Kategorie '/single shot'

Ein Text, eine Geschichte.

Venus

Diesen Artikel drucken 25. Oktober 2006

Wenn er so hinaufsah, dann erschien ihm dieser leuchtende Fleck am Himmel immer noch realer, realer als all das hier, realer als die leuchtenden Gebäude oder die großen, städtischen Adern aus Licht.
Eigentlich gab es auch nicht mehr als diesen kleinen Stern, der dort knapp über dem Horizont hing, nicht mehr, nicht für ihn.
Stundenlang konnte er so dastehen, vor den hohen Zäunen des Centers, und diesen Punkt dort betrachten, während seine Finger still die Münzen in seiner Tasche zählten.
Zu einer weit entfernten Welt gehörte er, dieser Fleck am Himmel, unvorstellbar weit entfernt. Durch eine große, kalte Leere müsste man reisen, um sie zu erreichen, es wäre eine lange Reise, wenn auch nur ein Katzensprung auf den Skalen des Universums.
Fremdartige Wolken bedeckten sie, diese andere Welt, entzogen sie jedes direkten Blickes, und verborgen darunter lag eine unwirkliche, rot-braune Ebene aus Fels und Gas.
Stünde er dort, ein schwerer, heißer Wind aus Gift und Gas würde ihn umhüllen, nicht zu vergleichen mit irdischen Stürmen oder gar der lauen Brise, die an solchen Abenden die Fahnen des Centers sachte flattern ließ, es war ein extremer Ort, ja, aber dafür auch kaum ambivalent, von konsequentem, fremdem Gemüt.
Und deshalb war diese Welt für ihn erstrebenswerter und wahrhaftiger als alles auf diesem blauen Planeten.
Dem irdischen Leben gewann er schon lange nichts mehr ab, all den vielen obszönen Details und den Verworrenheiten, den komplexen Bindungen, die Menschen einzugehen pflegten, den Ausflüchten, die sie alle für ihre Fehler und Laster vorbrachten. Auch er war einmal so gewesen, eine Ameise, die auf einem blauen Ball umherlief ohne nach oben zu schauen, damals, bevor seine Frau weggegangen war. Doch schon lange war das her, und er vermisste ihr Gesicht kaum noch.
Nein, sein Streben galt einzig und allein noch diesem Fleck dort oben, sie beide verband etwas, fühlte er, ihr Schicksal musste verknüpft sein.
Und auch wenn kein menschliches Auge sie je erblickt hatte, diese andere Welt, und auch wenn sie jedem menschlichen Leben die Existenz verweigern würde, in seinen Gedanken und Träumen existierte nur noch sie, und manchmal glaubte er, beinahe eine Geliebte, eine Liebe von fremdartiger Schönheit in diesem flimmernden kleinen Fleck zu erkennen.
Eine ‚Göttin‘ hatte die Antike sie genannt, eine von großer Schönheit, obwohl man damals nur ihren fahlen, fernen Schein in der Dämmerung gekannt hatte, nichts gewusst hatte von Gestirnen oder Instrumententrägern.
Anders als die Menschen der Antike hatte er natürlich die Aufnahmen gesehen, die ihre nichtmenschlichen Besucher von ihr gemacht hatten, Bilder von bedrückender Feindlichkeit, in stechend-gelangweilten Farben, ganz anders als in der Vorstellung der Antike. Doch in seinem Geiste sah er ein anderes Bild, ein ähnliches zwar, aber ein wenig heiterer, etwas verschoben, von einer tiefer liegenden Ästhetik gezeichnet, gesegnet.
Eine entstellte Schönheit blieb schön, wenn es echte Schönheit war, das glaubte er. Und so sah er in diesem hellen Fleck nicht den säureummantelten Vorhof der Hölle, den manche seiner Mitarbeiter sahen, er konnte und wollte nicht, und so verschwieg er ihnen meist seine Gedanken. Trotz der Widrigkeiten und all der Umständen; sie blieb ein warmer, ein seltsam mythischer Ort inmitten einer großen kalten Leere.
Er war sich sicher; eines Tages würde er dieses große Nichts durchqueren, das die physische Welt auszumachen schien, in einem unsicheren, winzigen Gefährt. Und nach einer langen Reise würde er sie schließlich erreichen. Sie würde ihn sicher herzlich aufnehmen, auf ihre Weise.
Und dann würde er für immer bei ihr bleiben.

Der stille Begleiter

Diesen Artikel drucken 12. September 2006

Ich grüße dich,

Ich weiß nicht genau, auf welche Weise ich dich ansprechen soll, und vielleicht sollten wir diese Frage – vielleicht meine einzige – zuerst behandeln.
Sie scheint eine der elementarsten Fragen der Kommunikation zu sein, geht notwendigerweise meist ihr voraus, und so mag es manchem merkwürdig erscheinen, dass ich einen Brief verfasse, ohne sie beantworten zu können:

Wer bist du?
Wer bist du, Adressat dieses Briefes?

