Schrei im Glas
Die Räder des Zuges ratterten über die Gleise, bedächtig und ziellos, ächzend unter der Gewissheit, niemals ruhen zu dürfen, niemals eine Heimat zu erreichen.
Er sah sich um, blickte in fremde, ferne Gesichter und wusste, dass keiner von ihnen so empfand, spüren konnte, was er spürte.
Sein Kopf glitt zurück zu seinem Spiegelbild im Fenster, ein Schrei, zu Glas geworden, erstarrt.
Die anderen Fahrgäste, so hatte er bemerkt, hielten fast schon respekt-, nein, angstvollen Abstand zu ihm, er wusste, warum, konnte es verstehen, nein, hätte es verstehen können, verstand es nicht.
Er blickte hinunter auf sich selbst, auf das Schizophren-Gestückelte, das noch war, und ein anderer Teil von ihm blickte hinab auf seine Hände, blutverkrustet, getrocknetes, totes Blut, das in Poren und Hautfalten geronnen war und ihn an ein Gebirge erinnerte, uralt, voller Geschichten, so alt, dass sie niemand mehr erzählen konnte.
Es war rechtzeitig gewesen, dachte er, ein Funken Selbstzufriedenheit spülte in ihm hoch, mischte sich mit dem Schrei im Glas und zerfloß zu dem Geschmack bitter-süß-sauer Retrospektive.
Schweigend wog er die Tabletten in den Händen, versuchte sich an die genauen Bezeichnungen zu erinnern, verwarf es wieder, es war irrelevant, er würde sie nicht nehmen, und er dachte an die vielen Tablettenschachteln, die er gesehen hatte, ein verschwommenes, kaltes Bild des Zimmers, nein, er würde sie nicht nehmen, nie wieder würde er solche Tabletten nehmen, niemals wieder.
Er fand den Behälter, ließ die Tabletten hineinfallen und erinnerte sich an das schale Lächeln der Krankenschwester, die sie ihm gegeben hatte, ein Lächeln, hinter dem sich Ekel und Bewunderung versteckten, zu gleichen Teilen, nein, gemeinsam, in einer inneren Absprache zu einer Emotion verschmolzen. Er hatte sich geweigert, seine Hände zu reinigen, das Blut zu entfernen, er wusste nicht, warum, und wusste es doch.
Sie hatte ganz sicher gehen wollen, dachte er und lächelte fast, wie ein Betrunkener, ganz und gar ohne Grund oder Sinn, und sein Lächeln gefror. Sein Blick fand wieder den Schrei im Spiegel, fand das Gesicht eines Lebenden, emotionslos, wenn auch düster, und er suchte nach dem Schrei darin, fand ihn nicht, nur ein anonymes, nominelles Gesicht, jamais vu, er hatte von dem Phänomen gelesen, er klammerte sich an die Folgerichtigkeit seines Geistes, presste sich eng an die kühlen Wände des Schocks.
Ein Schaffner schritt durch den Waggon, er hatte keine Fahrkarte gekauft, zum ersten Mal in seinem Leben, es war irrelevant, der Mann betrachtete ihn unsicher, betrachtete seine Hände, die rotgefärbten Ärmel, die Hose. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, sich erklären, doch er schloß ihn wieder, denn der Mann schritt entschlossen und schnell an ihm vorbei, ließ den Blick dabei immer noch vorsichtig auf ihm ruhen.
Seine Handgelenke spürten noch das Pochen, das leise Pochen in den zerschnittenen Unterarmen, ein schwächer werdendes Klopfen, eine Million Tropfen Blut, die wütend den Tod herbeischrieen, ihn im düsteren Takt des Herzens herbeitrommelten.
Es wurde dunkel, ein Tunnel, und er stöhnte leise unter dem Gewicht der Bilder, die sich in der Dunkelheit manifestierten, ihn zu umschließen suchten, atmete erst wieder, als der Tunnel hinter ihnen lag, und einige Sekunden lang musste er sich versichern, dass der Zug noch existent war, sich nicht verloren hatte in den Bildern.
Wut kochte in ihm hoch, er wusste nicht, wohin damit, wohin mit der Emotion, und so blickte er weiter still auf seine Hände, folgte den Kratern und Falten, die das Blut geschaffen hatte.
Sie werde es schaffen, es schaffen, durchkommen, der Satz klang immer noch in seinen Ohren, und er stellte sich das Gesicht des Arztes vor, von dem er stammte.
Es hatte ihn nicht beruhigt. Es war ein junger Mann gewesen, dennoch tiefe Furchen auf seiner Stirn, die viel erzählten.
Lang hatte der Mann gesprochen, nur halb hatte er zugehört, und am Ende hatte er eine Hand auf seine Schulter gelegt und ihm gedankt, gedankt für seine Hilfe, seine entschlossenes Handeln. Es hatte ihn nicht interessiert.
Jemand ging durch den Waggon, eine junge Frau, ein Kind auf dem Arm, sein Blick nahm den des Kindes auf und erkannte in seinem Lächeln das Mädchen, das Mädchen, dass er an der Notaufnahme hatte abgeben müssen wie ein Auto in einer Werkstatt. Er könne jetzt nichts mehr tun, hatten sie gesagt, und ihn herausgeworfen. Das letzte Bild von ihr, sie in einem Bett, sehr klein, an Kabel und Maschinen angeschlossen.
Wieder blickte er in das Fensterglas, sein Widerstand zerbrach. Das Bild kehrte wieder, er wurde es nicht los, musste die Schritte durch das Haus, in ihr Zimmer, ihr Zimmer, immer wieder sehen, immer und immer wieder, und er hörte wieder die laute Musik, sah wieder die Tablettenschachteln und das Blut, das viele Blut, sie in der Mitte des Raumes, kalt und ohne Bewusstsein. Und wieder und wieder sah er sich selbst, wie er laut schrie, ihre Unterarme mit den Händen abzudrückten suchte, aus denen immer noch mehr und mehr Blut strömte.
Er blickte starr aus dem Fenster, oder in das Fenster, oder in sich selbst hinein, stundenlang.
Eine Hand berührte ihn am der Schulter, tastend und unsicher.
„Endstation.“, sagte der Schaffner leise, aber bestimmt.
Seine Schultern sackten unter der Berührung zusammen wie Gerüste, die lange ein großes Gewicht getragen hatten. Einige Tränen rannen über sein Gesicht, fielen auf seine Hände, lösten etwas Blut.
„Ja, Endstation.“, antwortete er flüsternd, hob die Hände vors Gesicht.
Und der Schrei löste sich laut hallend aus dem Glas, als wäre er nie dort gewesen, floh durch die Luft des Zuges, hinaus in die Nacht.
„Fall – I will follow.“ – Titel eines Musikalbums der Gruppe Lacrimas Profundere.
Nachtrag:
„Warum ich kein Wort mehr spreche, warum ich nicht schreie, tobe, rase, fragst du?
Weil kein Schrei laut genug wäre, selbst wenn die ganze Welt schreien würde.“ – bad_indicator.
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