gab es noch keine Nacht: Der Tag blieb für immer, die Nacht war noch nicht erfunden. Es gab damals auch noch keine Menschen, die Schöpfung war noch nicht ganz fertig mit ihm.
Eines Tages jedoch, da stand in einer weiten Ebene der erste von uns; unsicher noch blickte er sich um, sah all die Schönheit der Welt, ahnte noch nicht, dass er es sein würde, der diese Schönheit eines Tages ganz und gar beherrschen, sie vielleicht sogar zerstören würde.
Es muss an diesem Tag gewesen sein, dass er zum ersten Mal Abend wurde auf Erden: noch wurde es nicht ganz Nacht. Die Nacht stand auf der Türschwelle des Lebens und zögerte noch einen langen Augenblick, bevor sie eintrat. Und so wurde es nur Abend: Die Sonnenstrahlen bekamen einen rötlichen Beiklang, und ihr Körper schien ferner als sonst am Rande des Horizonts zu stehen. Die meisten Tiere ängstigten sich an diesem ersten Abend, verkrochen sich in Erdlöchern oder Nestern. Nur der Mensch stand weiterhin in der Ebene, immer noch neugierig, und starrte in die rote Glut.
Dann, nach Wochen, da trat die Nacht zum ersten Mal auf die Bühne. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, und die Nacht legte sich mit ihrem prächtigen Kleid über die Welt. Die elegante Kälte ihrer geschwungenen Formen ließ den Menschen zittern, doch der Schöpfer schickte einen Blitz, welcher das erste menschliche Feuer entzündete. Der Mensch nahm es dankbar an und lernte schnell, es zu nutzen. Wenn die Nacht kam, so legte er neue Scheite auf und setzte sich davor; wenn sie ging, achtete er darauf, dass es nicht ganz verlosch.
Es war für lange Zeit das einzige Feuer, das auf der Erde loderte, und das muss der Grund gewesen, weshalb sich die Nacht entschied, nach Einbruch der Dämmerung zu dem Menschen zu reisen, ganz in seiner Gestalt.
Das wusste der Mensch natürlich nicht; er saß nur wieder an seinem Feuer, starrte hinein und wartete darauf, dass es wieder hell wurde. Für ihn war noch nicht ganz sicher, dass der Tag wiederkehren würde, und deshalb war es nie langweilig, dort zu sitzen, am Feuer, und auf den Tag zu warten.
Doch irgendwann bemerkte er, dass jemand neben ihm saß; er konnte diesen anderen nicht sehen. Wenn er hinblickte, dann war da nur Schwärze, als wäre dort ein Loch, aus dem kein Licht hervor drang. Doch aus den Augenwinkeln sah er etwas anderes; es dauerte eine Weile, aber schließlich erkannte er eine Person, eine Frau. Er wusste nicht, was eine Frau war; Geschlechter waren erst viel später erfunden worden, aus einer Laune heraus. Er erkannte in dieser Frau nur die Ähnlichkeit zu sich selbst, und war tief von ihre Schönheit berührt. Sie trug einen Schleier vor dem Gesicht, doch die Züge darunter waren von solcher Anmut, dass er sie nie wieder vergessen würde. Noch heute trägt jeder Mensch einen Teil dieser Erinnerung bei sich, und manchmal stolpern wir über sie, wenn wir einen anderen Menschen ansehen.
Natürlich war ihr Kleid schwarz, und dunkle Steine funkelten darauf wie die Sterne.
Der Mensch und die Nacht saßen eine Weile so um das Feuer herum, und niemand sagte etwas. Schließlich beschloss der Mensch, das Schweigen zu brechen, und nach einigem Nachdenken über die seltsame Besucherin sagte er schließlich:
„Ich denke, ich habe euch jetzt erkannt; Ihr seid die Nacht, nicht wahr?“
Die Nacht lächelte, und ihre Zähne waren von so blendendem Weiß, dass er wegschauen musste.
„Ja, die bin ich wohl. Verzeiht mir meinen Spaß; ich wollte sehen, ob es stimmt, was man von euch Menschen sagt. Und ja, in der Tat seid ihr nicht dumm.“
Einige Minuten schwiegen sie wieder, dann sprach die Nacht weiter.
„Schon oft sah ich dein Feuer, Mensch, und ich wollte kommen und es aus der Nähe sehen. Seine Wärme beruhigt auch mich von Zeit zu Zeit, wenn ich durch die Täler streife oder das Unterholz durchstöbere. Du musst wissen, noch nie habe ich den Tag gesehen und die strahlende Sonne, von der die Tier soviel flüstern, wenn ich die Dunkelheit bringe. Ist es der Sonne ähnlich, dieses Feuer?
„Ein wenig schon, aber sie ist größer, viel größer. Und sie ist noch schöner.“ antwortete der Mensch, dann herrschte wieder Stille.
„Ich würde dir gern eine Frage stellen, Nacht.“, sagte er schließlich, „Warum tust du, was du tust?“
Die Nacht lächelte wieder, und der Mensch fuhr fort: „Es ist kalt, wenn du kommst. Die Dunkelheit bringt vielen Tieren den Tod, und selbst in mein Herz zieht sie von Zeit zu Zeit ein. Ich halte mein Feuer nicht nur der Wärme wegen in Gang; auch mein Geist braucht dieses Licht in der Dunkelheit. Am Tage ist da die Sonne, die mich wärmt und die Einsamkeit vertreibt, aber wenn du kommst, dann sitze ich vor meinem Feuer und bin allein.“
Die Nacht streckte die Hand aus, und zwei behandschuhte Finger berührten den Menschen kurz; es war nicht so kalt, wie er erwartet hatte, und er erkannte das Mitgefühl in ihrer Geste.
„Nur wegen dir bin ich geschaffen worden; es war der Tag deiner Geburt, an dem auch ich in die Welt geworfen wurde.“
„Aber warum? Wozu..“, unterbrach der Mensch, doch eine sachte Berührung ließ ihn verstummen.
„Du weißt es noch nicht, aber du und deiner Kinder, ihr werdet groß werden auf dieser Welt, größer als die Erde vielleicht sogar; ihr werdet sie formen und gestalten; die Sterne erzählen schon davon, wenn man ihnen nur genau zuhört. Deine Kinder werden die Schönheit in der Welt sehen und deshalb weinen; kämpfen; lieben sogar. Ihr werdet nicht sein wie die Tiere, ihr werdet eure Pfade selbst wählen können. Nicht immer werdet ihr die richtigen finden, und deshalb bin ich hier.“
Sie sah, dass der Mensch nicht verstand, und sprach weiter: „Siehst du, noch bist du frei, und für eine Weile wird dies auch noch so bleiben. Bald jedoch werden andere kommen, und ihr werdet langsam lernen müssen, zusammen zu leben. Ihr werdet Unterkünfte bauen, später Städte. Ihr werdet euch mißverstehen, euch bekämpfen. Ihr werdet euch in die Arme nehmen. Vieles von dem, was ihr tun werdet, wird nicht das richtige sein: Und deswegen wurde ich geboren.“
„Wirst du uns dann den Weg zurück weisen? Wirst du unsere Fehler erkennen und wiedergutmachen?“
Die Nacht blickte einen langen Moment in die Glut, und der Mensch sah so etwas wie Schmerz in ihren Augen.
„Nein, das ist mir nicht möglich. Ihr selbst werdet eure Fehler erkennen müssen, nur dabei kann ich euch helfen. Wenn ich komme und mit mir die Dunkelheit, dann wird das deinen kampfeslustigen Söhnen Tränen abnötigen. Sie werden in ihren Betten liegen und sich fragen, was sie getan haben. Den Armen und Verbitterten dagegen bringe ich den sanften Mantel des Vergessens und der Auflösung; den Hochmütigen bringe ich Träume vom Fall. Dichter werden auf mein Kleid starren und ihre eigenen Ideen darin erblicken. Schlechte Menschen werden versuchen, sich in ihm zu verstecken und dabei nie sich selbst entkommen. Alle, alle deine Kinder werden während meiner Herrschaftszeit Rechenschaft ablegen müssen, vor sich selbst. Sie werden sich fragen, ob sie auf dem richtigen Pfad sind. Die Verzweifelten werde ich trösten; die Schlechten werde ich quälen, bis sie bereuen. Das ist meine Aufgabe, mein Zweck.“
Es wurde wieder still; nur das Atmen des Feuers war noch zu hören. Eine Sternschnuppe zog über den Himmel, dann eine zweite.
Schließlich wollte der Mensch noch eine Frage stellen, doch da war niemand mehr, dem er sie hätte stellen können.

