Schneeflocken

Diesen Artikel drucken 6. November 2008

Als ich klein war, da hat es einmal geschneit: natürlich hat es sicher viele Male geschneit, als ich noch klein war, aber dieses eine Mal ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich stand auf der Veranda und sah hinaus auf die Straße. Weiße Flocken tanzten in der Luft, und eine schwebte sacht am Dach des Hauses vorbei, wurde von einem leichten Windhauch auf die Veranda geweht und landete in meiner geöffneten Hand oder besser, meinem Handschuh. Voller Verwunderung sah ich dieses weiße, unförmige Ding an: schon damals waren meine Augen ziemlich schlecht (und natürlich hasste ich meine Brille), so dass ich nicht viel erkennen konnte: Aber ich sah, dass die Schneeflocke – meiner damaligen Sprache nach – aus sehr vielen kleinen Schneeflocken bestand, das Wort ‘Eiskristall’ kannte ich damals ja noch gar nicht, und wirklich erkennen konnte ich diese ohnehin nicht. Ich sah nur ein Glitzern und die seltsam losen, aber doch stabil verbundenen kleinen Dinge, die die größere Flocke formten. Von dieser Struktur war ich fasziniert: ich hatte so etwas nie gesehen und fragte mich, wie sie zu Stande kam. Die Flocke löste sich förmlich unter meinem Blick auf; zu der Zeit glaubte ich, dass der Schnee einfach zu Luft wurde, wenn er schmolz; das ist sogar für ein Kind eine seltsame VorstelSchneeflockenlung, aber so dachte ich es mir wohl.
Als ich bald darauf wieder hineingerufen wurde (meine Mutter war immer sehr ängstlich, was meinen Gesundheitszustand anging), fragte ich meinen Vater danach, warum die Schneeflocken nicht einzeln vom Himmel fielen, sondern in größeren Ballen: ich glaube, es dauerte eine Weile, bis er meine Frage verstand. Ich weiß nicht, ob er die richtige Antwort wusste (eigentlich hat es wohl damit zu tun, dass die Eiskristalle in einer Wolke sich ja in Bewegung befinden und sozusagen aneinander kleben bleiben – aber genau weiß ich das nicht) oder ob er sie nicht kannte: vielleicht dachte er sich, die physikalische Antwort sei zu unromantisch oder zu schwer für ein Kind. Aber er hatte ohnehin ein Faible für Geschichten aller Art, vor allem für Märchen, und es ist gut möglich, dass er mir nur deshalb diese andere Antwort gab, denn nachdem er mich kurz etwas verträumt angeschaut hatte (ich wollte immer augenblicklich eine Antwort auf meine Fragen, daher ist mir dies im Gedächtnis geblieben), erzählte er mir folgende Geschichte:
Vor langer Zeit, als die Menschen noch in Höhlen aus Stein lebten, da gab es noch keine Autos und auch kein Haus aus Stein: aber natürlich gab es schon den Schnee. Im Winter fiel er in den Tälern, wie er heute auch bei uns fällt; das ganze Jahr über fiel er in den hohen Bergen.
Doch damals war es anders mit den Flocken; sie fielen ganz allein, und so sah es eher aus wie ganz feiner Nebel, wenn die einzelnen Schneeflöckchen zu Boden schwebten, oder wie ein ganz feiner Nieselregen.