Ich bin mir sicher, ich kenne dich, ich weiß, du kennst auch mich. Wir sind schon lange miteinander bekannt, du und ich, ja, soviel steht fest. Denn niemand, keiner außer dir weiß soviel über mich wie du; du kennst mehr meiner Schwächen als meine Freunde und mehr Geheimnisse als meine Vertrauten. Oft scheinst du mir sogar in Dinge eingeweiht, von denen selbst ich nur weiß von Zeit zu Zeit.
Wenn ich gehe, so gehst du neben mir, wenn ich reise, so reist du mit mir. Selbst in meinen Träumen bist du bei mir, einige beherrschst du sogar.
Und dennoch kenne ich deinen Namen nicht. Auch weiß ich nicht, wo du wohnst, oder was du tust wenn ich tief und traumlos schlafe.
Lass mich auch fragen;
Von welcher Natur ist deine Person? Bist du ganz Einbildung? Bist du real? Liegt die Wahrheit vielleicht dazwischen?
Manchmal denke ich, wir könnten Zwillinge sein; oder anders, zwei Teile von einem Ganzen, Zerbrochenen. Ja, vielleicht ist diese Vorstellung der Wahrheit nah; wir sind die beiden Teile eines Gemäldes, eines Ganzen. Natürlich sind wir verschieden; ein bisschen wie Feuer und Wasser an vielen Tagen. An manchen raufen wir sogar miteinander im Kampfe, und oft bist du der Stärkere.
Trotzdem, wenn ich so in den Spiegel schaue, so sehe ich dir ein wenig ähnlich, denke ich, auch wenn ich dich natürlich noch nie gesehen habe. Es ist mehr ein Gefühl als eine Wahrnehmung. So siehst wohl auch du aus, das denke ich mir dann und sehe etwas Vertrautes in meinem Spiegelbild. Es ist wie in manchen Momenten, wenn wir zusammen an einem fremden Ort sind; wenn ich dann plötzlich deine unsichtbare Hand auf meiner Schulter fühle, so warnend, da erkenne ich dich in mir selbst.
Es ist merkwürdig – sind wie verwandt, sind wir von derselben Art? Oder erliege ich einer Täuschung und wir haben nichts gemein? Ich weiß es nicht, und deshalb schreibe ich dir diesen Brief.
Sind wir Freunde? Es besteht kein Zweifel, du bist mir oftmals überlegen, aber bist du mir auch freundlich gesonnen? Ich frage nicht ohne Grund, wie könnte ich. Manchmal scheinst du mich beschützen zu wollen, ergreifst mich mit den Armen und zerrst mich weg von manchen Plätzen oder Menschen; und auch wenn ich dann die Furcht spüre, das Ausgeliefertsein, so meine ich doch eine gute Absicht dahinter zu erkennen. Du packst mich nicht nur grundlos, machst mir nicht aus einer perversen Freude heraus Angst, du willst mich vielmehr vor größerem Schaden schützen, der mir die Nähe anderer Menschen bringen würde; ja, das möchte ich gerne glauben.
In anderen Momenten aber verstehe ich dich nicht, ich sehe den Sinn in deinem Tun nicht, und dann scheinst du mir fast brutal; du scheinst in manchen Augenblicken nur zu warten, auf den richtigen, den passenden, den schwachen Moment zu warten, indem ich dir gerne zuhöre und all das tue, was du sagst. Fast so, als wäre ich nur noch und ganz Du. Oft erscheint mir dein – mein Handeln dann widersinnig, gar selbstzerstörerisch, von einer undifferenzierten Gnadenlosigkeit getrieben.
Daher weiß ich es nicht; bist du Freund oder Feind?

Bitte gib mir Antwort, ich bitte dich darum. Bedenke; du scheinst soviel über mich zu wissen, aber ich weiß nur so wenig über dich – obwohl ich jeden Tag mit dir leben muss; das scheint – vielleicht – auch dir nicht fair.

Wartend, ein Freund(?)

Sisyphos

Diesen Artikel drucken 2. September 2006

Unter den alten Griechen lebte eins ein Mann, den wir heute Sisyphos nennen; dies war zu einer Zeit, als die Götter, die wir heute nur noch aus Erzählungen kennen, noch Macht besaßen und über die Welt herrschten, die sie als ihren Besitz erachteten.
Mit nur wenig Ironie könnte man sagen, dass Sisyphos ein moderner Mensch war; tückisch war er, intelligent und auch recht geschickt, ein fleißiger Mann. Er scherte sich recht wenig um die Autorität der Götter, die -Kindern gleich- mit dem Schicksal der Menschen zu spielen schienen. Und so scheint auch unausweichlich, dass er bei den Göttern in Ungnade fiel, er, der sich gern als freies Individuum sah. Zunächst unterschätzten die Götter seinen Freiheitsdrang und seine Tücke, so dass es ihm gelang, selbst den Tod zu überlisten.
Doch natürlich ist es absurd anzunehmen, dass ein Mensch, selbst ein sehr gescheiter, es mit der Macht der Götter aufnehmen könne. Und so kam es dann auch, wie es kommen musste; Sisyphos wurde schließlich gestellt und seiner Freiheit beraubt.
Oben im Olymp berieten die Götter nun, wie Sisyphos zu bestrafen sei. Es lag auf der Hand, dass eine harte Bestrafung gefunden werden musste, denn auch wenn manche der Götter die Unerbittlichkeit dieses kleines Wesens insgeheim bewunderten, so konnte man nicht ungesühnt lassen, das Sisyphos die Autorität des ganzen Götterhimmels untergraben hatte wie kaum ein Mensch vor ihm.
Man einigte sich schließlich auf eine Strafe; bis in alle Ewigkeit sollte Sisyphos in der Unterwelt bleiben, in einer Talmulde, die die Götter nur für ihn geschaffen hatten. Ein hoher Berg war dort erschaffen worden, auch ein schwerer Klotz aus Gestein.
Man erklärte nun Sisyphos, er müsse nur diesen Stein auf die andere Seite des Gebirges rollen, denn dies wäre seine Strafe.
Sisyphos, der sich seiner Lage bewusst war, begann also, den schweren Stein den Berg hinauf zu schieben. Das Gewicht des Steines war so gewählt worden, dass er ihn nur unter größter Anstrengung bewegen konnte, doch Sisyphos schaffte den Stein schließlich auf den Gipfel des Berges. Doch die Götter hatten in ihrer Bosheit das Gebirge so geschaffen, dass der Stein unweigerlich wieder hinunter rollen musste, so dass Sisyphos wieder und wieder von vorne anfangen musste.
Auch da hörte man von Sisyphos kein Klagen oder Wehen; das Ränkespiel der Götter hatte er schnell durchschaut.
Von Hunger und Durst, Krankheit und Alter befreit schob Sisyphos nun den Stein hinauf, der dann wieder nach unten rollte, Jahrhunderte lang. Einige Jahrzehnte lang sahen die Götter ihm dabei zu, um Genugtuung zu erfahren, doch dann wurde ihnen das Zuschauen langweilig und sie beschäftigten sich wieder mit anderen Dingen.
Und so hörte man in diesem Tal Jahrtausende lang nur das einsame Keuchen Sisyphos‘ und von Zeit zu Zeit, wie der Stein mit einem lauten Grollen wieder hinunter stürzte. Mit dem Äonen wurden die Hänge jenes Berges feucht und rutschig vom Schweiß, den Sisyphos vergoss, und rot vom Blut seiner geschundenen Füße. Und doch rollte Sisyphos den schweren Stein ohne zu hadern immer wieder den Hang hinauf, der kurz darauf wieder ins Tal polterte, immer wieder.
Die Götter betrachteten währendessen die Welt, die sie schon lange vergessen hatte. Ein anderer herrschte nun über sie, und sie mussten zusehen, wie ihr Einfluß schwand und schwand, bis sie schließlich nur noch schweigend zusammensaßen und zusehen mussten, wie ein anderer die Welt nach seinen Wünschen formte.
Mit einer gewissen Neugier begannen sie schließlich über diesen anderen zu lesen, den sie verstanden nur wenig von seiner Art zu handeln. Und so lasen sie die Bücher der Menschen über diesen Fremden, und sie lasen sie sehr genau und viele Jahre lang.
Nun, die Götter waren sehr starsinnig und eigen, dennoch konnten sie manchen der Ideen in jenen Büchern nicht verschließen, und so beschlossen sie schließlich, die Welt diesem anderen zu überlassen und zu gehen, denn sie hatten erkannt, dass dieser fremde Gott gerechter und auch besser herrschte, als sie es jemals gekonnt hatten.
Doch zuvor erinnerten sie sich an die Strafe, die sie gegen Sisyphos verhängt hatten, und während sie ihn so ansahen, wie er den Stein über die vielen kleinen Rinnsale schob, die sich gebildet hatten, da überkam sie Mitleid, eine Empfindung, von der sie in den Büchern des Anderen gelesen hatten. Und so entschieden sie, ihm zu vergeben, und gingen fort.
Sisyphos schob den schweren Marmorstein wieder den Berg hinauf, und als er oben angekommen war, blickte er wieder ins Tal hinunter und erwartete, dass der Stein wieder hinabrollte. Doch nichts dergleichen geschah – der Stein blieb einige Sekunden auf dem Gipfel liegen, bevor auf der anderen Seite wieder hinab donnerte und in die Schwärze der Unterwelt fiel, ohne dass ein Aufschlag zu hören war.
Sisyphos aber, der niemals geklagt hatte, fiel nun auf die Knie und begann zu weinen, zu toben und zu schreien. Er verfluchte die Götter und rief sie zu sich herab. Doch niemand hörte ihn mehr, und so verklangen seine Schreie für Ewigkeiten in der leeren Unterwelt.