Der Weg nach oben

Diesen Artikel drucken 11. August 2007

Der Regen peitscht in dein Gesicht, tiefer noch, du fühlst, wie er durch dich hindurch geht, wie Nadeln durchstoßen die Tropfen Haut und Fleisch, prallen an den weiß hervortretenden Knochen ab, schleifen sie langsam, aber mit der Stetigkeit der Zeit herunter, ganz so wie sie es schon Bergen angetan haben, Kontinenten, Welten.
Ab und zu siehst du auf deine Hände, versuchst sie zu erkennen in den Wogen aus gläsernen Splittern, die von der Welt geblieben zu sein scheinen, versuchst das Weiß auszumachen, es gelingt dir nicht. Irrst du dich, irrst du in allem, du musst es wissen. Für einen Augenblick nur berühren sich deine Fingerspitzen und fühlen das Reiben der blanken Knochen, das Knirschen mißhandelter Gebeine, es ist also wahr.
Und dennoch, es gibt nur diesen Weg, nicht wahr, nur diesen einen Pfad, und so gehst du voran, beschleunigst deinen Schritt sogar etwas, du musst hinauf. Die Nadeln werden zu Nägeln, dann zu fast metallischen Splittern, verirrten Splittern einer herrenlose Granate vielleicht, in einem explosionslosen Rausch aus wütendem Glas. Du wirst wieder langsamer, so schnell geht es nicht, so schnell geht es nicht voran, es ist nicht möglich, aber zu langsam darfst du auch nicht werden. Das wäre das Ende, du festigt dein ursprüngliches Tempo, nein, das wäre das Ende, an dieser Stelle wie an jeder anderen waren unzählige schon zum Stehen gekommen, und dann hatten sie sich einfach niedergelegt und waren gestorben. Sie ruhten für ein Weile, einen kurzen Augenblick nur, und dann war es um sie geschehen, zu spät, zu spät. Niemand hat dir das gesagt, in keinem Buch hast du es gelesen, aber du erkennst es dennoch, es steht im Regen geschrieben, in jedem einzelnen Moment.
Ihre Überreste kannst du nicht erkennen, aber du weißt, sie waren, sie sind hier. Sie feuern dich an, weiterzugehen, Schritt um Schritt, nur nicht ruhen, immer weiter, auf die Spitze des Berges, mitten durch das Tal. Voran, voran, es gibt keine Rettung außer der in deinen Schritten. Aber nicht nur diese Stimmen hörst du, auch ist da die Stimme des Anderen, dessen Reich du betreten hast. Seinen mißgestalteten Körper durchschreitest du hier, es war dir klar, als du diesen Platz betratest, er gehört ganz und gar ihm, und mit allem Hass in seinen stählernen Eingeweiden versucht er nun, dich zurückzuwerfen, dich zu stoppen, deiner habhaft zu werden. Diese Stimme übertönt selbst das Rauschen des Wassers, auch die Stimmen der Toten am Wegesrand, wechselhaft ist sie, nur die spurhafte Boshaftigkeit bleibt ihr immer. Wenn sie spricht, verlässt auch dich der Mut manchmal für einen Moment, einige Male hättest du ihr fast nachgegeben. Einmal zitierte er die Bibel, einen bekannte Stelle über das Wandern in finsteren Tälern, fast zu spät erkanntest du die Korruptheit darin, die Kälte einer Rasierklinge, als die der Andere sich gerne sah. So hat er dich schon begrüßt, Eine Klinge bin ich wohl, hatte es durch die Ebene gedonnert, geschmiedet im Feuer der Angst, ein gröhlendes Lachen, dann hatte der Regen begonnen.
Nein, hier gab es keinen Herrn außer dem Anderen, keinen Stecken und keinen Stab, keinen Trost. Nur den düsteren Pfad, steil den Berg hinauf, den du mehr fühlst als siehst, vielleicht ist da nicht einmal ein Weg, deine Augen sehen kaum noch bis zum Boden hinab. Mehr Sicht lässt er dir nicht, nicht mehr als das millionenfach im Regen gebrochene Licht einer fahlen, fernen Sonne, die du hoch am Horizont erahnst. Manchmal stolperst du, schlägst fast auf den schlammigen Untergrund, kannst dich gerade noch fangen, ruderst einen Herzschlag lang hilflos mit den Armen. Dann lacht er, lacht lauthals, während du mit dem Gleichgewicht kämpfst und mühsam einen Fuß vor den anderen setzt, um ja nicht stehen zu bleiben. Aber es gelingt dir, wieder und wieder, und Wut strömt dann durch seine Stimme, spitzt die flüssigen Dolche noch ein wenig, Du bist mein, mein, mein.
Du schluckst den Schrecken herunter, verschließt dich seinem Brüllen oder versuchst es zumindest, Schritt um Schritt, die Bergspitze rückt näher, sie muss. Dort, über den Wolken, muss die Sonne nah sein und der Himmel klar, du bist dir sicher, und für einen Moment findest du im Geiste dorthin, atmest tief ein, fühlst die Wärme. Dann spürst du wieder das Peitschen des Regens, den Wind im Gesicht, die toten Stimmen im Boden und die schreiende über dir. Schritt um Schritt, es gibt nur diesen Weg. Du musst hinauf.

