Das Fraktale/Gewalt
Es scheint mir an dieser Stelle interessant, doch noch einmal über Gewalt zu sprechen. Letztlich scheinen es wir es ja bei dem Übergriff von Die Logik des Wolfes mit einem klassischen Typus zu tun zu haben (wir werden später sehen, ob dem so ist); Gewalt geht von einem Subjekt aus, wirkt auf ein anderes; Täter und Opfer sind analog zu Ursache und Wirkung verknüpft.
In einer gewiss ironischen Lesart sind diese Umstände, diese kausal eindeutigen Relationen äußerst günstig, denn ethische und juristische Systeme stützen sich darauf. Das erscheint einleuchtend; es hat etwas stattgefunden, ein Ereignis, dass gegen gewisse Konventionen verstösst. Aufgabe von juristischen oder ethischen Systemen ist es nun unter anderem, die Schuld zu verteilen. Und wie sollte man Schuld verteilen, wenn nicht über eben diese eindeutigen kausalen Zusammenhänge?
Wie gesagt, dies gilt für den klassischen Begriff der individuellen, klar festgelegten Gewalt.
Nun, dieser setzt die unbedingte Freiheit des Individuums voraus, denn der ein solches System betrachtet den Täter quasi als „letzten Grund“, als letzten Auslöser, eben als (alleinigen!) Täter, der an nichts gebunden ist außer an seine freie Entscheidung, die Gewalt auszuüben, die er im Begriff ist auszuüben. An diese Freiheit kann ein primitives System von Konventionen vielleicht noch gebunden sein, betrachten wir aber aufgeklärt eben die kausalen Zusammenhänge, von denen ich eingangs sprach, so müssen wir einsehen, dass gewisse Zwänge, seien es Kindheit, Armut oder Krankheit, die individuelle Freiheit, also auch die Schuldfähigkeit, die Fähigkeit, Täter zu sein, beschränken.
Der klassische Ansatz mag noch funktionieren, wo es tatsächlich um individuelle Entscheidungen geht (innerhalb des Ermessensspielraums, den gegebene Zwänge noch lassen), denn dort lassen sich Ketten von Tätern/Opfern konstruieren; der „letzte Grund“ wird nur um ein paar Ordnungen in die Vergangenheit geschoben, vielleicht ist nicht mehr der Täter allein schuld, nein, auch seine Eltern erhalten ihren Teil der Schuld, usw.
In dieser Art und Weise handelt unser aktuelles Rechtssystem; es versucht, mehr oder minder ausgeprägt lange oder kurze kausale Pfeile zu konstruieren, die von der Vergangenheit bis direkt auf den Vorfall zeigen.
Ich denke, dies funktioniert in einer (bewusst) globalisiert-fraktalen Welt nicht mehr. Wir haben es heute nicht mehr mit eindeutigen Kausalketten zu tun; es gibt keine Ordnungen vom Typ Eltern-Kinder, Lehrer-Schüler, Arbeitgeber-Arbeitnehmer mehr, die uns sonst so hilfreich waren beim Verteilen von Schuld, all die schönen Dualismen lösen sich auf, denn hier wirkt alles auf alles und jeder auf jeden, in einer verwobenen, rückgekoppelten Weise. Jede Suche nach einer eindeutigen Beziehung zwischen einer Tat und ihren Ursachen führt ins Chaos, da jeder Punkt mit jedem anderen Punkt verstrickt ist, obwohl jeder Punkt dennoch singulär bleibt. Und selbst der Systemcode, von dem der Protagonist in Rotation III spricht, steht nicht darüber, im Gegenteil. Es ist wahr; kontrolliert durch die globalen Algorithmen des Sozialen und des Ökonomischen wird jedes Individuum zum Geschoss, aber die Umkehrung gilt genauso; der Rädchencode wird erst aus der Dynamik der Individuuen geboren. Auch hier ist jeder Opfer und Komplize, jeder Rädchen und Motor des globalen Systems, das sich da aufspannt.
Viele sagen, die totale Marktwirtschaft sei unbedingt abzuschaffen, da sie die Menschen zerstöre. Ich sage; das Kapital ist genau wie der Markt nicht von Gott gegeben, und wir sind schon lange über jede vorgeschobenen globalen Verschwörung hinaus, in der irgendein böser Feind das Kapital angeblich gegen uns richtet. Nein, wir sind es selber, die das heraufbeschworen haben und stetig weiter heraufbeschwören, was der Protagonist da als „den Geist des Todes“ bezeichnet.
Die Gewalt innerhalb eines solchen dynamischen Systems von sich um einander drehenden Subjekten ist nicht mehr frei oder intentionell, sie folgt nicht mehr den steten Pfaden von Wille oder Grund. Es gibt keine Opfer mehr, keine Täter, alles ist dynamisch geworden, die Gewalt, die sich da global gegen uns richtet, geht von uns selbst aus.
Die Gewalt ist im Kern strukturell, sie geht vom System selbst, von jedem Teil des Systems gleichermaßen aus und verschwindet so vollständig.
Wer ist verantwortlich für die Kriege in der Dritten Welt?
Wer ist verantwortlich für die Umweltverschmutzung, für Erfurt, für Atomkraftwerke, für Bomben, für Arbeitslosigkeit, für Verwahrlosung, für Hartz 4?
Sind es Unternehmen, Politiker, Staaten, Konsumenten?
Es sind alle gemeinsam und jeder für sich allein, und diese kausale Streuung von Gewalt macht eine individuelle Schuld unmöglich.
Anmerkung: Ein gutes Beispiel, wenn auch in kleinerem Rahmen, hat der geneigte Leser bereits direkt vor sich. Wie von allen Medien kann natürlich auch von Blogs Gewalt ausgehen; die Blogosphäre ist offensichtlich ein fraktales System, das u.a. Informationen filtert. Filtern impliziert auch immer Herausfiltern, und das impliziert Gewalt (an Information). Es ist aber unmöglich zu klären, von wem diese Gewalt ausgeht, eben weil es sich um ein fraktales System handelt.
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