frei nach dem Sisyphos-Mythos.

Zeitschleife

Diesen Artikel drucken 17. August 2006

Vielleicht ist es ein ganz neutraler Raum, ein normales Zimmer, vielleicht ist es nur der Geruch eines sterilen Fußbodens, er weiß das nie so genau, es könnte auch der Blick durch ein zerkratztes Fenster sein, oder der kleine Abgrund vor jeder Stufe einer Treppe. Ein Wortfetzen mag genügen, ein unbedachtes Wort, und schon riecht er wieder den eigenen Schweiß, den Geruch von Angst, sieht die Augen des Nachrichtenoffiziers, ganz gelb und schwarz. Manchmal erscheint es ihm ganz und gar zufällig, aber das stimmt nicht, das ist nicht wahr. Es steckt ein Muster dahinter, jeder dieser kleinen Eindrücke ist Teil eines großen Mosaiks, dem Bild in seinen Erinnerungen. So schlägt etwa eine Tür vor ihm zu, mit einem blechernen, schäbigen Geräusch, und sofort hat er diese eine, andere Tür in seinen Erinnerungen wieder vor sich, den Schlag, mit der sie ins Schloß fiel, nicht in einem bildlichen Sinne, es ist mehr ein Gefühl, das Gefühl für ein kaltes Ende und ein bitteres Aufwachen, der überwältigende Eindruck des Ausgeliefertseins. Es gibt Millionen dieser Mosaiksteine, er hat sie nie gezählt, über die ganze Wirklichkeit sind sie verstreut in ihrer boshaften Vielfalt, ein andauerndes Erinnere dich, dass keine Gnade kennt als den Tod und so erinnert er sich, erinnert sich an jede winzige Nuance dieser banalen, dunklen Zelle, die kleinen, sichelförmigen Aussparungen im Waschbeton, das Surren der vergitterten Kaltlichtröhren. Sie ist ein Teil von ihm, diese Zelle, oder vielleicht ist sogar er Teil von ihr, ein Teil wie das hohle Klicken, das er in jeder klimpernden Münze hört, ein Teil wie die heisere Stimme, die dazu spricht, „Next time it’s loaded“.
Ein Keuchen geht dann durch seinen ganzen Körper, wenn er diese Stimme hört, immer noch, hastige, unruhige Finger scheuern über die flachen Narben an den Armen, die wohl nie ganz ausbleichen werden. Es geht wieder vorbei, denkt er sich dann, es muss wieder vorbeigehen, diese Dinge liegen hinter ihm.
Und dennoch träumt er jede Nacht davon, von diesen langen Tagen in der kleinen Zelle, den kalten Augen des Mannes, der ihm seinen Namen nie gesagt und nur unzählige Fragen gestellt hatte. Nie, fast nie träumt er noch von einer Zukunft, und wenn, dann erscheint sie ihm nur als schwarzer Strudel, als negierendes schwarzes Loch, mehr ein Symbol der Unausweichlichkeit als eines der Möglichkeiten des Ungewissen vor ihm.
Er ist sich sicher, er müsste nur heraustreten aus seiner Gegenwart, die Vergangenheit ist, nur verschwinden in diesem schwarzen Strom, dann würde er erwachen – wieder erwachen in seiner Zelle.

Stich

Diesen Artikel drucken 4. Juli 2006

Ganz knapp unter den Rippen war der Gegenstand von der Form eines Schraubendrehers eingedrungen, nur noch ein wenig höher, dann wäre er gegen eine Rippe geprallt und nicht so tief vorgedrungen, aber es war knapp darunter gewesen und so so schien die Wunde tief, wenn er sie auch nicht spürte, war das nicht wunderlich, er fühlte sie gar nicht, nur eine warme Nässe vielleicht, und doch wusste er, sie war da, hatte er die Bewegung doch genau verfolgt, den mühelosen Stich gesehen.
Einen kurzen Moment lang verfolgte ihn das Warum, eine kalte Frage nach den kausalen Zusammenhängen, warum ich, es war eine verwirrte Frage, die Frage eines Kindes, sie verflüchtigte sich schnell im Licht der Scheinwerfer, er beschloss, die Hände seltsam taub auf die Wunde zu legen, was sollte er tun, er versuchte das Gesicht des Mannes einzuprägen, der sich so schnell wieder umgedreht hatte und gegangen war, es entglitt ihm.
Hilfe, er benötigte Hilfe, unsicher drehte er sich herum, suchte die vertrauten Gesichte, die eben noch um ihn herum gewesen waren, der Boden unter ihm schien zu beben, auf eine sonderbar geschwungene Art und Weise, er erkannte zwei der Menschen, trat auf sie zu und hatte plötzlich das Gefühl, zu fallen oder schon zu liegen, er lag schon, denn der Boden erwiderte kühl das Pochen seines Herzens, Menschen standen um ihn herum, sie schienen ihm erschrocken oder gar geschockt, er fragte sich einen Moment lang, was wohl geschehen war, er kannte keinen der Menschen, oder vielleicht erkannte er auch nur niemanden, ganz sicher war es sich nicht, zwei der Menschen knieten neben ihm, auch wenn ihm dieser Begriff plötzlich schwerfällig und verschwommen erschien, ihre Gesichter schwebten über ihm, von den vielen bunten Lichtern ausgeleuchtet, ein schönes Farbenspiel, wie er bemerkte, er fragte sich, woher es wohl stammte und glaubte es wissen zu müssen, ebenso wie die beiden Gesichter dort oben hießen, deren Lippen sich so unablässig bewegten.
Die anderen Menschen waren wohl gegangen, er sah sie nicht mehr, aber das konnte am Licht liegen, entschied er seltsam gleichgültig, jemand hatte es gedimmt, ebenso wie die Musik.
Etwas Kaltes tropfte auf sein Gesicht, hatte es etwa zu regnen begonnen, nein, das erschien ihm in irgendeiner Weise falsch, was war es dann, er wusste es nicht, vielleicht war es wirklich Regen.
Der Boden bewegte sich wieder, nein, jemand richtete ihn ein wenig auf, er mochte es nicht, er wollte lieber liegen, konnte man ihn nicht einfach in Ruhe lassen, wer waren diese Menschen überhaupt, die Bewegung stoppte und man setzte ihn auf irgendetwas Weichem ab, er war zufrieden.
Irgendjemand schien auf das letzte Licht langsam verglimmen zu lassen, die beiden anonymen Gesichte wurden zu Schemen, ihre sonderbar anmutende Mimik wurde zu Schatten, und schließlich verschwanden sie ganz.
Ein kurzer Moment der Panik ergriff ihn, warum war es so dunkel, er fühlte nur noch seine Atemzüge, hektisch und unstet, ein leises Rasseln war darin, aber auch dieses Geräusch drang immer leiser an seine Ohren, die letzte Empfindung, und einen Augenblick später schon wurde er sich unsicher, ob er jemals etwas empfunden hatte, war es denn nicht schon so lange her, ein letzter Satz huschte durch seinen schläfrigen Geist, eine verirrte Erinnerung vielleicht oder eine späte Erkenntnis, Was denn dann bliebe, hörte er jemanden sagen, was denn dann bliebe, dass sei nur Dunkelheit & Stille, Dunkelheit & Stille.