Was bleibt

Diesen Artikel drucken 10. August 2007

Er sah ganz nach unten auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte. Da war eine horizontale Linie, wie man sie oft in Büchern sah, darunter stand eine kleine Zahl; überhaupt war die ganze Schrift kleiner als die des Textes darüber. Dann waren da zwei Worte geschrieben, ein Name, sein Name. Daneben waren noch zwei kurze Sätze, eben so klein gedruckt wie die Zahl, die einige wichtige Fakten aufzählten; das war sein Leben, oder zumindest eine grobe Zusammenfassung davon. Immerhin war es eine betragsmäßig kleine Zahl, das tröstete ihn für einen Moment, eine kleine, die nur zwei Stellen hatte; aber er hatte schon weiter hinten im Buch nachgesehen, die größte war knapp dreistellig, und das war nicht wirklich beruhigend. Er las die beiden Sätze gar nicht; sie interessierten ihn nicht mehr. Er starrte nur eine Weile auf seinen Namen, ohne etwas bestimmtes zu denken. Dann suchte er wieder die Stelle, an der eine kleine, tiefgestellte Zahl auf diese, seine Fußnote verwies, und las die Zeilen darüber und darunter. Es waren keine besonderen Sätze; sie waren nicht fett gedruckt oder irgendwie auffällig, auch der Stil war nicht einmal passabel. Es war einfach ein Bericht oder etwas ähnliches, nicht unbedingt nüchtern, aber auch nicht von herausstechender Erzählweise. An irgendeiner Stelle war da also dieser Satz, dass die Protagonistin jemanden kennengelernt hatte; einen Moment lang war er sich nicht mehr sicher, wie sie hieß, und dachte an allerlei andere Menschen, aber dann fiel ihm der Name wieder ein. Nun, dort stand in simplen Worten, dass sie jemanden kennenlernte; das war er selbst. Über seinem Namen stand diese kleine Zahl, die auf die Fußnote verwies. Wenn er ein Buch las, übersprang er solche Verweise meist, wenn das nicht das Textverständnis störte; die meisten Menschen machten das wohl so.
Seine Fußnote brachte in der Tat kein wichtiges Element hinzu, dass für den Textfluß von essentieller Bedeutung gewesen wäre. Es war die Anmerkung eines aufmerksamen Verfassers, der seinem Leser jede erdenkliche Zusatzinformation liefern wollte, auch wenn er den Bericht einer Notwendigkeit folgend auf das Nötigste beschränken musste. Er fühlte sich zumindest ein wenig bestätigt, als er die Zeilen unter dem Verweis gelesen hatte; er tauchte weiterhin auf, in den acht folgenden Sätzen zumindest. Neun Sätze also, neun Sätze waren geblieben von ihm; er zählte noch einmal, ihm wurde schlecht. Aber was hatte er erwartet? Er wusste es ziemlich genau, wagte aber nicht, es auszusprechen. Es war ihm zu wenig, das gestand er sich ein, während er immer wieder diese neun Sätze las. Das Buch legte einen gewissen Wert auf die Kohärenz der Sätze untereinander, und einem anderen Leser würde es sicher so erscheinen, als beschrieben diese neun Sätze alle wesentlichen Ereignisse in nahtlosem Übergang, aber für ihn klafften da kilometerbreite Lücken selbst zwischen den Worten. Er erinnerte sich an einen Abend auf einer Brücke, im Sommer: es war heiß gewesen, und die meisten anderen Menschen waren aus der Stadt geflohen, an den nahen Badesee. So waren sie fast allein gewesen auf dieser Brücke in der Nähe der großen Kirche. Sie waren geblieben bis nach Mitternacht; er erinnerte sich noch an die Geräusche des Wassers, an das leise Gespräch. An das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben.
Er suchte nach diesem Abend; er fand ihn nicht. Er suchte in den Konnotationen, in dem Flüstern zwischen den Sätzen; auch dort, nichts.
Eine Stunde verbrachte er damit, auch wenn er schon längst wusste, das er ihn nicht finden würde. Er war einfach nicht da; und schlimmer noch, er selbst wurde sich unsicher, ob seine Erinnerung ihn nicht betrog; das Buch hatte doch keinen Grund zu lügen, nicht wahr, es war nur ein Bericht. Nach einer Weile wurde er wieder ruhiger; der Abend an der Brücke war nicht da. Natürlich war das nicht der einzige Moment, der er vermisste; er begann es kurz zu überschlagen, ihm fehlten etwa acht Monate. Acht Monate, einfach weg. Es war aussichtslos, nach ihnen zu suchen; mehr war davon einfach nicht übrig. Von ihnen beiden nicht. Er sortierte die Sätze gedanklich; einer von ihnen beschrieb, wie sie sich kennengelernt hatten. Vier fassten singuläre Ereignisse oder gemeinsame Unternehmungen zusammen, fast unfassbar grob in seinen Augen, aber zumindest las er dort die beiden Worte ‚glücklich‘ und ‚zufrieden‘. Einer beschrieb ihr Liebesleben, einer so etwas wie eine allgemeine Entwicklung, zwei das Ende. Einige Minuten versuchte er, die vier beschriebenen Momente im Gedächtnis wiederzufinden, es gelang ihm nicht. Erst als er kurz den Blick von der kalten Beschreibung abwandte, erinnerte er sich wieder, und als er danach wieder auf das Buch blickte, verzweifelte er innerlich. Es war doch ganz anders gewesen, oder? Der Zweifel wurde nur stärker, als er dann die beiden Trennungssätze las, und auch deshalb wurde er fast wütend: Es war so vereinfacht, auf so unfaire Weise vereinfacht. Er hätte gerne darüber gestritten, dargelegt, was fehlte, aber da war niemand. Nur dieses dumme Buch. Er schloss es und schob es von sich fort. Starrte eine Weile auf den Deckel, schmollend. Dann zog er es wieder zu sich heran, seufzte dabei leise. Es nützte ja nichts. Er betrachtete den Einband, den Namen der Protagonistin, dann blätterte er einige Minuten unschlüssig. Hätte er vor einem Jahr hineingesehen, vor zweien, dann wären da sicher mehr Sätze gewesen; vielleicht wäre die Fußnote sogar im Fließtext aufgetaucht. Aber das war vergangen.
Als er später wach da lag, fand er diesen Gedanken wieder: die ganze Sache war war nicht fair, ein schlechter, ein böser Scherz. Nicht nur, dass man immer nur ein Abschnitt des Leben eines anderen wurde, ein Kapitel oder auch nur ein Absatz. Nein, nicht nur das; auch schrieb jeder sein eigenes Buch beständig neu. Das lag nicht an den Menschen, sie taten es ohnehin kaum bewusst, vielmehr war der Platz in jenen Büchern begrenzt, so schien es zumindest. Kam etwas Neues hinzu, musste etwas Altes weichen; der Anstand gebot, nur Weniges ganz zu verwerfen, sondern eben zu kürzen, weiter zusammenzufassen. Nach und nach verschwanden die Details, dann die Momente, am Schluss die Menschen, die aber nur selten ganz. Meist blieb zumindest eine Art Karikatur übrig, etwas Fratzenhaftes wie diese seine Fußnote.
Man sagte, manche Erinnerungen blieben stärker als andere, und so schlug er das Inhaltsverzeichnis auf; tatsächlich, mehr als zwei Drittel des Buches schienen die Kindheit zu beschreiben. Gegen Ende wurden die Kapitel immer kürzer; beim Überfliegen fand er weiter hinten auch sehr viel mehr Fußnoten. Einige Namen erkannte er, andere waren ihm völlig fremd, und das ließ in ihm eine tiefe Beklemmung wachsen. Das war das schlimmste, dafür hätte er nicht herkommen müssen, er wusste es schon lange; das man ausgesperrt war aus dem Leben eines anderen, nicht mehr daran teilhaben konnte, das war schlimmer als alles andere. Er las die Fußnoten, die zu den Unbekannten gehörte und versuchte, sich dadurch ein Bild von ihnen zu machen. Für einen Moment gelang es, es gefiel ihm sogar – und schockierte ihn im nächsten Augenblick so sehr, dass er fast erwacht wäre. Wenn er das konnte, dann war es auch anderen möglich. Noch schlimmer, andere Leser würden seinen Namen lesen, seine Fußnote, sie würden sich ein Bild machen. Er dachte daran, was sie dann sagen würden: Ja, würden sie sagen, so ein Mensch war das also, deshalb konnte es nicht gutgehen, ja, man sieht es gleich, das ist eine stimmige Geschichte.
Zitternd blätterte er zurück zu der Seite, auf der er auftauchte und nach neun Sätzen wieder verschwand. Er nahm sich vor, die beiden Seiten davor und danach zu lesen: Er achtete darauf, keine der Zahlen unten auch nur aus den Augenwinkeln zu betrachten. Zunächst deprimierte ihn die Schilderung nur noch mehr, doch dann verglich er die beiden; es war in dem trockenen Sprachstil schwer zu erkennen, und er war sich nicht sicher (und würde sich nie sicher sein), ob es nicht mehr sein Wunsch war als etwas, das wirklich in dem Buch zu finden war. Natürlich fand er keine direkten Verweise auf seine Person; abgesehen von dieser einen Seite, den neun Sätzen darauf und der Fußnote existierte er in der Schilderung schlicht und einfach nicht. Doch wenn er den weiteren Verlauf ihres Lebens las, dann erkannte er eine Art Ablenkung, eine Veränderung, subtil und kaum zu erkennen, als ob die gekreuzten Wege ihren Pfad abgelenkt hatten. Vielleicht war es wirklich nur sein frommer Wunsch, aber die bloße Möglichkeit ließ ihn lächeln. Es war kein gelöstes Lächeln, es war zerknittert und hatte Risse, aber immerhin war es ein Lächeln. Noch einmal sah er auf seine Seite hinab, las die brutalen Sätze. Dann schloss er das Buch, hielt es für einige Minuten in den Händen und dachte noch einmal an all die Dinge, die wenigstens in seiner Erinnerung noch existierten. Dann stand er auf und stellte das Buch in ein Regal, das Sekunden vorher sicher noch nicht da gewesen war. Das machte nichts; er wusste inzwischen, dass er träumte.
In dem Regal waren noch andere Bücher, auch das verwunderte ihn nicht mehr. Ein Einband fiel ihm sofort ins Auge; sein Name stand darauf. Er hatte die gleiche Farbe und war, bis auf den Namen, fast nicht von dem anderen zu unterscheiden.
Als er Sekunden später erwachte, schämte er sich. Noch halb im Schlaf versuchte er, die Menschen auszumachen, die für ihn zu Fußnoten geworden waren. Es dauerte eine Weile, aber dann fielen ihm ein paar Namen ein; ja, es war wirklich beschämend. Neben den Namen fielen ihm nur kurze Beschreibungen ein – zwei oder drei Zeilen. Wie gemacht für Fußnoten.

