Mastermind (3) Diesen Artikel drucken

Sein Blick war klar. Sein Atem, sein Puls war ruhig. Er spürte es, fühlte, konnte es durch die Dunkelheit vor seinen geöffneten Augen wahrnehmen, ein Stück der Ewigkeit – oder etwas, das er dafür hielt, fügte er hinzu – schloß sich um ihn.
Ein Zentrum, ein statischer Kern in einem unermeßlichen Meer aus rotierenden, kollidierenden, kalkulierenden Splittern einer zerfasernden Welt.
Und er spürte auch, wie er sich dem Ziel näherte, die Ruhe im Inneren wurde ein Teil von ihm oder er wurde ein Teil dieser Ruhe, die beiden Sichtweisen waren letztlich äquivalent, hatte er einmal konstatiert, dennoch bevorzugte er die erstere Lesart, vielleicht aus Eitelkeit, er wusste es nicht.
Es hatte ihm zunächst Angst gemacht, unglaubliche Angst sogar, auch wenn er sich das erst viel später eingestanden hatte, und doch war er beim ersten Mal verschreckt gewesen, fast panisch, und war aufgesprungen von dem Sessel, in dem er jetzt wieder locker ruhte, und er für einen winzigen Moment konnte er die Angst von damals fast wieder spüren, fast schmecken, und er musste sich zur Ordnung rufen.
Jetzt jedoch blickte er kalt und leer auf diesen Sturm, diesen Variablensturm, wie er es genannt hatte, in Anlehnung an den Beruf, den er vor langer Zeit ausgeübt hatte. Und für eine Weile, die immer wie ein ganzes Jahr schien, blickte das Chaos zurück, aus hunderttausend gebrochenen Augen, mit eben demselben, unpersönlichen, fernen Blick, ein hunderttausendfach vergrößernder Spiegel, steril und kalt und leer wie er selbst.
Und er fühlte, wie eine weitere Ewigkeit verstrich, während er den Blick starr festhielt, nicht mehr losließ, nicht mehr loslassen konnte.
Er wusste es ganz genau, er wusste ganz genau, was geschehen würde, vielleicht konnte er es nicht besitzen – leider nicht – aber er konnte es beherrschen, eine gewisse Kontrolle ausüben, es für einen Moment niederzwingen, und deshalb war er vollkommen leer und fokussiert.
Und wartete.
Und irgendwann begann das Chaos, zu weichen, es löste sich langsam und ließ leise fluchend den Blick auf die tieferliegenden Strukturen zu, die Splitter schienen langsamer um ihn zu rotieren, aber die Veränderung fand so langsam, so fließend statt, dass er den Blick kurz hätte abwenden müssen, um es zu sehen. Das weiße Rauschen der Farben und Licher nahm ab, zuerst an den Rändern, dort, wo die Ruhe endete, Abgrenzungen wurden klarer, der Kontrast baute sich langsam auf, so, als wäre es eine gestörtes – oder verstörtes – Funksignal, dass dort langsam an Kontur gewann, durch unzählige Filteralgorithmen gejagt und restauriert, rekonstruiert wurde, und in gewisser Weise hielt er diesen Vergleich für angebracht, auch wenn er sich den Gedanken sofort verbat. Die wirbelnden Massen schienen widerstrebend Regeln und Relationen zu gehorchen, sich ihrem ruhigen Kern langsam zu beugen, wie ein Gebäude, dessen Mauern sich langsam der Schwerkraft beugten, ächzend, flehend, mit der leisen Ankündigung, wiederzukehren.
Und von einem Moment zum anderen hatte er sein Ziel erreicht und gestattete sich, wieder auszuatmen, während er sich umblickte, langsam und vorsichtig noch.
Der Sturm hatte sich gelegt, und er blickte auf die ruhige See vor sich. Feinste Drähte aus Licht lagen da vor ihm, verbanden große und kleine Lichter miteinander, die sich in einer unendlich weiten Ebene vor ihm ausbreiteten.
Er würde sie am ehesten als Zahlen beschreiben, obwohl sie das nicht waren. Aber er würde es auch nie jemandem erklären, dachte er. Es waren keine Zahlen, wohl aber vielleicht.. Werte. Personen, Institutionen, Relationen. Alles fand er hier wieder, geordnet, verständlich, wenn er sich nur darauf konzentrierte, nicht mathematisch oder rational angeordnet, keine präzise Kalkulation, nein, vielleicht eher so etwas wie die Konkretisierung oder systematische Darstellung von Intuition. Seine abstrakt gewordenen Augen schweiften über die gigantische Ebene und blieben eine kurze Zeit bei dem Moment, den er vorgestern wahrgenommen hatte, als er an der Brücke stand und – wie immer – auf das Chaos unter ihm blickte.
Und er konnte jedes anonyme Gesicht wiederfinden, konnte die Abhängigkeiten erkennen, die kleinen dünnen Fäden, die von jedem dort unten zu jedem anderen verliefen, manche waren etwas dicker, er erkannte Zuneigung oder Hass darin, je nachdem, er konnte nicht erklären wie, aber es war ihm klar, wenn er sich dieses Bild ansah, diese Modell, diese Metastruktur. Selbst die Gebäude hatten ihren Platz wiedergefunden hier, sie strahlten in einem hellen Funkeln, repräsentierten gewisse Interessen, gewisse Konventionen, den Code of Conduct beispielsweise, auch natürlich das unbedingte Prinzip, dass diesem wie vielem der anderen großen Licher innewohnte.