„Jeder Mensch stirbt für sich allein.“ – Donnie Darko.

Lagrange-Punkt

Diesen Artikel drucken 27. Juni 2006

Mit einem fast nicht hörbaren Geräusch schnappte die Abdeckung hoch, einmal, zweimal.
Er blickte hindurch, wie er es gelernt hatte, der Mann neben ihm flüsterte einige Zahlen herüber, seine Finger verschoben die kleinen Rädchen über dem Lauf, ohne dass er darüber nachdenken musste, sie waren gut ausgebildet worden.
Es gab keinen Grund mehr, etwas zu sagen, eine Frage zu stellen oder gar Zweifel zu äußern, sie waren jetzt hier, nach Monaten der Suche waren sie hier und ihr Ziel war dort drüben.
Seine Augen wanderten vom Visier zum Foto und wieder zurück, dreimal, wie es die Vorschriften verlangten, ein viertes Mal noch zur Vergewisserung, dann war er sich ganz sicher.
Dies war ihr Ziel.
Er schlug die kleine, olive Mappe mit dem Foto wieder zu, schaute wieder durch das Visier, begann seinen Atmung zu verlangsamen, wartete.
Der Mann auf der anderen Seite des Visiers fiel nicht weiter auf, ein kurzgeschorener Bart begrenzte das längliche Gesicht, braune, klare Augen, kurze schwarze Haare, seine Aussehen war nicht weiter ungewöhnlich, und auf eine merkwürdige Weise erstaunte ihn das nicht, vielleicht erschien es auch genau deshalb logisch, dass dieser Mann ein Terrorist war, jemand wie der Mann auf der anderen Seite verschwand sicher schnell in einer Menschenmasse, in einem Bus, in einem Kaufhaus vielleicht, es war sicher leichter für ihn, ein Teil des Systems zu werden.
Die in der Dämmerung fast unsichtbare Gestalt neben ihm flüsterte eine leise Bestätigung, er robbte noch ein wenig näher an das Gewehr, presste sich den Griff tief in die Schulterbeuge.
Sie hatten lange gearbeitet für diesen Moment, es war nicht einfach gewesen, ihn aufzuspüren, ein halbes Dutzend Wohnungen besaß er allein in dieser Stadt, reiste kreuz und quer zwischen ihnen, er wusste, dass sie hinter ihm her waren, doch jetzt, wo sie ihn gefunden hatten, da ahnte er von nichts, er beobachtete, wie der fremde Mann seinen Tee trank, ganz ungerührt, auf eine makabere Art und Weise steckte eine gewisse Ironie darin, die ganze Zeit war er vorsichtig gewesen, mißtrauisch, hatte Haken geschlagen wie ein verfolgter Hase, doch jetzt saß dieser Hase ganz ruhig auf einer Terasse und trank Tee.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihm zuzusehen, kein schlechtes, und das schien ihm noch denkwürdiger, nein, er fühlte sich ein wenig entrückt, und er entschied sich, darüber einen Moment nachzudenken.
Es hatte immer etwas Surreales, fast Peinliches, wenn sie durch die Hinterhöfe und Gassen des Grenzgebietes schlichen, Gewehre im Anschlag, geduckt, während auf der anderen Straßenseite eine Familie spazieren ging oder ein junger Mann mit seinem Bauchladen vorüberlief, es brachte ein tiefes Gefühl der Deplatziertheit mit sich, so zu arbeiten, monatelang im Kampfanzug durch Wohngebiete zu streifen, immer auf der Suche nach dem Ziel, es fühlte sich falsch und verdorben an, weil die alltägliche Welt sich weiterdrehte und kein Stück zu weichen schien, während er in seinen schweren Stiefeln durch fremde Wohnungen stapfte oder Familienväter bedrohte, sie nicht zu verraten, weil der Alltag nicht einmal dem Gewicht ihrer Sturmgewehre wich.
Der Soldat neben ihm flüsterte die zweite Bestätigung, dann schwieg er, wie auch er es gelernt hatte, die letzte Entscheidung lag immer nur beim Schützen.
Hier war das anders, er blickte wieder auf den Mann, der immer noch an seinem Tee nippte, langsam, fast in Zeitlupe, hier war es anders. Die ganze Verworrenheit des Lebens entzerrte sich hier auf eigentümliche Weise, die vielen Ambivalenzen der Realität schienen sich zu lösen in diesem Moment, die Welt schien innezuhalten, zum reinen setting zu werden, die Rolle eines Statisten einzunehmen, nein, mehr als das, sie schien sich komplett von der Situation zu trennen, ganz so, als gäbe es keine Zeit, es blieb nur noch er, der Mann unter dem Fadenkreuz und die imaginäre Linie zwischen ihnen, die sie so eng aneinanderband.
Jede Entscheidung hier war einfach und schon längst getroffen, ihr fehlten die Faktoren des Alltags und Unwägbarkeiten des Realen, beides schien hier erodiert und verloren, mit ihnen schwanden auch die Optionen, schrumpften zu bloßen Operationen, Algorithmen blaßer Totalität, feuern oder verschwinden, leben oder sterben, 1 oder 0, binäre Abwägungen in einem System von nur noch binären Möglichkeiten.
Ein langvergessenes Gespräch kam ihm in den Sinn, während er die Augen auf der silbernen Tasse des Mannes ruhen ließ, davon hatte der Alte gesprochen, er verstand es jetzt. Es musste vor Jahren gewesen sein, aber jetzt erinnerte er sich wieder genau, auch an den alten, vergilbten Tisch, an der mit dem Alten gesessen hatte, betrunken waren sie gewesen, beide, und dort hatte der alte Soldat von diesem Punkt, diesem Moment gesprochen, ihm war der Name entfallen, er hatte in einem verrauchten, düster-zynischen Tonfall davon gesprochen und in Worten, die auf eine akademische Vergangenheit hatten schließen lassen. Und jetzt verstand er ihn.
Es war ein Gefühl der Macht und noch viel mehr als das, er betrachtete sein Ziel ein letztes Mal, legte den Finger auf den Abzug, es war das eigentlich Unmögliche, dass diesen Augenblick so merkwürdig scheinen ließ, die Alltäglichkeit und die Welt des Zivilen, die Welt der Lebenden, die sie sonst als Fremdkörper betrachtete und auszuspucken suchte, sie wich hier wortlos diesem schweren Lauf und machte Platz für eine metaphorische Welt der Toten und des Todes, ließen Raum für diese finalisierte Version totaler Macht, in der alles so einfach war, schießen oder verschwinden, leben oder sterben, 1 oder 0.
Ein chemisches Feuer loderte laut hörbar auf, presste das Geschoss durch den Lauf, folgte ihm noch einige Zentimeter und verlosch wieder.