Wach

Diesen Artikel drucken 1. August 2007

Er vermied Schlaf, wenn er es konnte. Manchmal reichten ihm der Fernseher und viel Kaffee, um sich wachzuhalten, aber seit einer Weile nahm er auch Tabletten. Inzwischen hatten sich tiefe, dunkle Gräben unter seinen Augen gebildet, wie Narben, und einige Arbeitskollegen hatten ihn darauf angesprochen; er hatte irgendeine Begründung genannt, und seitdem hatte ihn niemand mehr gefragt, auch wenn er nicht glaubte, dass sie ihm geglaubt hatten. Er vermutete, die Schatten fielen einfach niemandem mehr auf; ihre Tiefe blieb inzwischen gleich, und an konstante Dinge gewöhnten sich Menschen schnell.
Er hätte viel erklären müssen, hätte er den wirklichen Grund für seine übernächtigten Gesichtszüge genannt. Vielleicht hätte er einfach sagen können, dass er nicht gerne schlief; aber das hätte mehr Fragen provoziert, und darauf hätte er wieder Antworten finden müssen. Tatsächlich hielten ihn in gewisser Weise seine Träume vom Schlafen ab, aber auch das war nicht richtig, oder zumindest nicht ganz so einfach, wie es sich zunächst darstellte.
Nein, es war schon gut gewesen, den anderen irgendeine Begründung zu liefern; es war ohnehin seine Sache, und die anderen hätten ihm womöglich dumme Ratschläge gegeben oder ihn auch nur merkwürdig angesehen. Beides wollte er vermeiden.
Meist saß er abends einfach allein vor dem Fernseher, im Sessel, und trank noch einen Kaffee. Natürlich war ihm klar, dass er irgendwann schlafen musste, alles andere wäre unvernünftig gewesen; auch konnte er nicht einfach noch mehr Aufputschmittel nehmen. Es würde der Gesundheit schaden.
Aber immerhin konnte er entscheiden, wann und wie viel er schlief.
Meist schlief er irgendwann gegen drei ein, in dem Sessel. Sein Bett hatte er schon lange nicht mehr benutzt, es war ihm zutiefst zuwider, und so hatte er eine Tagesdecke darauf gelegt oder gespannt, wie in einem anonymen Hotel, und es seit Monaten nicht mehr angerührt. Wenn er es richtig machte, dann schlief er nur drei Stunden und ging nahtlos vom Verfolgen eines Filmes in eine Art Bewusstlosigkeit über, aus der er später fast erfrischt wieder erwachte. Mit etwas Glück hatte er sogar fast das Gefühl, den Film mit in den Schlaf zu nehmen, so dass es ihm manchmal schien, als wäre er die ganze Zeit wach gewesen.
Trotzdem forderte diese Art der Lebensführung natürlich ihren Tribut. Oft war er unkonzentriert oder der ganze Tag erschien ihm wie durch einen dichten Nebel verhüllt. Seine Arbeitsleistung war dadurch gesunken, aber er glich es durch Überstunden aus, so dass es niemandem wirklich auffiel. Das war ihm wichtig; aber es war auch ein Gewinn für ihn selbst, weil er weniger Zeit herum bringen musste. Inzwischen hatte er sogar begonnen, am Sonntag zu arbeiten. Man hatte ihm eine Beförderung angeboten, aber die hatte er abgelehnt; er war sich nicht sicher, ob er ein größeres Arbeitspensum noch bewältigen konnte. Und so liefen alle sieben Tage der Woche etwa gleich ab; gegen sechs erwachte er in seinem Sessel. Dann begab er sich ins Bad, frühstückte etwas Brot, ging zur Arbeit. Er blieb dort meist bis neun Uhr abends, manchmal auch länger; zu Hause setzte er sich wieder in den Sessel, kochte Kaffee und ließ sich etwas zu Essen bringen.
Es war egal, was danach geschah; wichtig war nur, dass er nicht zu viel schlief, nicht zu früh einnickte. Es war auch nicht so wichtig, was er im Fernsehen eigentlich sah. Nur Kitsch mied er. Manchmal sah er schlechte Horrorfilme; ihrem Plot konnte der Geist folgen, ohne dass er dämmerig wurde. Oder er sah alte Dokumentationen, Konzerte manchmal. Irgendetwas. Nur Romantik mied er, Familienfilme, Schnulzen.
Er hätte zu einem Arzt gehen können, aber das tat er nicht. Warum auch, er funktionierte doch.
Außerdem, was hätte er sagen sollen; weder fiel ihm das Schlafen schwer, in der Tat war das sogar ein Teil des Problems. Noch jagten ihn Albträume. Da waren keine verdrängte Kindheitserinnerungen oder Kriegstraumata, keine schweren Unfälle oder unterdrückten Gefühle.
Nein, ganz im Gegenteil:

Er träumte – gar nicht.