Die einzelnen Flöckchen, so erklärte er mir, sind so klein, dass der Weg zu Boden aus ihrer Sicht beinahe eine Lebensspanne dauert, so klein, dass der Abstand zwischen ihnen immer groß ist, egal wie dicht die Flöckchen auch fielen. Und so sahen sie ihre Artgenossen (dieses Wort wird er nicht verwendet haben, aber es war etwas Ähnliches) nur aus großer Entfernung, und weil sie eben so schlechte Augen hatten wie du, konnten sie auf diese Entfernung fast gar nichts von den anderen erkennen.
Einmal jedoch, da passierte das Unvermeidliche; zwei der Schneeflöckchen hatten so etwas wie einen Auffahrunfall (diesen Ausdruck hat er wirklich benutzt, glaube ich – ich kannte ihn, weil wir einmal einen Unfall mit dem Auto hatten), und obwohl die Natur es eigentlich anders eingerichtet hatte, rasten die beiden nicht etwa haarscharf aneinander vorbei, sondern prallten direkt aufeinander.
Natürlich herrschte zwischen beiden erst einmal betretenes Schweigen: So etwas war noch nie, nie passiert, und keiner wusste recht, was er tun sollte. Schließlich begann eine der beiden zu reden, und natürlich entbrannte ein Streit darüber, wer nun schuld sei an dem Unglück: doch nach einer Weile ging der Streit in eine Diskussion über, schließlich in ein normales Gespräch. Es dauerte lange, bis den Flöckchen gewahr wurde, wie lange sie schon sprachen und wie viel länger noch sie schon zusammen durch den Himmel schwebten.
Sie wussten natürlich, dass man es anders eingerichtet hatte für die Schneeflöckchen, aber ihnen war ebenso klar, dass es keinen Zufall sein konnte, dass ausgerechnet sie aufeinandergeprallt waren, obwohl das doch noch nie vorher geschehen war.
Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass ihre Aufeinandertreffen so etwas wie Schicksal sein musste: nach dem langen Gespräch hatten sie Gefallen aneinander gefunden, und auch wenn es noch Tausende von Auf- und Abs brauchen würde, bis sie sich des ganzen Ausmaßes ihrer früheren Einsamkeit bewusst werden würden, empfanden sie so etwas wie Traurigkeit, als sie den Boden nach langer Zeit näherkommen fühlten. Und sie versprachen sich, wieder zusammen zu reisen, wenn sie wieder in den Wolken ankämen.
So taten sie es auch, und das alles sprach sich bald herum in den Wolken, über den Tälern, auf den Bergspitzen. Andere folgten ihrem Beispiel; immer mehr von ihnen reisten jetzt zu zweit, manche sogar zu zehnt, schließlich reisten sie beinahe immer in großen Gruppen.
Mein Vater sagte mir noch, dass man sogar hören könne, wie sich die Flöckchen flüsternd voneinander verabschiedeten; das sei das Geräusch, das sie beim Auftreffen auf den Boden machen.
Ich hörte ihm damals gebannt zu und hielt die Vorstellung, die er in mir geweckt hatte, noch lange aufrecht, solange ich eben ein Kind war. Heute weiß ich natürlich, dass sie Unsinn ist, dass die ganze Geschichte nur ein Märchen ist. Aber trotzdem beeinflusst sie mich manchmal: Sie gefällt mir immer noch. Ich denke, es hat wohl damit zu tun, dass ich gern glauben möchte, jede gute Geschichte und überhaupt jede gute Sache in der Welt beginne mit der Entscheidung zweier Wesen, sich zusammen auf einen Weg zu machen.