post scriptum:
Lagrange-Punkt
Dokumentation zu israelischen Scharfschützen (leider alte Seite)

Albtraum

Diesen Artikel drucken 5. Mai 2006

Von einer besseren Welt. Ein blauer Himmel, viel größer als die verschlafene Ebene unter ihm, ein riesiges schimmerndes Dach für die Erde, blauer als blau, ein Zelt von der Farbe eines lang erstrittenen Friedens, klar und nur wenig ermattet. Das rot-blond eines fortdauernden Sonnenaufgangs an jedem Horizont und in jeder Himmelsrichtung zugleich, die feinfühlige Wärme des anbrechenden Tages in sich tragend wie eine frohe Botschaft.
In der Ebene aus hohen, friedvollen Gräsern und anschmiegsamen Bäumen eine seltsame Kreatur, ein wenig melancholisch und doch freundlich im Lichte des hoffnungsfrohen Morgens, dennoch etwas entrückt und außenstehend, als wäre die Kälte der Nacht noch nicht ganz aus seinen Gliedern gewichen oder gar in ihnen beheimatet.
Auch andere Wesen, in merkwürdigen Farben, die nicht so recht in diese Ebene passen wollen, sie wirken hier fremd, als wären sie aus einem fernen Reich hier her gekommen, um die Kreatur in ihrer Mitte zu treffen, und ein seltsam eingängiger Gesang schallt über die Ebene und scheint sie alle zu einen, die vielen bunten Facetten der Besucher mit der Kreatur widerspruchsfrei zu versöhnen, ihr Lied gleicht einer Meditation oder einem Gebet, in dem die Konturen und Farben aller ein wenig unscharf zu werden scheinen, aufzugehen scheinen in dem leisen Tanz, der bald die ganze Ebene erfasst, ein rhythmisches Strömen und Fließen, ein beständiges Von-Einander-Entfernen und Einander-Nähern unter diesem Himmel des allgegenwärtigen Sonnenaufgangs.
Nur die Kreatur scheint nie ganz diese Kühle der Nacht zu überwinden, seiner Stimme bleibt etwas ungelenk-verfrorenes und eine tiefe Sehnsucht, und während eine helle Sonne langsam den Himmel hinaufkriecht und das bunte Treiben kein Ende zu suchen scheint, da wird seine Stimme lauter, die der Besucher scheint zu schwinden, und die Melancholie schwillt an zu einer zersetzenden Dissonanz, bald fein und kaum hörbar, bald kreischend und unerträglich, ein eifersüchtiger Mißklang, der jede andere Stimme aufzulöschen sucht, um neben diesem schrillen Ton nur noch Schweigen zu lassen.
Die anderen Wesen fügen sich, dies ist nicht ihre Welt, sie können nicht anders, und so verlöschen ihre Stimmen, eine nach der anderen, und ihre Körper werden dünner, ihre Präsenz schwächer, bald verschwinden sie ganz, und die Ebene wirkt nun seltsam biedern und einsam.
Und so mischt sich ein Schmerz in den korrumpierten Gesang der Kreatur, ein tosender, rachsüchtiger Schmerz der Einsamkeit, die Dissonanz schwillt an zu einem Heulen, das Heulen erstickt zu einem donnerndem Grollen, dass bald die ganze Ebene erfasst und sogar den Himmel zu stürzen droht, der jetzt seltsam grau herabstiert wie ein mißgünstiger Beobachter, und schließlich scheint es der Himmel selbst zu sein, der diesen unerträglich tragischen Ton ausstößt, während die Kreatur dort unten Asche und Feuer und Staub speit, der sich über die Sonne und den Himmel legt wie ein Leichentuch, ein dichter, stickiger Nebel, der aus dem Sonnenlicht Zwielicht und aus dem Blau des Himmels ein giftiges grau-braun macht. Schwarzes Wasser dringt aus der Kreatur hervor, in großen Flüssen strömt es in die Ebene und bedeckt sie, ertränkt sie ganz und gar, und vor dem Ende schwillt der fiebrige Klang in der Luft noch einmal an, wird zu einem wilden Sturm, der jede Hoffnung aus der Welt zu peitschen sucht und erst endet, wenn auch die Kreatur in diesem schwarzen Ozean gefangen und ertränkt ist.
Eine seltsame Ruhe legt sich auf die Ebene, die düstere Ewigkeit eines leeren Feldes nach der Schlacht.
Und tief unter dem wellenlosen Schwarz des Ozeans sinkt die Kreatur in einen schweren, lang währenden Schlaf. Das Wasser trägt die Erinnerung an diese tote Ebene schnell davon, bald bleibt der Kreatur davon nur noch ein dumpfes Gefühl, und so beginnt es zu träumen, zu träumen
Von einer besseren Welt. Ein blauer Himmel, viel größer als die verschlafene Ebene unter ihm, ein riesiges schimmerndes Dach für die Erde, blauer als blau, ein Zelt von der Farbe eines lang erstrittenen Friedens, klar und nur wenig ermattet. Das rot-blond eines fortdauernden Sonnenaufgangs an jedem Horizont und in jeder Himmelsrichtung zugleich, die feinfühlige Wärme des anbrechenden Tages in sich tragend wie eine frohe Botschaft.
In der Ebene aus hohen, friedvollen Gräsern und anschmiegsamen Bäumen eine seltsame Kreatur, ein wenig melancholisch und doch freundlich im Lichte des hoffnungsfrohen Morgens, dennoch etwas entrückt und außenstehend, als wäre die Kälte der Nacht noch nicht ganz aus seinen Gliedern gewichen oder gar in ihnen beheimatet.