Ihm war nicht mehr ganz klar, wann das begonnen hatte . Das mochte auch daran liegen, dass er so wenig schlief, seine Erinnerung an Vergangenes war oft bruchstückhaft, zumindest in Bezug auf die letzten Jahre. Und so musste es auch vor einigen Jahren gewesen sein, als er plötzlich nicht mehr träumte. Am Anfang war es wohl schleichend gewesen, er hatte damals noch mit Bekannten darüber gesprochen. Sie hatten ihn beruhigt, dass viele Menschen gar nicht träumten. Aber das stimmte nicht, das wusste er. Die meisten Menschen erinnerten sich zwar selten an ihre Träume, aber sie träumten dennoch, jede Nacht. Er hatte Studien dazu gelesen. Natürlich behaupteten viele genau deshalb, sie würden selten träumten; tatsächlich aber war nur ihre Erinnerung daran verwischt.
Das war irgendwann anders geworden bei ihm. Schlief er eine Nacht wirklich durch, und von Zeit zu Zeit geschah das, weil er übermüdet auf seinem Schreibtisch oder in seinem Sessel zusammen sackte, dann erinnerte er sich danach an alles. Und damit an Nichts. An eine stundenlange, gähnende Leere im Inneren seines Kopfes.
Er hatte oft darüber nachgedacht, wie es so gekommen war. Früher hatte er oft geträumt, manchmal sogar am Tage. Alle Arten von Träumen hatte er erlebt. Die angstvollen, die des Versagens, des Gejagtwerdens, des Alleinseins, des Sterbens, die man gerne abschütteln wollte. Aber vor allem auch die von der Zukunft. Die von den seltsamen Reisen an ferne Orte, manchmal absurd, manchmal ernst und ehrfürchtig. Die von fremden Menschen, die im Traum Freunde oder gar Familie wurden. Die vom eigenen Zuhause.
Natürlich waren es nur Trugbilder, und so hatten sich all diese Dinge niemals erfüllt; weder die angstvollen noch die hoffnungsfrohen. Auch das wusste er, und früher hatte er dem Träumen auch deshalb keine große Bedeutung geschenkt.
Er fand keinen Punkt in seiner Vergangenheit, der seine Veränderung so einfach erklären konnte; da kam es einfach keinen kritischen Moment, in dem alles umgestürzt war. Er war zur Schule gegangen, hatte seine Ausbildung gemacht, er hatte eine Arbeit gefunden. Er hatte eine Wohnung gemietet, er zahlte seine Steuern. Einmal im Jahr machte er einen Urlaub in der Sonne. Einsam war er schon immer gewesen, das gestand er zu, aber das waren viele Menschen, oder etwa nicht.
Irgendwann hatte er aufgehört, darüber nachzudenken, und auch das lag teilweise sicher am Schlafmangel. Es fiel ihm schwer, das auch nur sich selbst schlüssig zu erklären, aber diese Leere, diese Stille in seinem Kopf, die fürchtete er mehr alles andere, was ihm in seinem Leben begegnet war. Einmal hatte er versucht, es aufzuschreiben, dieses Gefühl, diesen Zustand, aber danach hatte er das Geschriebene gelesen und sofort weggeworfen. Manchmal dachte er daran, es erneut zu versuchen, aber er verwarf den Gedanken immer wieder. Seiner Einsicht nach war er einfach nicht gut darin, sich auszudrücken, und ändern würde es ja doch nichts. So hatte er mit sich selbst das stille Abkommen getroffen, nicht mehr darüber nachzudenken als unbedingt nötig.
Daran hielt er sich. Zumindest meist. Tatsächlich lag im untersten Fach eines Wandschrankes in seinem Büro ein kleines Heft, in das er von Zeit zu Zeit – vor allem, wenn er wieder einmal einfach über der Arbeit zusammengesunken war – hineinsah, ohne dass er von der Existenz dieses Büchleins wirkliche – ständige – Notiz nahm. Das war seine Art von Selbst-Subversion, dachte er manchmal.
Mehrfach hatte er Seiten oder ganze Abschnitte herausgerissen und auf dem Fensterbrett verbrannt, dennoch hatte er sich nie entschließen können, es ganz zu vernichten. So war es inzwischen ein recht ungeordneter Haufen ohne Zusammenhang. Zeichnungen war dabei, meist von fast abstrakter Amateurhaftigkeit. Teilweise waren darin Träume skizziert, an die er sich noch aus früheren Zeiten erinnern konnte, so etwas das Bild von vielen, kleinen, beinahe strichhaften Menschen an einem See oder Strand. Einer mit nur zwei Menschen darauf, auf einem Berg oder Hügel. Auch ein Albtraum war dabei, mit Kugelschreiber und flüssiger Tinte hingekritzelt.
Aber neben den Zeichnungen waren da auch einige Blätter mit Worten darauf, Sätzen, meist aus dem Zusammenhang gerissen, vielfach im Nachhinein auch für ihn unverständlich. Auf einigen war nur ein Warum? zu lesen, mit stichartigen, kantigen Strichen fast aus dem Papier gerissen. Auf anderen waren detailliertere Ausführungen zu finden, auf einem Blatt etwa hatte er alles aus seiner Kindheit vermerkt, an das er sich noch erinnern konnte, und danach mit rotem Filzstift alle Punkte abgehakt, die er als Ursache für sein Leiden ausschließen konnte. Keiner war übrig geblieben.
Einmal hatte er auch versucht, seine Wünsche für die Zukunft aufzuzeichnen, aber über zwei war er nicht hinausgekommen. Der erste bezog sich auf seine Unfähigkeit zu träumen, den zweiten hatte er später dick umrandet, auch mit Rot. Und den Zettel ein paar Minuten später verbrannt.
Möglicherweise hatte er auch schon mehrfach Ähnliches geschrieben oder zumindest gedacht; seine Erinnerung daran war schwach, und außerdem hatte er ja ein Abkommen, an das er sich meistens hielt. Meistens. Nur wenn er sich einmal wieder auf dem Papierwustes seines Schreibtisches wiederfand, langsam erwachend, und immer noch diese immense Stille, diesen lebendigen Tod in sich fühlte, dann griff er ganz selbstverständlich nach dem Büchlein, fügte etwas hinzu, riß etwas heraus. Danach stellte er es wieder zurück, vergaß es fast. Und kochte Kaffee.

Marsch

Diesen Artikel drucken 24. Juli 2007

Schwer sind unsere Stiefel,
Schwer ist unser Schritt

Augenpaare, viele an der Zahl, alle mit Blei gefüllt, bis zum Rande, ein seltsam leerer Blick, an dessen Grund sich ein gefangenes Tier versteckt, getrieben, verzweifelt, allein.

Der Herr hat uns gesandt,
Zu suchen

Keine Sonne, kein Himmel, kein Horizont, nur die ewige Stille einer toten Welt, die weder Hoffnung noch Furcht kennt. Nur der Marsch, der endlose Marsch voran, die stille Frage nach dem Wohin.

Nach der schwarzen Blüte,
die kein Licht uns lässt

Rüstungen aus Bitterkeit tragen sie, schwarz vom Hass, grau vom Staub der Zeiten. Auch Lanzen, Schwerter, Schilde, immer noch fest in die starren Hände gepresst, obwohl sie nur noch Schatten ihrer eigentlichen Aufgabe sind, zerschlissen, verrottet. Keiner geht ihnen voran, niemand führt sie an.

Voran, voran, voran,
ohn‘ Umkehr, voran.

Ihre Abdrücke im staubigen Grund verblassen schnell, doch sie drehen sie nicht um. Sie waren schon an jedem Ort, in dieser und in vielen anderen Welten, doch ihr Ziel bleibt immer weit vor ihnen. Manchmal glauben sie es zu erkennen, in der Ferne, aber auch das bleibt ein Trugbild, eine Täuschung. Und so haben sie seit Jahrhunderten nicht mehr gedacht, gesprochen, gerastet, sie haben es verlernt.

Schwer sind unsere Speere,
Schwer ist unser Schritt

Und noch länger sind sie schon auf ihrer Reise, haben auf ihrem Weg voran alles, alles zu Asche werden lassen, am Anfang vielleicht mit ihren Schwertern, viellleicht sogar unwillig. Mit der Zeit wurden ihre Zweifel taub und blind, ihr Gewissen verging mit ihren Seelen, und nun stirbt alles um sie herum nur durch ihren Anblick. Selbst ihre Heimat haben sie zerstört, zerstört und dann vergessen, vielleicht war es auch umgekehrt. An ihnen klebt kein Blut mehr; auch das haben sie sich genommen und verbrannt.

Lang vergangen ist der Herr,
Lang vergangen ist sein Reich

Gäbe es noch Betrachter dieses seltsamen Marsches, sie würden nichts hören außer den schweren Stiefel im Sand und dem Knirschen der alten Harnische, dem Klirren des alten Stahls. Und dem Lied, dass sie stets auf den narbigen Lippen tragen. Es ist kaum mehr als ein Flüstern, es hat jede Betonung verloren, jede Leidenschaft eingebüßt. Nur die Worte selbst sind noch übrig, und so sprechen sie die Silben wie ein entleertes Gebet oder wie eine ziellose Meditation, mit trockenen, hohlen Stimmen, die schon lange wie eine einzige klingen.

Wir suchen noch die Blüte,
die kein Licht uns lässt

Von Zeit zu Zeit fällt einer von von ihnen hin. Für einige Minuten gibt einer der Männer auf, vergisst zu Atmen. Und dann steht er wieder auf, singt das alte Lied, als hätte er sich an etwas Wichtiges erinnert; Marschiert voran, voran. Als es noch Legenden gab, da sagte man von den Männer, sie seien verflucht; aber das stimmt nicht. Niemand hat sie verdammt. Kein Gott will sie strafen; auch ihre Götter haben sie umgebracht, einen nach dem anderen, und selbst das ist schon lange vergessen.