Das Vlies

Diesen Artikel drucken 15. Mai 2008

Die Farben sind prächtig, die Muster von seltsam krummer, komplizierter Ästhetik. Man könnte sich darin verlieren, schlecht könnte es einem werden, wenn man zu lange den winzigen Strukturen folgt, im Sturzflug in immer winzigere Stickereien abgleitet wie in die Untiefen eines Fraktals.
Doch an diesem Stück ist nichts mathematisch; rechte Winkel sind hier unbekannt, alles windet sich, fließt sogar, wenn man die Augen halb schließt und nur vorsichtig darüber hinweg sieht. Viele Webknechte, Sticker und Schneider hat es gebraucht, um dieses Werk zu vollenden, das nie ganz fertiggestellt ist oder im Moment seiner Vollendung vergeht. Unzählige Materialien sind verwandt worden, exotische sind darunter, solche, die man nicht kaufen kann, Geduld etwa, oder Jähzorn, manchmal sogar Versprechen. Die meisten kann man nicht mehr erkennen, sind sie einmal in das Werk eingeflossen, dafür sind sie trotz der farbenfrohen Struktur nicht ausdrucksstark genug, oder genauer; sie lassen sich nicht mehr trennen, die Abstufungen zwischen ihnen verschwinden.
Und jeder der Arbeiter, so kurz er auch an dem Vlies beteiligt war, ob er nun ein Meister seines Faches war oder nur ein Laie, dem man die Nadeln kurz überlassen hat, hat seine Signatur, seine Spur im Vlies hinterlassen; nichts davon ist verloren, auch wenn vieles nicht leicht oder gar nicht mehr aufzufinden ist, wenn man nicht zufällig darüber stolpert: So tief sind die Arbeiten, gerade die kleinen, manchmal aber auch die großen Flächen, mit den anderen Teilen des Werkes verwoben. Mancher Laie ist für den winzigen Bogen eines kaum zu erkennenden Ornaments verantwortlich gewesen; mit einer Lupe erkennt man leicht seine Handschrift, hat man die Stelle erst einmal ausgemacht. Doch auch die riesigen Muster verschwinden manchmal unter den Hunderten und Tausenden von Stickereien über ihnen; man muss das Vlies schon aus großer Entfernung sehen und man muss auch wissen, was man sucht, dann kann man es erkennen, es ist verborgen wie die Muster von Nazca.
Andere Arbeiten sind leichter zu erkennen; meist sind es die, die zuerst ausgeführt wurden. Nicht, dass es dafür einen Plan gäbe. Es kann 80, 100 Jahre dauern, bis alles getan ist; manchmal geschieht jahrelang scheinbar nichts, nur mit einer Lupe kann man dann die Veränderungen erkennen, die tagtäglich eingeflochten werden. Doch zumeist sind es die ersten Künstler, die das Gesamtbild bestimmen; viel wird sich noch daran verändern, aber die ersten Jahre der Schaffenszeit legen so etwas wie das grundlegende Motiv, das Thema des Werks fest. Ist es schlampig oder hektisch eingewoben worden, so braucht es schon gute und liebevolle Sticker, um wenigstens noch etwas zu retten. Sieht man später darauf, wenn die ersten der Künstler schon lange gegangen sind, wird man das Grundmotiv leicht erkennen, und so fällt es schwer, es später zu verbergen. Natürlich kommt es auch immer wieder zu Unfällen; dann waren sich die verschiedenen Autoren uneins, wie sie ein Ornament zu führen haben, oder man hat sich einfach nicht darüber abgesprochen. Manchmal schleichen sich auch unmotivierte oder sogar schlechte gesinnte Handwerker ein und zerstören das feine Gewebe an einigen Stellen mit ihren Exzessen. So können von Zeit zu Zeit Versetzungslinien oder sogar dunkle Scharten im Gewebe entstehen; entscheidend ist dann immer die Kunstfertigkeit und Hingabe der später kommenden Akteure. Verstehen sie etwas von dem Werk, so können sie wieder kitten; eine Windung hier, eine scharfe Kurve dort, schon ist alles wieder integriert. Gerade dieses Chaos, dieses Aufeinanderfolgen von Bruch, Umbruch und Vereinigung geben jedem einzelnen Werk eine ganz eigene, seltsame Schönheit; ohne Trennungslinien, ohne Wiedergutmachungsfäden und Vergebungsflicken wäre das Vlies symmetrisch geblieben, und sein wahrer Ausdruck wäre nie zur Geltung gekommen. In der Wandlung liegt das Leben, nicht in der Strenge gerader Linien.
Und so geht es bei dieser Art von Kunst auch nicht um die Fertigstellung; die meisten Besucher kommen schon während der Schaffenszeit, sogar schon, wenn erst wenige, grobe Muster zu erkennen sind. Ihnen geht es nicht um das Sein, sondern um das Werden des Werks, viele von ihnen werden sich später selbst daran beteiligen, ihren Fingerabdruck im Gewebe hinterlassen. Andere kommen nur, um den Fortschritt zu sehen, der sich seit ihrem Fortgehen ereignet hat. Vielleicht suchen sie unter den vielfältigen Ornamenten die groben Muster, die sie einst eingeprägt haben, oder wollen sich nur vergewissern, dass ihre alten Fehler von anderen korrigiert oder besser: integriert wurden. Alles ist wiederzufinden; es mag schwer zu erkennen sein, aber kein Quentchen Leben, dass im Vlies gewirkt hat, ist verloren. Der Stoff erinnert sich selbst an das Kleinste, auf eine geheime, kunstvolle Art: Alles ist da, verborgen in den Details.