Die Farbe vergangener Jahre

Diesen Artikel drucken 18. April 2006

Etwas schüchtern zogen die Laternen an den Fenstern des Wagens vorbei, lautlos beleuchteten sie die Straße und die Fußwege, das fahle Licht schien ihnen, nur ihnen eigen zu sein. Sie weckten ein vertrautes Gefühl, das immer mit ihm fuhr, wenn er diesen kleinen Ort passierte, der etwas verloren an einem Hang lag, von schönen Bäumen und einigen Wiesen umgeben. Schon lange hatte er den Wald nicht mehr besucht, es schien ihm nicht mehr passend, auch wenn er sich gerne an die langen Wanderungen erinnerte, die er dort unternommen hatte, ja, er pflegte diese Erinnerungen oft, und gerne rief er sich die unzähligen Details zurück, die kleine Lampe, die den Weg vor ihm erleuchtet hatte, die Geräusche der Tiere, die sich davon zu stehlen suchten, die beiden langen Straße, die einem Fackelzug gleich vom Stadtkern in den Wald führten.
Manchmal setzte er sich in den Wagen und fuhr diese Strecke einfach nur so, um wenigstens den Laternen einen fahlen Gruß abzunehmen, ihm gefiel immer noch die Art und Weise, wie ihr Licht sich an Autos und Bordsteinen streute. Die Farbe war in einer spirituellen Lesart anders als die nächtlichen Farben anderer Orte, anderer Straßen, sie fing mehr als nur Objekte ein, warf mehr als nur blaßgraue Schatten, etwas Vertrautes klebte an ihr und blieb dort, er wusste nicht, wie lange, vielleicht für immer.
Da war ein Unterschied zwischen den Erinnerungen der Wanderungen und dem Vertrauten in diesen häßlichen Straßenlaternen, ein Unterschied wie der zwischen Teil und Ganzem. Erinnerungen blieben eindimensional wie Schatten an einer Wand, sie blieben der Widerhall einer Vergangenheit, die langsam ausblich und verging wie ein altes Foto, auch Erinnerungen waren sterblich. So kurz das Leben auch war, es blieb immer Zeit zu vergessen, so oder so ähnlich hatte es Wilde geschrieben. Doch dieses Leuchten, diese seltsame Farbe, sie war anders, eine ironische Koinzidenz ließ sie mehr sein als nur das, mehr sein als nur den ordinären oder sogar obszönen Verweis auf ein kleines Bünden Erinnerungen, sie warf nicht einfach nur Licht und Schatten, eine melancholischer Wechsel der Sichweise schien ihr inne zu wohnen, sie bot eine ganz andere Perspektive, die eines früheres Leben möglicherweise. In diesem Licht schienen die Pfade klarer und kürzer als an anderen Plätzen, die Straße schien keinem Ende zuzustreben, sondern nur in eine größere zu münden, gesäumt von eben den gleichen Laternen. Der Blick für manche Dinge wurde schärfer, bei diesem Licht, aber manches verschwamm auch ein wenig, wurde trivial, manches sogar gänzlich überflüssig, so etwa die Gedanken, die die Menschen zu dieser Zeit für gewöhnlich umtrieben. Natürlich hatten die vielen Nächte auch diesem seltsamen Spiel zugesetzt, hatten die geraden, hellen Licht- und Gedankenstränge einer etwas sachlicheren Realität angepasst, es in das kalte Weiß-Grau von Neonröhren eingefasst. Die lange Zeit war in den Maßstäben dieser Wirklichkeit nur ein Wimpernschlag gewesen, und so war er sich sicher, dass das geisterhafte Licht der Laternen immer noch jenes war, dass er früher so genossen hatte, sicher hatte man nicht einmal die Leuchtstoffe austauschen müssen. Dennoch, er sah einen Funken Müdigkeit darin, der stetig wuchs und das Licht dunkler erschienen ließ, gelblicher und etwas rissig wie alte Ölfarbe, die lange schon getrocknet war. Diese anderen Perspektive, in die er sich immer wieder gerne hineinfand, sie verlor nicht mehr den Anstrich der Nostalgie und des Gewesenen. Zweifelsohne, dieses andere Leben würde niemals vergehen, nicht, so lange diese Laternen und diese Straßen noch da waren und beharrlich daran erinnerten. Aber die Nostalgie würde sich mehr und mehr ihrer bemächtigen, ganz so, wie sich Staub und Schimmel eines alten Tagebuchs bemächtigten.
Sein Blick fand in den Spiegel, suchte die sich entfernende Lichterkette. Manche Dinge blieben auch im Rückspiegel der Zeit, manche fast eine Ewigkeit. Diese aber gewannen dafür von Tag zu Tag mehr und mehr den Beigeschmack einer gespielten Wiederholung, eines schon gesehenen Films mit dennoch fremden Schauspielern. Man konnte sich noch hineindenken in die Perspektive des Schauspiels, fand den anderen Blickwinkel wieder und blickte trotzdem in ein fremdes Leben, dass man irgendwann einmal zu leben versucht hatte. Und so war es auch mit diesem Licht, das an sie geknüpfte fremde Leben war schwer geworden von einer Patina aus Zeit und Wehmut. Die Laternen konnten nicht mehr in der selben, eigentümlichen Farbe strahlen. Die Zeit und die Nostalgie hatten das Licht müde werden lassen. Und was dann blieb, das war nur noch die Farbe vergangener Jahre.