Voran, voran, voran,
ohn‘ Umkehr, voran

Manche sagten auch, niemand hätte ihnen ihre seltsame Aufgabe aufgetragen, sie seien selbst ihre eigenen Herren gewesen, schon immer. Manche behaupteten, es sei das Blei in ihren Augen gewesen, das sie auf diesen Feldzug gesandt hatte. Vielleicht ist auch das wahr, aber das macht keinen Unterschied; es gibt ohnehin nur noch sie und den Sand unter ihren Füßen. Geschichten sind verblasst, allesamt. Auch der Sand will keine neuen erzählen, keine alten behalten, und deshalb verschluckt er die Schritte der Männer. Geblieben ist nur die Legion – und ihr altes Lied.

Voran, voran, voran,
ohn‘ Umkehr, voran

Zur schwarzen Blüte,
wir tragen sie schon lang.

Ein Märchen

Diesen Artikel drucken 16. Juli 2007

In einer dunklen Nacht, die der heutigen nicht ganz unähnlich war, da spielte ein trockener Sturmwind über einem kleinen Städtchen. Es war schon spät, die meisten Wesen hatten sich schon zur Ruhe gebettet. Niemand sah mehr zu, ohne Zuschauer war es nicht mehr so halb so spannend, und so war es nur eine laue, manchmal auffrischende Brise, die über die Straßen hüpfte und in Gassen Verstecken spielte, in den Fenstern der Häuser leise Lieder spielte. Am Himmel über der Stadt hing nur eine einzige, große Wolke, ganz schwarz und hoch. Auch sie schlief schon, so wie alles in ihr ebenso, und so hörte man lange Zeit nichts außer dem Wind, der seine Spiele spielte.
Doch dann, es muss fast schon gegen Morgen gewesen sein, fiel ein kleiner Tropfen aus der kalten Wolke; nun, das an sich ist nicht weiter ungewöhnlich, das ist es nun mal, was Tropfen tun, nicht wahr? Sie fielen vom Himmel, sickerten in den Boden, nahmen einen weiten Weg, und irgendwann löste sie die Sonne wieder und brachte sie zurück in die Höhe, die so sehr liebten. Dann begann der Kreislauf wieder von vorne. Auch dieser Tropfen hatte sicher schon Tausende Male solch einen seltsamen Kreis durchlaufen, und keineswegs unzufrieden mit seiner Rolle in der Welt. Aber diesmal war etwas anders, denn nur einziger fiel aus dieser Wolke, nur dieser eine Tropfen, ganz alleine.
Wie die meisten Kreaturen, die unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden, war auch dieser Tropfen nicht minder entsetzt, als er plötzlich kopfüber in die pechschwarze Nacht stürzte. Er fiel einige hundert Meter tief, bis er der Situation wirklich gewahr wurde, und weitere hundert, bis er endlich einen entsetzten Schrei ausstieß; Regentropfen pflegten in großen Zahlen zu reisen, und beinahe nie machten sie sich alleine auf den Weg, schon gar nicht so unfreiwillig. Der Schrei dauerte an, fast eintausend Meter lang, und noch bevor sein Veruracher sich der eigenen Lautstärke bewusst wurde, hatte der Wind in dem kleinen Städtchen ihn schon gehört und zischte voller Neugier heran. Einige Böenfinger stoppten den Wassertropfen schließlich vorsichtig, warfen ihn spielerisch wieder einige Meter in die Höhe und versetzten ihn dabei derartig in Drehung, dass ihm schwindelig wurde und er laut aufquiekte, halb aus Angst, halb aus der Erleichterung heraus, nicht mehr allein zu sein.
„Was ist denn los? Was machst du denn so einen Krach?“, fragte der Wind behutsam, sah die Panik des kleinen Tropfens und ließ ihn ganz vorsichtig schweben, um ihn nicht noch mehr zu erschrecken. „Ich bin ganz alleine“, antwortete der leise, „ich bin noch nie alleine gereist“, fügte er schüchtern an. „Aber, aber“, beruhigte ihn der Wind, strich mit dem kleinen Finger über seinen kugelrunden Kopf, „hab keine Angst, du bist nicht allein.“ Der Tropfen fasste wieder etwas Mut und bemühte sich, seine Gestalt wieder etwas zu straffen. „Wer bist du?“, fragte er etwas lauter. „Ich? Ich bin nur der Wind.“, sagte der Wind freundlich, „Es wundert mich nicht, dass du meinen Namen nicht kennst; ihr achtet selten auf mich, wenn ihr in euren großen Schwärmen reist.“
Darauf wusste der Tropfen nichts zu sagen, außer, dass das stimmen mochte. „Wollen wir ein Spiel spielen?“, flüsterte der Wind schelmisch, und noch bevor der Wassertropfen antworten konnte, wurde er auch schon hoch in Luft geworfen, etwas vorsichtiger als vorhin. Zuerst hatte der einsame Tropfen wieder Angst, doch die Stimme des Windes war nicht feindselig gewesen, und so ließ er es einfach geschehen; einige Meter weiter fing der Wind ihn wieder auf, um ihn wieder hochzuschleudern, und nach einer Weile genoss er das Spiel und lachte vergnügt mit den kleinen Böen um ihn herum.
Auf diese Weise legten sie eine weite Strecke über dem Ort zurück, mal in geringer, mal in großer Höhe, und der Tropfen staunte, was er alles auf dem Boden entdecken konnte, jetzt, wo er so langsam unterwegs war. Einmal strichen sie über eine Straße hinweg, und der Tropfen betrachtete zum ersten Mal einige Häuser genauer, die er sonst immer nur im Sturzflug gesehen hatte. Ein anderes Mal wanden sie sich um die Äste einer alten, kahlen Esche, und er staunte, wie schön Bäume waren, wenn man einmal genauer hinsah.
Schließlich erreichten sie einen Hügel in der Nähe, und der Wind ließ von seinem Spiel ab, stieg weit in den Himmel.
„Das war schön!“, rief der Regentropfen, ganz außer Atem. „Ja, das war es, mein Freund“, gab der Wind zurück und blickte dabei zum Horizont, wo sich der Morgen langsam ankündigte, „Aber ich muss jetzt gehen, siehst du den fernen Schatten dort?“, er zeigt in eine Richtung, „Dort muss ich sein, bevor der Morgen hier ist.“. Da sackte der Tropfen wieder in sich zusammen, und wäre er nicht aus Wasser gewesen, er hätte geweint. „Aber dann bin ich wieder ganz alleine…“, brachte er flüsternd heraus. Der Wind strich noch einmal über seinen Kopf, „Du bist nicht allein, mein neuer Freund. Ich bin der Wind; wo immer du auch bist, ich war schon da und bin es immer.“, er lächelte leise,“Wenn du mich kennst, dann bist du nirgendwo einsam.“, dann war er mit einem Heulen fort.

Der obige Text ist schon etwas älter, entgegen meiner ursprünglichen Absicht veröffentliche ich ihn jetzt doch. Ich hoffe, er ist nicht allzu kitschig.