Dies war keine Zauberei, er hatte das nie geglaubt, es hatte auch nichts mit Religion zu tun, nein, es war nur eine sehr… spezielle Ansicht der Welt, die sich ohnehin in seinem Kopf befand, er wusste es, es gab Ränder seiner Wahrnehmung, auch hier, er konnte selbstverständlich nicht in die Zukunft blicken oder durch die Wände eines Hauses, dass er nie betreten hatte, nein, das war unmöglich, auch die Welt gehorchte den Gesetzen der Physik, sie war nur eine komprimierte, eine gefilterte, durch Konzentration temporär geordnete Ansicht seiner Wahrnehmungen, jeder kleinsten. Es waren die ganz winzigen und die titanengroßen Dinge, die der ruhige Kern, der er war, hier verarbeitete, interpolierte, zu einem kohärenten Bild des Systems zusammensetzte, dachte er wieder und wieder und schwebte über die Ebene.
Hierher kam er oft, machmal, um nur etwas zu überdenken, wie ein Schachspieler, der eine Partie noch einmal spielte, um Fehler zu analysieren, und so schob er dann mit seinen geistigen Armen einige Pfäden zur Seite, sah, was geschah, welche Veränderungen sein Unterbewusstsein entdeckte konnte, antizipieren konnte. Die Rolle eines Schachspielers gefiel ihm, er gestattete sich diese Arroganz, er war unberührt, er verschob nur Menschen, kleine Winkelzüge, kleine Anstöße, das System und seine Regeln erledigten den Rest, es waren Marionetten, nichts als leere Figuren, die er auf diesem gigantischen Brett wie auch in der realen Welt verschieben konnte, wie er wollte.
Hier hatte er auch geplant, wie sie zur Seite zu schaffen war, kam ihm in den Sinn, er wusste nicht, warum. Es war ganz einfach gewesen, wie erwartet, er hatte nur einige ganz geringe Eingriffe machen müssen, und es hatte funktionieren, und jemand anders würde für ihren Tod büßen müssen, ein Geschäftspartner, ein Feind, jemand, den er ohnehin aus dem Weg räumen musste.
Dieses Mal war etwas anders, er fühlte es jetzt ganz deutlich, hatte es die ganze Zeit gespürt, aber nicht gewagt, es zu denken. Er witterte es, konnte es aber nicht sehen, eine Gefahr vielleicht. Bemüht blieb er ruhig, versuchte noch mehr Ordnung herzustellen, den Fehler zu finden, drehte sich weg von den dünnen Knoten unter der Brücke, hin zu dem Moment, der ihn offensichtlich, wie er verärgert eingestand, immer noch beschäftige.
Und plötzlich stand sie vor ihm, doch es war nicht das Bild, dass er erwartet hatte, es schien selbstständig, selbsttätig. Die rote Träne schien über ihren Lippen gefroren zu sein, doch ihre Augen waren offen und klar, und sie blickten ihn aus unendlichen Höhen an, fixierten ihn, er spürte, wie die Angst in ihm wuchs, wie das die geronnene Ordnung zu zerfließen begann, langsam, wie ein Dieb, der sich hinter seinem Rücken davonschleichen wollte, er musste sich konzentrieren, rief er sich zu, konzentrieren auf dieses Täuschbild, und er suchte einen Schwachpunkt, einen Fixpunkt, und fand ihre Augen.
Und erschrak.
Diese Augen waren nicht leer, sie waren lebendig, sie zeigten ihr Wesen, ihre Wut, ihre Trauer, und doch waren sie wie Spiegel, klarer und stärker, als er es für möglich hielt, und sie nahmen ihn gefangen, er wich zurück, sie folgten, er wand sich ab, sie drehten sich um ihn.
Und er sah sein eigenes Spiegelbild in ihren abstrakten Pupillen und erkannte sich selbst als kleines Licht, von dem dünne Fäden aus Licht zu anderen Lichtern führten, Teil des Systems, wie er lakonisch feststellte, und er sah nun durch ihre Augen, und wie in Trance folgte er seiner eigenen Repräsentation in die Vergangenheit, sah die Abhängigkeiten, die sich plötzlich aufbauten, die dünnen Fäden, die ihn wie eine Marionette von einem Moment zum anderen hatten taumeln lassen, immer nur taumeln lassen, so wie jede andere Marionette auch, und ihre Augen blieben das letzte, was er sah, bevor die Ordung um ihn herum endgültig zerbrach und das Chaos über ihm zusammenschlug wie ein rachsüchtiger Wolkenbruch, graue Pupillen, in denen sich seine eigene Bitterkeit und die ihre widerspiegelte.

„Keep me away from the wisdom which does not cry, the philosophy which does not laugh and the greatness which does not bow before children.“ – Khalil Gibran

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