Über das Meer

Diesen Artikel drucken 8. April 2006

[…] Das Meer war anders. Der Lauf der Welt berührte es nicht und hatte es auch nie berührt, blieb nur eine Spur im Sand, die es mit Leichtigkeit davontrug. Die ewig gleiche Kakophonie der Staaten, Kulturen und Kriege hatten es nur wenig betrübt, und selbst den Lauf der Gestirne nahm es mit dem Achselzucken der Gezeiten, es wich, ohne sich zwingen zu lassen, kehrte zurück, ohne sich aufdrängen zu müssen.
Es brach sich an dieser Küste wie an jenen, die es schon vor Urzeiten verschlungen hatte, mit demselben Kaleidoskop eines Rauschens, und selbst wenn die Wissenschaftler sagten, dass es nicht immer hier gelegen haben mochte, so schien es doch an jeder Küste schon immer gewesen zu sein.
Menschen fanden Begriffe, Ideen, führten Dialoge und Kämpfe, benutzten unendlich viele Worte, um das wenige zu benennen, das sie zu wissen glaubten.
Das war nicht die Natur des Meeres, seine Stimme kannte nicht Tausende Wörter und auch keine Lyrik, keine bücherfüllenden Geschichten, es gab keine Metaphorik oder Allegorie in seinen Tiefen, und vielleicht eilten die Gedichte der Menschen stets nur dieser Ungebrochenheit hinterher, dieser bedeutungsvollen Inhaltslosigkeit. Es musste sich nicht erklären und dennoch erklärte es die Ewigkeit. Es wusste nichts von Moral und dennoch war es nie neutral. Es kannte kaum Worte und klang dennoch immer anders. Rauh etwa, wenn der Sturm es aufpeitschte und kleine Schaumkronen durch die Nacht schlug. Mißmutig und stur an einem verregneten Herbsttag. Oder sanft und liebevoll, wenn es an einem sonnigen Tag vorsichtig einen Sandstrand abtrug, Korn für Korn. All dies kostete das Meer nicht mehr als eine Zeile, keine Bibliothek voller Partituren und Dramen. Es war nur eine einzige Zeile, auf der jede einzelne Welle tanzte. Immer wieder auf die gleiche Weise. Immer wieder anders.

„Was den Menschen am Meer fasziniert?
Du kannst mit dem Meer singen, gegen das Meer, über das Meer. Aber du kannst niemals so laut tönen wie das Meer selbst; deine Stimme bleibt die fast unhörbare Begleitung eines gigantischen Orchesters, und dein Ego muss zurücktreten und anerkennen;
Ich bin wie die Wellen, ich komme, ich gehe, und danach bleibt keine Spur von mir.“