Shrapnel Flakes

Diesen Artikel drucken 23. Juni 2007

Dieser Regen.
Sein Blick schweifte über die Dächer.
Dieser verdammte Regen.
Das Wasser fiel schwer auf die Betonflächen, sammelte sich in kleinen Mulden und kroch schließlich gelangweilt in die Drainagerohre. Er hasste diesen Regen, nicht unbedingt, weil er nicht nass werden sollte. Aber er fand das gerade diese Art von Regen der wunderschönen Einheit aus Glas, Keramik und Aluminium ein schmutziges, überaltertes Aussehen gab. Er griff hinter sich, zog einen Gegenstand hervor, legte ihn vorsichtig auf den Tisch. Normaler Regen war schön, ein Schauer auf dem Land etwa, aber dieser, dieser Regen hatte etwas Schmuddeliges, Herausgewürgtes, etwas, dass Erinnerungen heraufbeschwor. Er wusste nicht genau, woran, vielleicht an alte Gangsterfilme. Ja, vielleicht war das der Grund für sein Unbehagen. Mit einer sicheren Bewegung griff er zwischen den Tablettenschachteln hindurch, fand nicht, was er gesucht hatte, stand von seinem Schreibtisch auf, kehrte mit einer Flasche Öl zurück. Noch einmal blickte er aus dem Fenster. Der Regen war immer noch da, der Wind hatte kurz gedreht. Milchige Tropfen klebten an der Scheibe und weigerten sich noch, der Schwerkraft nachzugeben.
Er schüttelte verächtlich den Kopf und klopfte zweimal auf der Halfter, das er auf den Tisch gelegt hatte. Wenn man dem Hersteller Glauben schenken durfte, entriegelte sich das Holster in weniger als eine Hunderstel Sekunde und schob in einer weiteren Hunderstel die Waffe so hervor, dass sie dem Schützen -hoffentlich – direkt in die Handfläche schnellte. Aber so ganz hatte er das nie geglaubt; ihm kam es viel langsamer vor. Außerdem verursachte das Aufschnappen dieser Halfter ein unüberhörbares Surren, weil sowohl der Verriegelungsmechanismus als auch der Griff kurzzeitig die Schallmauer durchbrachen (aber auch das nur eine Behauptung des Herstellers). Nichts davon gefiel ihm, aber andere Holster waren teuer, und außerdem verpflichtete ihn sein Arbeitsvertrag dazu, nur solche zu tragen. Es seien ‚Sicherheitshalfter‘, hatte sein Boss gesagt. Er hatte nur gefragt, für wen sie sicher seien – für ihn oder für einen Angreifer – aber darauf hatte er keine Antwort bekommen.
Er arbeitete in einem On-Demand-Store, also in einem Geschäft, das die Alten heute noch als Supermarkt bezeichneten. Über Supermärkte wusste er nur das, was seine Mutter ihm darüber erzählt hatte, und was er von ihr gehört hatte, das schien ihm vollkommen unvernünftig und eben auch überhaupt nicht vergleichbar mit seinem On-Demand-Store.
Im Wesentlichen saß er den ganzen Tag vor einem PC, hinter einer vier Zentimetern starken Schutzglasscheibe, die sowohl alle möglichen Arten von Projektilen als auch die meisten handelsüblichen Sprengstoffe abhalten sollte, aber auch das war nur eine Angabe aus einem Handbuch, in das niemand besonders großes Vertrauen setzte. Er saß also hinter dieser Scheibe, und wenn ein Kunde kam, dann musste er zunächst auf einen Knopf drücken, damit der Alarm nicht losging. Der Kunde konnte ihm dann über eine Gegensprechanlage seine Bestellung nennen oder sie direkt über einen Scanner einlesen lassen; die Kette gab drei Prozent Rabatt auf letzteres, seit man festgestellt hatte, dass sich die Eskalationswahrscheinlichkeit signifikant erhöhte, wenn Kunde und Transaktionsagent zu viele Worte wechselten; und in diesem Business ging es immer um Eskalationswahrscheinlichkeiten. Hatte der Kunde seine Bestellung aufgegeben, dann ging der Transaktionsagent nach hinten ins Lager, um die Waren zusammenzusuchen. Währenddessen musste der Kunde ganz ruhig stehenbleiben, sonst ging wieder der Alarm los. Wenn alles gut lief und die Kreditkarte des Kunden gedeckt war, dann schob er die Ware durch ein kompliziertes System von verschiebbaren Wänden in den Vorraum, wo der Kunde sie entnehmen konnte. Leider lief es nicht immer gut.
Er zog die Waffe aus dem Holster, entfernte das Magazin, zog den Lauf nach hinten. Die letzte Patronen fand ihren Weg durch den Auswurfschlitz, flog durch den Raum und rollte unter den Tisch. Routiniert tränkte er einen Lappen mit dem Öl und begann, die Waffe auseinanderzubauen.
Sein Vertrag schrieb vor, die Waffe wöchentlich zu reinigen, aber er macht es täglich, fand es entspannend. Er hätte die Pistole auch im Dunkeln zusammensetzen können, und so überließ er allein seinen Händen diese Tätigkeit, während er hinunter auf die Straße blickte. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, und diese wenigen trugen schwere Regencapes oder kleine Schirme. Alle hielten respektvollen Abstand voneinander, aber das war nur natürlich, sie kannten sich nicht, also konnten sie auch nicht wissen, was die anderen im Sinn hatten. Nur ein breiter, glatzköpfiger Mann patrouillierte ungerührt im Muskelshirt die Straße entlang, das Wasser perlte von seinem kahlen Schädel. In der Armbeuge trug er weithin sichtbar die Replik einer alten Magnum, wahrscheinlich eine dieser aufgemotzten Automatikknarren, die Keramik verschossen. Der Glatzkopf hatte sicher zwei Monatsgehälter dafür bezahlt, und jetzt führte er sie spazieren. Es war nicht verboten, die Waffe so zu tragen, im Gegenteil; nach den jüngsten Schießereien war es an Universitäten und Schule sogar verboten, die Waffen nichtoffen zu tragen. Trotzdem mochte er den Glatzkopf nicht, er wusste nicht, warum. Natürlich waren auch die meisten anderen Leute auf der Straße bewaffnet; manchmal verrieten sie sich durch Beulen in der Kleidung, wo keine sein dürften, und ein alter Herr, der kurz seinen Sichtbereich kreuzte, hatte entweder ein Holzbein oder trug eine Automatik an der Wade. Vielleicht ärgerte ihn auch nur, dass er sich eine solche Waffe nicht leisten konnte. Von Zeit zu Zeit stritten sich Leute im Fernsehen darüber, was diese Entwicklung ausgelöst hatte. Vor einigen Tagen erst hatte er wieder zufällig eine Dokumentation darüber gesehen. Ein Soziologe im feinen Anzug hatte dort gesagt, es sei der Terrorismus gewesen, ein anderer hatte ihm entschieden widersprochen, es sei vielmehr die globale Angst gewesen.
Letzteres fand er irgendwie einleuchtender, auch wenn ihn die Diskussion nicht wirklich interessierte. Außerdem waren diese feinen Herren letztlich in gewisser Weise auch nur Politiker, genau wie alle Menschen im Fernsehen irgendwie Politiker waren – und denen traute man nicht. Die Sache war einfach – es gab viele böse Menschen mit Waffen, also mussten sich die Guten auch bewaffnen und hoffen, dass sie nie einen Schuß abgeben mussten. Das war die vorherrschende Meinung (u.A. auch die seines Bosses) und er teilte sie größtenteils.
Er war in der Phase des Umbruchs aufgewachsen, und dem zu Folge hatte er viele Erinnerungen an jene Zeit, wenn auch verschwommene. Manchmal dachte er, die Probleme hätten eigentlich erst begonnen, als Cornflakes plötzlich BULLET POPS oder SHRAPNEL FLAKES hießen und man Büstenhaltern Namen wie FLYING BETTY (das war, so wusste er, ein alter Landminentyp) gab. Natürlich hatte es immer schon Waffen gegeben, auch Waffennarren. Aber an einem gewissen Punkt in seiner Kindheit hatte sich etwas verändert; plötzlich schaffte sich jeder eine an. Auf einmal gab es Waffenkunde als Unterrichtsfach an staatlichen Schulen. Kinder, wie er damals eins gewesen war, freuten sich plötzlich nicht mehr auf üppige Geldschenke zur Kommunion, sondern auf die erste eigene Schußwaffe. Aber natürlich existierten die eigentlichen Probleme schon viel früher, die Gewalt, die Kriminalität, der Terrorismus, alles andere war nur eine Reaktion darauf gewesen. Die ‚Zivile Wehrhaftigkeit‘ (so nannten es die Nachrichtensprecher respektvoll) war ja erst danach entstanden, als eine Art der Lösung. Trotzdem dachte er manchmal, das hätte die Probleme erst verursacht, auch wenn es verrückt war. Genauso verrückt wie das unsichere Leben, das frühere Generationen geführt hatten. Natürlich hatten diese Leute auch weniger Angst gehabt, aber wer nicht sah, konnte sich auch nicht fürchten. Nun sahen die Menschen – und füchteten sich. Auch das war nur natürlich; außerdem konnte man ja etwas tun gegen die Angst.
Er sah kurz auf die Waffe herunter, musterte den Lauf gewissenhaft und befand das Ergebnis für gelungen, baute sie wieder zusammen. Gott Sei Dank hatte er sie nie außerhalb der Schießstandes abfeuern müssen (den musste er ebenfalls einmal in der Woche aufsuchen, aber darum drückte er sich, wenn er konnte). Es würde auch nicht viel Sinn machen, damit auf die Sicherheitsscheibe im Laden zu schießen; zwar gab es Scheiben, die nur eine Seite schützten, aber solche waren teuer, und sein Boss weigerte sich, sie einbauen zu lassen.
Dafür hatten sie wie die meisten Geschäfte natürlich computergesteuerte Systeme im Vorraum, die mit dem Alarm verbunden waren. Vor einigen Monaten hatte ein Typ im Anzug bei ihm ein halbes Pfund Brot kaufen wollen, was schon an sich verrückt genug war. Nur war der Mann, wie sich später herausstellte, vollkommen zugedröhnt gewesen (seine Mutter nannte solche Typen Junkies, aber der Begriff war aus der Mode gekommen, seit synthetisches Crack billiger war als sauberes Trinkwasser) und bestand darauf, mit einem Winchester-Replikat zu bezahlen, das sicher teuer gewesen war. Natürlich hatte er als gewissenhafter Angestellter (und vor allem aufgrund seines Mißtrauens in Bezug auf die Scheibe) sofort den Roten Knopf gedrückt. Der Alarm war mehrstufig, er hatte das schon bei seiner Sicherheitseinführung kennengelernt. Zunächst sagte eine Stimme aus den Deckenlautsprechern nur, man solle sich hinlegen und die Hände hinter den Kopf nehmen, sonst würden weitere Maßnahmen eingeleitet werden. Die zweite Warnung wies einen eindrücklich darauf hin, dass dem Folge zu leisten sei – die dritte war bei der Beschreibung dieser Maßnahmen schon so deutlich, dass er sich oft gefragt hatte, ob das zur Entspannung wirklich noch beitrug. Aber vermutlich war es an dem Punkt sowieso schon zu spät. Jeder, wirklich jeder wusste, was nach der vierten passierte, und wer sich nach der dritten noch nicht hinlegte, der war entweder todessehnsüchtig oder einfach verrückt. Was der Typ im Anzug gewesen war, hatte er nicht erfahren. In jedem Fall hatte er sich nicht hingelegt. Aber was sollte er sagen, er hatte einen Tag freibekommen und war Mitarbeiter des Monats geworden. Das heißt, zunächst war sein Boss regelrecht wütend gewesen, dass jemand soviel Papierkram verursachte (wegen eines halben Pfundes Brot), aber da er ja nicht im mindestens dafür verantwortlich war (das zeigten auch die Videoaufnahmen), war das schnell wieder verflogen, vor allem, da sich die Schäden am Inventar in Grenzen hielten.
Er sah auf die Uhr, während er eine Tablette gegen die Kopfschmerzen einwarf, die vermutlich von dem neuen Valiumderivat herrührten, das er sich besorgt hat; er warf die Schachtel verächtlich durch den Raum, sie prallte an der Wand ab und fiel zielgenau in den Papierkorb.
Jetzt musste er also doch noch raus, um neue Tabletten zu besorgen. Das ärgerte ihn, aber es war wohl nicht zu ändern. Er erhob sich seufzend aus dem Stuhl, nachdem er die Waffe wieder ins Holster gesteckt hatte, um das gekippte Fenster wieder zu schließen. Draußen regnete es weit weniger stark, aber die Straße machte immer noch einen schmutzigen Eindruck. Unten ging immer noch der Glatzkopf auf und ab, und der stärker werdende Strom an Passanten drängte sich unsicher an ihm vorbei. Seine Hände fanden zum Fensterriegel und zögerten. Er betrachtete die Menschen auf der Straße, ein verhärmtes Grinsen drängte sich in sein Gesicht. Dann schlug er das Fenster mit soviel Wucht zu, dass die rahmenlose Scheibe mit einem lauten Krachen in seine Aufhängung schlug.
Auf der Straße duckten sich die Passanten, einer fiel hin, mindestens fünf andere griffen in ihre Jacken, soweit er es erkennen konnte. Selbst der Glatzkopf zuckte ein wenig zusammen und griff zum Holster.
Er lächelte diabolisch und wollte sich wieder setzen, als der Glatzkopf zu ihm hochblickte und finster anstarrte; er hob die Hand in seine Richtung, machte mit Zeigefinger und Daumen eine eindeutige Geste.
Er grinste schief, zeigte dem Glatzkopf den Finger. Seine Hand zitterte ganz leicht, dann drehte er sich vom Fenster weg.
Tabletten. Er brauchte neue Tabletten. Bedächtig griff er nach seiner Jacke und zog sie an, während er zur Tür ging.
Einen Moment lang blieb er stehen, dann lachte er bellend über sich selbst. Wie konnte er das vergessen? Er ging zurück zum Tisch, nahm das Holster und steckte es wieder ein.

