Erwachen/Systeme (1)

Diesen Artikel drucken 19. Mai 2005

Von hier oben konnte er auf sie herabschauen, er gewann einen Überblick über das System unter ihm, und in gewisser Weise spiegelte der erhabene Standort dieser Brücke sein inneres Verhältnis zu dem unter ihm wider, und so schien sie ihm ‚angemessen‘, seiner Person angemessen, seinem Zustand, seiner Position angemessen.
Aus diesem Grunde – und, wie ihm bewusst war, aus einigen anderen, praktischen, fast pragmatischen Gründen – stand er oft hier und blickte auf den Platz herab, den die Brücke bedrohlich hoch überspannte, fühlte die fragile Mischung aus Ekel und Bewunderung und einigen anderen Emotionen, vielleicht die Mixtur, die ein Jäger vor dem Tigergehege fühlte, in einem Zoo.
Ja, vielleicht war der Ausdruck Zoo ‚angemessen‘ für diesen Platz.
Seine gepflegt und jung wirkenden Hände vollzogen einige schnelle, präzise Bewegungen, zogen eine Schachtel und ein Feuerzeug aus seiner Manteltasche, entzündeten eine der Mentholzigaretten. Er ließ die Asche achtlos über die Brüstung rieseln.
Und wieder blickt er nach unten.
Die Menschen verloren sich dort unten auf ihren endlosen Pfaden, auf ihren kleinen, kurvigen Wegen über den Platz, und von der Brücke aus wurden sie zu einer undefinierbaren, fraktalen Masse, in der das Individuum als singuläre Erscheinung verschwand, zu einem statistischen sample von Systemzwängen und Marketingstrategien wurde. Sanft zog er noch einmal an der Zigaretten.
Der Platz war eingerahmt, er korrigierte sich, er entstand erst durch die umliegenden Bürogebäude, die in einem zynischen Zug den Platz sowohl schuffen als auch permanent zu bedrohen schienen, und so wirkte der Platz auf den Betrachter kleiner, als er tatsächlich war. Vielleicht war das Absicht gewesen, dachte er amüsiert, vielleicht hatten die Architekten dieser Konstruktion diesen seltsamen Widerspruch absichtlich realisiert, damit die Menschen ein wenig schneller über den Platz liefen, wenn sie zu arbeiten hatten. Er musste an ein Buch denken, das zwischen vielen anderen ähnlichen Büchern in seinen Regalen standen, geschrieben von einem wirren, zerstreuten Geist, und doch von einer merklichen Wahrheit hinter seinen Worten beflügelt.
Das Logo, dass in immer blankpolierten, spiegelnden Farben über jedem Eingang der Gebäude prangte, war überall gleich, was ihn zu der Vermutung geführt hatte, dass jedes dem gleichen Unternehmen gehörte, er wusste nicht, wie es hieß, aber letztlich war das auch irrelevant, irrelevant für ihn und vermutlich sogar für die Menschen unter ihm, denn die Arbeiten, die sie verrichteten, folgten keinem offenen Plan mehr, keiner Richtung, sie waren nunmehr Rädchen in einem System von größeren und kleineren Rädchen, und wie jedes gute Zahnrad gaben auch sie sich der Indifferenz preis.
Früher hatte er sich manchmal sogar gewünscht, auch nur ein Rädchen zu sein. Heute war das anders.
Er ließ den Zigarettenstummel fallen.
Vor langer Zeit war er wie sie gewesen. Je häufiger er hier stand, desto stärker war ihm das bewusst gewesen, und er nahm davon zunächst beunruhigt Kenntnis, bis er darin seine eigene Überlegenheit erkannte.
Sein altes Ich erkannte er oft wieder hier, vor allem in all den Fluchtwegen, die ein Zahnrad zu nehmen versuchte, wenn es kein Zahnrad mehr sein wollte. Und so sah er manchmal einen oder zwei Menschen dort unten, die anders waren; sie trugen eine Krawatte von anderer Farbe, manchmal auch ein im Genick verstecktes Tatoo, genau auf Höhe des Kragens, aber immer noch zu entdecken, vielleicht ein kleines Gerät, dass die anderen nicht besaßen, manchmal etwas Ausgefalleneres, und für einen Moment waren diese Menschen anders, sie blickten sich um, während sie über den Platz liefen, in ihre Augen kehrte der Glanz des Individuellen zurück, ein bisschen so, als ob Leben in einen toten Körper zurückkehrte. Er kannte den Zahnrädchencode, wie er es nannte, den Code of Conduct des Unternehmens nicht, aber manche dieser Trends verschwanden wieder, viele schon nach Stunden, oder aber die Menschen verschwanden, die sie auslebten. Andere schienen den Code of Conduct auf so subtile Weise zu unterminieren, dass sie blieben, sich verbreiteten, sich in einer Form von viraler Kontamination reproduzierten, bis schließlich jedes Wesen dort unten davon infiziert war – und die Individualität wieder erlosch. Genauso war auch er einmal gewesen, hatte das Stück Individualität gesucht, dass ihn seiner selbst versichern konnte, zuerst in den Medien, auf Musiksendern, später in Büchern, dann in Drogen, doch überall war die Form viraler Kontamination vorhanden, die er auch hier fühlte, und deshalb war er gescheitert, immer wieder gescheitert, aber das war in einem anderen Leben gewesen. Er konzentrierte sich auf die Pfade, mit denen die Menschen ganz im Sinne des Systems den Boden überzogen, abstrakte Muster, die eine zielgerichtete Geschäftigkeit symbolisieren sollten, die im Realen keine Entsprechung fand, denn kaum einer der Menschen dort unten wusste, warum er eigentlich das tat, was er tat, sie alle waren winzige Teile eines winzigen Prozesses in einer verschachtelten Welt von Prozessen.