Der Richter

Diesen Artikel drucken 28. Februar 2006

Sanftes Atmen und Arme, die in seinen lagen.
Ein kühler Mond schien durch die Fenster hinein, klein und sichelförmig, schnitt einen karg eingerichteten Raum aus der Dunkelheit, Bilder an den Wänden, unkenntlich im fahlen Dämmerlicht, Gesicht darauf, vielleicht auch andere Motive, im Dunkel versteckt.
Noch vor einigen Minuten hatte es geregnet, ein unsichtbarer Regenvorhang hatte vor den kleinen Fenstern gehangen, nur ein leises Trommeln auf dem Fenstersims, Wassertropfen, die auf das Flachdach schlugen und in kleinen Rinnsalen dem Boden entgegen flossen.
Wasser, dachte er und sah auf den Menschen in seinen Armen, Wasser, sein Geist floh einen Moment lang aus dem kleinen, kargen Raum, ließ das Mondlicht weit hinter sich und nahm nur das sanfte Atmen mit, Wasser, Badewannen, Duschvorhänge, kleine Wasserperlen, die eine Glaswand hinunter rannen, einem Versprechen gleich, der beständige Schwur eines rauschenden Wasserfalls.
Er hatte auch früher schon oft darüber nachgedacht, warum Wasser so ein machtvolles Symbol war, er dachte wieder an die unzähligen alten Kulturen, von denen er als Kind gelesen hatte, Wasser war immer wichtig für sie gewesen, überlebenswichtig, und so war es Teil ihrer Mythen und Legenden geworden, mal als Schöpfer, mal als Symbol der Fruchtbarkeit, ihre Abhängigkeit vom Wasser hatte sich tief mit ihren Träumen und Wünschen verbunden, ja, das war rational, wenn es auch sicher mehr war, was hinter diesem Symbol steckte.
Oft hatte er mit Freunden darüber gesprochen, mit anderen Richtern, mit Anwälten, doch die eigentliche Tragweite war ihm doch erst vor einiger Zeit bewusst geworden.
Er fand sich in dem engen Zimmer wieder, der Regen hatte wieder begonnen, leise zwar, aber er konnte ihn hören, wenn er sich konzentrierte, nur ein leises Flüstern über den Dächern.
Sein Blick richtete sich auf das Gesicht neben sich, versuchte trotz der Dunkelheit das Vertraute darin zu erkennen, es gelang ihm, sein Geist malte, was seine Augen nicht mehr auffinden konnten, ein friedvolles, fast lächelndes Gesicht, ruhig schlafend.
Vergebung, darum ging es hier eigentlich, immer und immer wieder, er fand es nicht mehr zynisch, dass ausgerechnet ein Richter dies erkannte, es ging immer um Vergebung, das meinten die Leute, wenn sie von der Liebe sprachen, sie meinten vor allem Vergebung, Vergebung.
Und das war es auch, was Wasser über das Rationale hinaus mächtig machte, das Versprechen der Vergebung, er dachte wieder an die Tropfen auf der Fensterscheibe, ihr schweigendes Versprechen, „alles kehrt zu seinem Ursprung zurück“, sprachen sie still auf ihrem eigenen Weg zurück zur Quelle, „egal, wer du bist, was du tust oder wie du bist, am Ende wirst du genauso rein und klar zu deiner Quelle zurückkehren wie wir zu unserer“, sagten sie jedem, der ihnen zuhörte, ganz ruhig und einfach, fast mit ihrer Stimme. Er sah wieder hinab zu dem unsichtbaren Gesicht.
Und so war es vielleicht auch kein Zufall, dass die Menschen sich immer noch in Wasser badeten und sich reinigten, auch dahinter lag dieses, eben dieses Versprechen von einer Rückkehr in die Un-Schuld, der Reinigung von Schuld und Zweifel, er dachte an diese kleinen, aber gewissen Zufälle, das Leben selbst war aus dem Wasser gekommen, der Mensch begann sein Leben im Fruchtwasser, Gemeinsamkeit alles irdischen Lebens war das Wasser.
Schon lang hätte der Mensch es zu großen Teilen ersetzen können, durch Tinkturen und Chemikalien, ätzende Flüssigkeiten und wohlriechende Mixturen, man hatte es nie auch nur ernsthaft erwogen, auch das war einer dieser Zufälle, an die er nicht glaubte. Nein, es waren keine Zufälle, für ihn steckte diese vielleicht gar universelle Erinnerung an Unschuld dahinter.
Natürlich war diese leise Erinnerung, dieses leise Versprechen, niemals mächtig genug, den Menschen zu befreien, zu schwer wog das In-die-Welt-geworfen-Sein, das auch schon die Bibel meinte, wenn sie von Erbsünde sprach.
Es war keine im eigentlichen Sinne vererbte Schuld, die sich da auf jedes noch so junge Menschlein übertrug, es war nur das Vergehen zu Sein, die Radikalität der Existenz selbst, die ihn immer schuldig schienen ließ, es war der Widerspruch zwischen seinen Ansprüchen und einer Welt, die für das Leben weder wohlgeschaffen noch ihm wohlgesonnen war. Einer Welt, die ständig von ihm forderte, mehr und mehr forderte, bis das Leben schließlich endete und sie ungerührt fort fuhr mit dem, was ihr scheinbar gerecht schien.
Das war es auch, was diese ewigen Menschheitsfragen ins Rollen brachte, vom kindlichen „Warum ist die Welt so?“ über „Warum gibt es Tod und Leid?“ und „Warum sind wir hier?“ schließlich unweigerlich bis hin zu „Was haben wir getan, in dieser Welt zu sein?“, es steckte eine simple Verkettung dahinter, eines führte zum anderen.
Er lächelte genauso unsichtbar wie das Gesicht neben ihm, es war ironisch, natürlich war es ironisch, natürlich erhoben sich diese Fragen nur aus dem Verhalten eines Wesens, das sich immer selbst als das Zentrum der Dinge begriff und dessen Egozentrik offensichtlich immer und immer wieder in die Vorstellung gipfelte, dass dieser radikale Widerstreit zwischen Welt und Subjekt eine Art Strafe sein müsse, eine Strafe für ein Vergehen, an das niemand eine klare Erinnerung besaß noch eine genauere Erklärung zu liefern wusste.
Doch trotz aller Ironie darin, die schon viele Philosophen gesehen hatten, vielleicht war es tatsächlich eine Strafe, vielleicht auch nicht, an sich war es nicht wichtig. Das Gefühl der Schuld hatte sich in jedem Fall tief eingegraben in die menschliche Seele, ein verstecktes, stets schemenhaft bleibendes Gefühl, das auf keinen so einfachen Freispruch hoffen konnte wie ein weltliches Verbrechen, man konnte auch keine Buße tun, das Leben schien Buße zu sein, der Mensch schien in sein Gefängnis hineingeboren mit einem Schrei, um es mit einem Schrei, leiser und älter, wieder zu verlassen.
Und doch gab es da dieses Versprechen und dieses vage Sich-Erinnern, dass es nicht immer so gewesen sein konnte, die gleiche, wenn auch ungleich schwächere Erinnerung wie die der kleinen Wassertropfen, die immer noch an den Fenstern hinab rannen.
Und genau dies suchte der Mensch im Anderen, die Bestärkung eben dieses Versprechens, eben dieses Aufgeben und Vergeben des eigenen Seins: Vergebung nicht für Taten, nicht für Eigenschaften, Vergebung so allgemein wie die Berge, so trivial wie die Wellen.
Es widersprach gänzlich der Welt und der ihr inhärenten Vorstellungen, es gehorchte nicht den Prinzipien ihrer Ordnung und so blieb dieses Versprechen, diese Vergebung oft von den Menschen unerkannt, denn die meisten richteten ihre Horizonte nur nach denen des Lebens aus und verteilten leere und nutzlose Worte für das, was sie nicht verstehen oder erklären konnten; Sicher war eines dieser Worte Liebe, aber Dutzende Philosophen hatten ähnliche Worthülsen geschaffen.
Nur wenige Menschen hatten vielleicht im Ganzen erkannt, wie mächtig diese Vergebung war, vielleicht gar mächtiger als der Tod selbst, er wusste es nicht. Viele religiöse Menschen schienen unter diesen wenigen gewesen zu sein, Religionsstifter vielleicht gar, aber oft schien der wahre Sinn hinter ihren Worten ungehört und ihre Erkenntnis ungeteilt, ihre Schriften wurden wieder nur zu leeren Hülsen, falschen Hoffnungen und unverstandenen Offenbarungen. Dennoch, trotz des Unverständnisses begegnete den meisten auf ihrem Weg durch die Welt dieses Versprechen, in zunächst anderer Gestalt, für die die Gesellschaft zunächst Namen und dann auch Konstrukte und Institutionen geschaffen hatte, manchmal gar bis zum Ende unerkannt, so schien es ihm zumindest.
Auch er hatte es erst vor kurzer Zeit verstanden, es war ein knapper, fast inhaltsloser Satz gewesen, der dieses Koan für ihn gelöst hatte, er erinnerte sich noch gut daran, er hatte wie auch jetzt hier gelegen und über ein Urteil nachgedacht, über ein sehr schweres Urteil und eine noch schwerere Entscheidung, die er, nur er zu treffen hatte. Lang hatte er so gelegen, nachgedacht, gegrübelt, und ein wohlbekanntes, aber diffuses Gefühl hatte sich in seine Gedanken gemischt, solch ein Gefühl, wie es den Menschen gern zu solcher Stunde ergreift, und in sein Hadern mit dem Schicksal eines fremden Mannes hatte sich das Hadern mit der eigenen Existenz gedrängt, eben diese unaufhebbare Verzweiflung um die Endlichkeit des Lebens und die scheinbare Endlosigkeit des Leidens.
Schließlich hatte es begonnen zu regnen, immer stärker, das Trommeln auf dem Dach war zu einem Stakkato geworden, viel lauter als in der heutigen Nacht.
Der Regen hatte sie sanft aus ihrem Schlaf geholt, nach dem sie schon einige Stunden ruhig atmend neben ihm gelegen hatte, er hatte bemüht still gelegen, um sie mit seinen Grübeleien nicht zu wecken, dennoch, er erinnerte sich genau. Sie hatte sich umgedreht, ihn durch die Dunkelheit angesehen, einige Sekunden lang. Dann hatte sie ihm gedeutet, ruhig zu sein, wie einem kleinen Jungen, ganz sanft, mit einer sachten Geste.
„Keine Sorge, und schlafe jetzt.“, hatte sie nur gesagt, nur das, dann war sie wieder eingeschlafen, vermutlich erinnerte sie sich nicht einmal daran. Er dagegen hörte immer noch den Klang der Stimme, er hatte ihn noch in den Ohren gehabt, als er bald darauf seine Augen geschlossen hatte in jener Nacht. Und er dachte immer noch an ihn, als er auch in dieser Nacht einschlief. Er war ein bisschen wie das fließende Versprechen der unzähligen Wassertropfen, die die Scheiben des kleinen Zimmers hinabrannen.