Gesicht.

Diesen Artikel drucken 5. Juni 2007

Der Blick findet zögernd in den Spiegel, als hätte er diesen Weg lange nicht mehr genommen, aber dann verweilt er doch dort, einen ruhigen, langen Moment lang, und mustert, was er findet. Es sind dunkle Augen, die sich da selbst betrachten, ganz nüchtern und klar. Die Pupillen werden größer, versuchen jeden Lichtstrahl einzufangen, den die blanke Fläche zurückwirft, kriechen bedächtig von Merkmal zu Merkmal. Eine Nase ist da, mitten im Gesicht, etwas verbrannt von der Sonne. Sie wirft einen leisen Schatten auf eine Wange, dreht sich, der Schatten wechselt die Seite, nein, nichts verbirgt sich darin, nur Fleisch.
Auch ein Mund mit Zähnen. Lippen, kaum gespitzt und nur wenig rissig an den Rändern. Einen Augenblick lang üben sie scheinbar unbewusst Szenen, einen Kuss, den verbitterten Ausdruck des Abgeschlagen-Seins, noch eine Fratze der Boshaftigkeit und ein langsam auftauendes Lachen, das die kontrastierenden Augenbrauen mit einbezieht. Dann scheinen sie des Spieles müde zu sein, werden wieder nominell, normal, leer. Die Augen nehmen nur diesen Eindruck auf, streifen noch über die unwirschen Haare, suchen das Gesamtbild, finden es und verlieren es wieder.
Das Gesicht wirft noch keine Falten, oder etwa doch, es ist undeutlich, aber da sind schon Krater, wenn auch nicht die des Alters. Sie sind klein und scharfkantig, und nur im richtigen Licht kann man sie erkennen, nur im richtigen Licht und auch das nur manchmal; wenn man sie sieht, dann hinterlassen sie den Eindruck der Leere zwischen Industriehallen, ganz kalt und von einer schalen Dämmerung ausgeleuchtet. Manchmal scheinen sie wie eine Sinnestäuschung, als wäre da etwas Fremdes auf dem Spiegel. Die Hand findet zur Glasoberfläche, klopft dagegen, Staub löst sich, das Bild wird klarer.
Doch nein, die Krater bleiben. Nichts mehr zu retten. Aber wer könnte das schon von sich behaupten?
Ein Lächeln übermannt den Spiegel.