Oft hatte er darüber nachgedacht, das Problem wieder und wieder überdacht, und er war zu der Überzeugung gelangt, dass diese Form zeitlich begrenzter Individualität die Strategie eines Meta-Rädchencodes, des Systems selbst war, eine weitere Art von Kontrolle darstellte.
Er erfühlte die Präsenz eines anderen hinter ihm und drehte sich mit der Beiläufigkeit eines Unbeteiligten um, blickte in die hungernden Augen eines Menschen im schwarzen Anzug.
Wie dieser Mann hatte auch er sich nicht mit einfachen Trends, einfachen Variationen des Gegebenen zufriedengegeben, nein, er hatte weitergesucht, nach Erfahrungen, die die Grenzen des Normalen – seiner damaligen Sichtweise nach – sprengen mussten, und er hatte viel zu viel genommen.
Diesen Mann kannte er, er gab ihm nur noch einige Wochen, bis er aus dem System fallen würde, gab ihm deshalb nicht die übliche Menge, sondern eine gestreckte Dosis. Vollzog den Austausch in einer ruhigen, bedachten, aber nicht übermässig angespannten Geste und konzentrierte sich dann wieder auf den Platz. Eigentlich musste er nicht mehr selber diesen Job machen, er tat es dennoch, er wusste nicht warum, und es war tatsächlich nicht relevant für ihn. Vielleicht war es eine perverse Freude an dem, was seinen Kunden geschah, vielleicht auch nur Langeweile, vielleicht auch ein bisschen die Arroganz der Überlegenheit, die er für sich selbst zu Schau stellen konnte, er konnte es nicht entscheiden und es war für seine Tätigkeit auch nicht wichtig.
Noch einmal blickte er Mann in dem schwarzen Anzug nach, er konnte nie wissen, wie jemand in seinem Zustand reagierte. Er grinste. In gewisser Weise garantierte der Tod seiner Kunden oder ihr Abdriften ins Bewusst-Lose seine eigene Sicherheit; verraten konnten sie ihn sicher nicht, und das beruhigte ihn.
Oft dachte er, die Regeln des Spiels seien sehr einfach; jeder in diesem System dort unten konnte wählen, konnte die Anpassung wählen, die den Konformismus, die Selbstaufgabe und schließlich den Tod den Geistes oder, in einer absurden Beibehaltung des Sinnes, den Geist des Todes implizierte.
Oder er konnte die Rebellion wählen, die Auflehnung, das Aufbegehren, vielleicht, weil diesem System gewisse abstrakte Konzepte fehlten, die manche als ‚menschlich‘ bezeichneten, er bewunderte die Naivität dieser Forderungen, doch diese Menschen landeten schließlich auf Kanälen, die das System unsichtbar bereithielt, bei ihm, und das würde den Tod ihres Körpers implizieren, und nichts war gewonnen. Ein geringfügiger Teil seiner Persönlichkeit fühlte sich mehr zur Rebellion hingezogen, aber das war verständlich, so dass er es geschehen ließ, und er dachte an das Mädchen, dass ihn oft besuchte, eine Kundin, eigentlich, aber auch Ausdruck dieser geringfügigen Rest-Sympathie, denn er ließ sie selten zahlen, zumindest nicht mit Geld, wie er lakonisch feststellte. Sie ähnelte den anderen Rebellen sehr, sie schien die Epoche der Bedeutungslosigkeit durch Deutungslosigkeit auflösen zu wollen, diesen Satz hatte er einmal gelesen und fand ihn passend.
Und es gab den dritten Weg, den Weg, den er gegangen war, allein, als einziger, und schon das machte seine Überlegenheit aus, fand er. Er stand immer außerhalb, gehorchte nur seinen Regeln, und das war es, was ihn so von den Menschen dort unten unterschied, ihm diktierte kein System von ethischen, sozialen und medialen Systemen seinen Weg, sie konnte ihm nichts mehr anhaben, er hatte den Durst nach Individualität irgendwann aufgegeben und war so zum Individuum geworden, er war das corrupted file geworden, der unverdaubare Datensatz für die globalen Algorithmen dieser Zeit.
Manchmal kam es ihm fast so vor, als wäre es nicht die Brücke, die den Platz überspannte, sondern er selbst, mit je einem Fuß auf den sich gegenüberliegenden Konzerndächern. Der Gedanke gefiel ihm, und er verweilte noch ein wenig bei ihm, als er sich auf den Weg zurück machte, weg von der Brücke, weg von den Konzerngebäuden.

„Die höchste Erkenntnis tut ab die Erkenntnis, höchste Liebe vergisst die Liebe. Höchste Tugend ist nicht Tugend.“ – Lü Bu We